Drittes Kapitel
[290] Atomoi archai und atoma stoicheia

Schaubach behauptet in seiner schon oben angeführten Abhandlung über die astronomischen Begriffe des Epikur:

»Epikur hat mit Aristoteles einen Unterschied gemacht zwischen Anfängen (atomoi archai, Diogen. Laert. X, 41) und Elementen (atoma stoicheia, Diogen. Laert. X, 86). Jene sind die durch den Verstand erkennbaren Atome, erfüllen keinen Raum. Dieselben heißen AtomeA39, nicht als die kleinsten Körper, sondern weil sie im Raum nicht geteilt werden können. Nach diesen Vorstellungen sollte man meinen, daß Epikur den Atomen keine Eigenschaften, welche sich auf den Raum beziehen, beigelegt habe. In dem Brief an den Herodot aber (Diogen. Laert. X, 44. 54A40) gibt er den Atomen nicht nur Schwere, sondern auch Größe und Gestalt..... Ich rechne daher diese Atome zu der zweiten Gattung, die aus Jenen entstanden sind, aber doch wieder als Elementarteilchen der Körper angesehen werden.«

Betrachten wir uns die Stelle, die Schaubach aus dem Diogenes Laertius [X, 86] zitiert, genauer. Sie heißt: Oion, hoti to pan, sôma kai anaphês physis estin; ê hoti atoma stoicheia, kai panta ta toiauta [...]. Epikur belehrt hier den Pythokles, an den er schreibt, die Lehre von den Meteoren unterscheide sich von allen übrigen physischen Doktrinen, z.B., daß alles Körper und Leeres sei, daß es unteilbare Grundstoffe gebe. Man sieht, es ist hier durchaus kein Grund vorhanden, anzunehmen, es sei von einer sekundären Gattung Atome die Rede.A41 Vielleicht scheint es, daß die Disjunktion zwischen to pan, sôma kai anaphês physis und hoti ta atoma stoicheia einen Unterschied[290] zwischen sôma und atoma stoicheia poniere, wo denn etwa sôma die Atome der ersten Art im Gegensatz zu den atoma stoicheia bedeute. Allein daran ist gar nicht zu denken. Sôma bedeutet das Körperliche im Gegensatz zum Leeren, das daher auch asômaton heißt. In sôma sind daher ebensowohl die Atome als die zusammengesetzten Körper einbegriffen. So wird z.B. in dem Brief an den Herodot gesagt: To pan esti to sôma ... ei mê ên, ho kenon kai chôran kai anaphê physin onomazomen ... Tôn sômatôn ta men esti synkriseis, ta d' ex hôn hai synkriseis pepoiêntai. Tauta de estin atoma kai ametablêta ... Hôste tas archas, atomous anankaion einai sômatôn physeis. Epikur spricht also in der obenerwähnten Stelle zuerst vom Körperlichen überhaupt im Unterschied vom Leeren, dann von dem besondern Körperlichen, den Atomen.A42

Schaubachs Berufung auf den Aristoteles beweist ebensowenig. Der Unterschied zwischen archê und stoicheion, den vorzugsweise die Stoiker urgieren, findet sich zwar auch bei Aristoteles; allein nicht minder gibt er auch die Identität beider Ausdrücke an. Er lehrt sogar ausdrücklich, stoicheion bezeichne vorzugsweise das Atom. Ebenso nennen auch Demokrit und Leukipp das plêres kai kenon »stoicheion«.

Bei Lukrez, in den Briefen des Epikur bei Diogenes Laertius, im Kolotes des Plutarch, vom Sextus Empiricus werden die Eigenschaften den Atomen selbst beigelegt, weshalb sie eben als sich selbst aufhebend bestimmt wurden.

Wenn es aber für eine Antinomie gilt, daß bloß durch die Vernunft wahrnehmbare Körper mit räumlichen Qualitäten begabt sind: so ist es eine viel größere Antinomie, daß die räumlichen Qualitäten selbst nur durch den Verstand perzipiert werden können.

Endlich führt Schaubach zur weitern Begründung seiner Ansicht folgende Stelle des Stobäus [Eclog. phys. I, 17, p. 33, 1 – 3 = I, 14, 1, p. 142 W.] an: Epikouros ...... ta [...] prôta (sc.sômata) de hapla, ta de ex ekeinôn synkrimata panta baros echein. Dieser Stelle bei Stobäus könnten noch folgende hinzugefügt[291] werden, in denen atoma stoicheia als eine besondere Art Atome erwähnt werden: (Plutarch, De placit. philosoph. I, 246 [= I, 7 p. 882 A] und 249 [= I, 12 p. 883 A] und Stob. Eclog. phys. I [,3], p. 5 [,42. 45 – 47 = I, 1, 29b, p. 38 W.]. Übrigens wird keineswegs in diesen Stellen behauptet, die ursprünglichen Atome seien ohne Größe, Gestalt und Schwere. Es wird vielmehr nur von der Schwere als einem differenten Merkmale der atomoi archai und atoma stoicheia gesprochen. Wir bemerkten aber schon im vorigen Kapitel, daß diese nur bei der Repulsion und den aus ihr entstehenden Konglomerationen angewandt wird.

Mit der Erdichtung der atoma stoicheia wird auch nichts gewonnen. Es ist ebenso schwierig, aus den atomoi archai zu den atoma stoicheia überzugehen, als ihnen direkt Eigenschaften beizulegen. Nichtsdestoweniger leugne ich nicht durchaus jene Unterscheidung. Ich leugne nur zwei verschiedene fixe Arten von Atomen. Es sind vielmehr unterschiedene Bestimmungen einer und derselben Art.

Ehe ich diesen Unterschied auseinandersetze, mache ich noch aufmerksam auf eine Manier des Epikur. Er setzt nämlich die verschiedenen Bestimmungen eines Begriffes gern als verschiedene selbständige Existenzen. Wie sein Prinzip das Atom ist, so ist die Weise seines Wissens selbst atomistisch. Jedes Moment der Entwickelung verwandelt sich ihm unter der Hand sogleich in eine fixe, von ihrem Zusammenhang gleichsam durch den leeren Raum getrennte Wirklichkeit; alle Bestimmung nimmt die Gestalt der isolierten Einzelheit an.

Aus folgendem Beispiel wird diese Manier klar werden. Das Unendliche, to apeiron oder die infinitio, wie Cicero übersetzt, wird zuweilen als eine besondere Natur vom Epikur gebraucht; ja gerade in denselben Stellen, in denen wir die stoicheia als eine fixe zugrunde liegende Substanz bestimmt finden, finden wir auch das apeiron verselbständigt.

Nun ist aber das Unendliche nach den eigenen Bestimmungen des Epikur weder eine besondere Substanz noch etwas außer den Atomen und dem Leeren, sondern vielmehr eine akzidentelle Bestimmung desselben. Wir finden nämlich drei Bedeutungen des apeiron.

Erstens drückt das apeiron dem Epikur eine Qualität aus, die den Atomen und dem Leeren gemein ist. So bedeutet es die Unendlichkeit des Alls, das unendlich ist durch die unendliche Vielheit der Atome, durch die unendliche Größe des Leeren.[292]

Das andere Mal ist apeiria die Vielheit der Atome, so daß nicht das Atom, sondern die unendlich vielen Atome dem Leeren entgegengesetzt werden.

Endlich, wenn wir vom Demokrit auf den Epikur schließen dürfen, bedeutet apeiron auch gerade das Gegenteil, die unbegrenzte Leere, die dem in sich bestimmten und durch sich selbst begrenzten Atom opponiert wird.

In allen diesen Bedeutungen – und sie sind die einzigen, sogar die einzig möglichen für die Atomistik – ist das Unendliche eine bloße Bestimmung der Atome und des Leeren. Nichtsdestoweniger wird es zu einer besondern Existenz verselbständigt, soA43 als eine spezifische Natur neben die Prinzipien gestellt, deren Bestimmtheit es ausdrückt.A44

Mag daher Epikur selbst die Bestimmung, in der das Atom stoicheion wird, als eine selbständige, ursprüngliche Art Atom fixiert haben, was übrigens, nach der historischen Prävalenz der einen Quelle vor der andern zu schließen, nicht der Fall ist; oder mag Metrodor, der Schüler des Epikur, was uns wahrscheinlicher dünkt, erst die unterschiedene Bestimmung in eine unterschiedene Existenz verwandelt haben: wir müssen der subjektiven Weise des atomistischen Bewußtseins die Verselbständigung der einzelen Momente zuschreiben. Dadurch, daß man verschiedenen Bestimmungen die Form verschiedener Existenz verleiht, hat man ihren Unterschied nicht begriffen.

Das Atom hat dem Demokrit nur die Bedeutung eines stoicheion, eines materiellen Substrats. Die Unterscheidung zwischen dem Atom als archê und stoicheion, als Prinzip und Grundlage, gehört dem Epikur. Ihre Wichtigkeit wird aus folgendem erhellen.

Der Widerspruch zwischen Existenz und Wesen, zwischen Materie und Form, der im Begriff des Atoms liegt, ist am einzelnen Atom selbst gesetzt, indem es mit Qualitäten begabt wird. Durch die Qualität ist das Atom seinem Begriff entfremdet, zugleich aber in seiner Konstruktion vollendet. Aus der Repulsion und den damit zusammenhängenden Konglomerationen der qualifizierten Atome entsteht nun die erscheinende Welt.

Bei diesem Übergange aus der Welt des Wesens in die Welt der Erscheinung erreicht offenbar der Widerspruch im Begriff des Atoms seine grellste Verwirklichung. Denn das Atom ist seinem Begriff nach die absolute, wesentliche Form der Natur. Diese absolute Form ist jetzt zur absoluten Materie, zum formlosen Substrat der erscheinenden Welt degradiert.[293]

Die Atome sind zwar Substanz der Natur, aus der alles sich erhebt, in die alles sich auflöst; aber die stete Vernichtung der erscheinenden Welt kömmt zu keinem Resultat. Es bilden sich neue Erscheinungen; das Atom selbst aber bleibt immer als Bodensatz zugrunde liegen. Soweit also das Atom seinem reinen Begriff nach gedacht wird, ist der leere Raum, die vernichtete Natur, seine Existenz; soweit es zur Wirklichkeit fortgeht, sinkt es zur materiellen Basis herab, die, Träger einer Welt von mannigfaltigen Beziehungen, nie anders als in ihr gleichgiltigen und äußerlichen Formen existiert. Es ist dies eine notwendige Konsequenz, weil das Atom, als Abstrakt-Einzeles und Fertiges vorausgesetzt, nicht als Idealisierende und übergreifende Macht jener Mannigfaltigkeit sich zu betätigen vermag.

Die abstrakte Einzelheit ist die Freiheit vom Dasein, nicht die Freiheit im Dasein. Sie vermag nicht im Licht des Daseins zu leuchten. Es ist dies ein Element, in welchem sie ihren Charakter verliert und materiell wird. Daher tritt das Atom nicht in den Tag der Erscheinung oder sinkt zur materiellen Basis herab, wo es in sie tritt. Das Atom als solches existiert nur in der Leere. So ist der Tod der Natur ihre unsterbliche Substanz geworden; und mit Recht ruft Lukrez [III, 882 Eichst. = 869 Diels] aus:

Mortalem vitam mors [...] immortalis ademit.

Daß aber Epikur den Widerspruch in dieser seiner höchsten Spitze faßt und vergegenständlicht, also das Atom, wo es zur Basis der Erscheinung wird, als stoicheion vom Atom, wie es im Leeren existiert, als archê unterscheidet, ist sein philosophischer Unterschied vom Demokrit, der nur das eine Moment vergegenständlicht. Es ist dies derselbe Unterschied, der in der Welt des Wesens, dem Reich der Atome und des Leeren, den Epikur vom Demokrit trennt. Da aber erst das qualifizierte Atom das vollendete ist, da erst aus dem vollendeten und seinem Begriff entfremdeten Atom die erscheinende Welt hervorgehen kann: so drückt dies Epikur so aus, daß erst das qualifizierte Atom stoicheion werde oder erst das atomon stoicheion mit Qualitäten begabt sei.

A39

Hervorhebung von Marx

A40

in der Abschrift: 45

A41

nach »Rede« von Marx gestrichen: Mit demselben Recht und Unrecht könnte man aus dieser Stelle archê de toutôn ouk estin, aitiôn tôn atomôn ousôn schließen, Epikur habe eine dritte Art – atoma aitia – angenommen.

A42

der folgende Satz von Marx gestrichen: Atoma stoicheia hat dasselbst keine andere Bedeutung als die atomoi physeis, von denen gesagt wird, sie seien archai in der zuletzt allegierten Stelle.

A43

von Marx korrigiert aus: sogar

A44

der folgende Satz von Marx gestrichen: Dies Beispiel ist überzeugend.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1968, Band 40, S. 290-294.
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