1. Der Prozeß Netschajew

[396] Die Tätigkeit der Allianz in Rußland ist uns durch den unter dem Namen »Prozeß Netschajew« bekannten politischen Prozeß enthüllt worden, der sich im Juli 1871 vor der Justizkammer in St. Petersburg abspielte. Zum ersten Male fand in Rußland die Verhandlung eines politischen Prozesses öffentlich und vor Geschworenen statt. Alle Angeschuldigten, mehr als achtzig an der Zahl, Männer und Frauen, gehörten bis auf wenige Ausnahmen der studierenden Jugend an. Sie hatten in den Gefängnissen der Petersburger Festung vom November 1870 bis Juli 1871 eine Präventivhaft erlitten, die den Tod zweier von ihnen veranlaßte und mehrere andere zum Wahnsinn brachte. Sie kamen aus dem Gefängnis, um ihre Verurteilung zu den Bergwerken Sibiriens, zur Zwangsarbeit, zu Gefängnis von fünfzehn, zwölf, zehn, sieben und zwei Jahren anzuhören; und diejenigen, welche vom öffentlichen Gerichtshof freigesprochen wurden, wurden »auf dem Verwaltungswege« verbannt.

Ihr Verbrechen bestand darin, einer geheimen Gesellschaft angehört zu haben, die sich den Namen der Internationalen Arbeiter-Assoziation angemaßt und in die sie aufgenommen worden von einem Emissär des internationalen revolutionären Komitees, dessen Mandate mit dem angeblichen Siegel der Internationalen gestempelt waren. Derselbe hatte zur Verübung von Gaunereien verleitet und mehrere von ihnen gezwungen, ihn bei der Ausführung eines Mordes zu unterstützen; dieser Mord hatte die Polizei auf die Spuren der geheimen Gesellschaft gebracht; doch hatte, wie gewöhnlich, der Emissär bereits das Weite gesucht. Die Polizei zeigte bei ihren Nachforschungen einen solchen Scharfblick, daß man eine detaillierte Denunziation voraussetzen möchte. In dieser ganzen Affäre spielt der Emissär die zweideutigste Rolle. Dieser Emissär war Netschajew, Inhaber eines Vollmachtszeugnisses in folgender Fassung:

[396] »Der Inhaber dieses Zeugnisses ist bevollmächtigter Vertreter des russischen Zweiges der allgemeinen revolutionären Allianz. – Nummer 2771.«

Dieses Zeugnis führt 1. in französischer Sprache den Stempel: »Alliance révolutionnaire européenne. Comité général.« (Europäische revolutionäre Allianz. Generalkomitee); 2. das Datum: 12. Mai 1869; 3. die Unterschrift: Michail Bakunin15


Im Jahre 1861 erhoben die Studenten in Erwiderung auf die fiskalischen Maßregeln, welche den Zweck hatten, arme junge Leute von den höheren Bildungsanstalten fernzuhalten, sowie auf die Disziplinarverfügungen, welche die Tendenz hatten, sie der diskretionären Zucht der Polizeiagenten zu unterwerfen, energische und einmütige Proteste, die sich aus ihren Versammlungen auf die Straßen fortpflanzten und zu gewaltigen Kundgebungen heranwuchsen. Die Petersburger Universität wurde damals für einige Zeit geschlossen und die Studenten ins Gefängnis geworfen oder verbannt. Dieses Vorgehen der Regierung trieb die Jugend in geheime Gesellschaften, die natürlich das Schicksal hatten, daß ein großer Teil ihrer Angehörigen ins Gefängnis, ins Exil oder nach Sibirien wanderten. Andere stifteten Kassen zur gegenseitigen Unterstützung, um den armen Studenten die Mittel zur Fortsetzung ihrer Studien zu beschaffen. Die Ernstesten unter ihnen hatten beschlossen, der Regierung keinen Vorwand mehr zur Unterdrückung dieser Kassen zu geben, die in der Weise organisiert waren, daß ihre Geschäftsführung in kleinen Zirkeln gehandhabt wurde. Diese Zirkel gaben zugleich Gelegenheit, politische und soziale Fragen zu diskutieren. Die sozialistischen Ideen waren bereits derart in die Jugend der höheren russischen Schulen, zur großen Mehrheit Söhne von Bauern und anderen armen Leuten, gedrungen, daß sie bereits an sofortige praktische Anwendung dieser Ideen dachte. Mit jedem Tage verallgemeinerte sich diese Bewegung in den Schulen, deren theoretische Seele Tschernyschewski (jetzt in Sibirien) war, und warf in die russische Gesellschaft eine besitzlose Jugend, die, aus dem niederen Volke hervorgegangen, in den sozialistischen Ideen unterrichtet und von ihnen durchdrungen war. Dies war der Stand der Dinge unter der russischen studierenden Jugend, als Netschajew das Ansehen, in welchem die Internationale stand, und die Begeisterung der Jugend benutzte, um die Studenten zu überreden, daß es nicht mehr an der Zeit sei, sich mit jenen Läppereien zu beschäftigen, während eine ungeheure geheime[397] Gesellschaft, mit der Internationalen in enger Verbindung, sich damit beschäftige, die allgemeine Revolution anzufachen, und zum sofortigen Handeln in Rußland bereit sei. Es gelang ihm, einigen jungen Leuten zu imponieren und sie fortzureißen zur Begehung gemeiner Verbrechen, welche der Polizei den Vorwand boten, diese ganze für das offizielle Rußland so gefährliche Bewegung der Schulen niederzuwerfen.

Im März 1869 fand sich in Genf ein junger Russe ein, der als angeblicher Delegierter der Petersburger Studenten sich in die engeren Kreise der russischen Flüchtlingsschaft einzuführen suchte. Er stellte sich unter verschiedenen Namen vor. Einige Flüchtlinge wußten bestimmt, daß kein Delegierter von jener Stadt geschickt wäre; andere hielten den angeblichen Delegierten, nachdem sie sich mit ihm unterhalten hatten, für einen Spion. Er gab sich schließlich unter seinem wahren Namen, Netschajew, zu erkennen; er erzählte, daß er aus der Petersburger Festung, in der er als einer der Hauptanstifter der im Januar 1869 in den Hochschulen der Hauptstadt ausgebrochenen Unruhen gefangen gewesen, entflohen sei. Mehrere Emigranten, die eine lange Haft in jener Festung erlitten hatten, kannten aus Erfahrung die Unmöglichkeit jeder Flucht; sie wußten also, daß Netschajew in diesem Punkte log; da andererseits die Zeitungen und Briefe, welche die Namen der verfolgten Studenten enthielten, Netschajew nirgends erwähnten, so hielten sie seine angebliche revolutionäre Tätigkeit für eine Fabel. Bakunin jedoch nahm mit großem Lärm für Netschajew Partei; er verkündete überall, daß er »außerordentlicher Gesandter der großen in Rußland bestehenden und wirkenden geheimen Organisation« sei. Man bat damals Bakunin dringend, diesem Individuum nicht die Namen seiner Bekannten, die er kompromittieren könnte, anzuvertrauen. Er versprach es, und die Dokumente des Prozesses zeigen, wie er sein Wort hielt.

In einer Unterredung, die Netschajew bei einem Flüchtlinge nachgesucht hatte, wurde er gezwungen, einzugestehen, daß er von keiner geheimen Organisation delegiert sei, aber, sagte er, er habe Kameraden und Bekannte, die er zu organisieren wünsche; er setzte hinzu, daß man die alten Emigranten benutzen müsse, um vermittelst ihrer Namen die Jugend zu beeinflussen und ihre Presse und ihr Geld in die Hand zu bekommen. Einige Zeit darauf erschienen die von Netschajew und Bakunin an die Studenten gerichteten »Worte«. Netschajew wiederholt darin das Märchen von seiner Flucht und fordert die Jugend auf, sich dem revolutionären Kampfe zu weihen; Bakunin entdeckt in den Organisationen der Hochschulen »den staatszerstörenden Geist, ... der aus der Tiefe des Volkslebens[398] selbst hervorgeht«16; er wünscht »seinen jungen Brüdern zu ihren revolutionären Bestrebungen Glück, ... denn es ist nahe, das Ende dieses infamen Kaisertums aller Reußen!«

Sein Anarchismus dient ihm als Vorwand, den Polen den Eselstritt zu versetzen, indem er ihnen vorwirft, daß sie

»nur an der Wiederherstellung ihres historischen Staates« (!!) arbeiten – »sie denken also an eine neue Sklaverei ihres Volkes«, und wenn sie Erfolg hätten, »so würden sie ebensowohl unsere Feinde werden, wie sie die Unterdrücker ihres Volkes sein würden. Wir werden sie im Namen der sozialen Revolution und der Freiheit der ganzen Welt bekämpfen.«

Man sieht, Bakunin ist mit dem Zar in dem Punkte einverstanden, daß man die Polen um jeden Preis hindern muß, ihre inneren Angelegenheiten nach eignem Ermessen zu ordnen. Die russische offizielle Presse hat bei allen polnischen Aufständen stets die insurgierten Polen beschuldigt, »die Unterdrücker ihres Volkes« zu sein. Rührende Übereinstimmung zwischen den Organen der dritten Sektion17 und dem Erzanarchisten von Locarno!

Das russische Volk, fährt Bakunin fort, befindet sich gegenwärtig in einer Lage, ähnlich der, die es unter dem Zar Alexis, dem Vater Peters des Großen, zum Aufstande zwang. Damals war es der kosakische Räuberhauptmann Stenka Rasin, der sich an seine Spitze stellte und ihm den »Weg« zur »Emanzipation« zeigte. Um sich heute zu erheben, wartet das Volk nur auf einen neuen Stenka Rasin; diesmal jedoch

»wird er ersetzt werden durch die Legion junger, aus ihrem Beruf geworfener (déclassés) Leute, die jetzt bereits das Volksleben mitleben ... Das Volk fühlt hinter sich seinen Stenka Rasin, nicht den persönlichen, sondern den kollektiven (!) und dadurch unbezwingbaren Helden. Das wird diese ganze herrliche Jugend sein, über der bereits sein Geist schwebt.«

Um diese Rolle eines Gesamt-Stenka-Rasin gut auszufüllen, hat die Jugend sich vorzubereiten vor allem durch die Unwissenheit:

»So verlaßt denn schleunigst diese der Vernichtung geweihte Welt. Verlaßt ihre Universitäten, ihre Akademien, ihre Schulen, geht in das Volk«, und seid »der Geburtshelfer seiner selbsttätigen Emanzipation, schafft die Einheit und Organisation seiner[399] Bemühungen und aller Kräfte des Volkes. Kümmert euch in diesem Augenblick nicht um die Wissenschaft, in deren Namen man euch binden und entmannen möchte ... Dies ist der Glauben der besten Männer des Westens ... Die Arbeiterwelt Europas und Amerikas ladet euch zu einer brüderlichen Allianz ein.«

In ihren geheimen Statuten sagt die Allianz in der dritten Potenz: »Die Grundsätze dieser Organisation ... werden noch eingehender im Programm der russischen sozialistischen Demokratie auseinandergesetzt.« Wir haben hier einen Anfang der Verwirklichung dieses Versprechens. Außer den gewöhnlichen anarchischen Phrasen und dem chauvinistischen Haß gegen die Polen, den Bakunin nie hat verbergen können, sehen wir hier zuerst, wie er den russischen Räuber als das Urbild des wahren Revolutionärs preist, wie er der russischen Jugend den Kultus der Unwissenheit predigt, unter dem Vorwand, daß die gegenwärtige Wissenschaft nur eine offizielle Wissenschaft sei (man stelle sich gefälligst eine offizielle Mathematik, Physik oder Chemie vor) und daß dieses die Meinung der Besten im Westen sei. Endlich gibt er am Schluß seiner Broschüre zu verstehen, daß die Internationale durch seine Vermittlung jener Jugend, der er selbst die Wissenschaft der Ignorantenbrüder untersagt, ein Bündnis anbiete.

Dieses evangelische »Wort« hat bei der Netschajewschen Verschwörung eine große Rolle gespielt. Es wurde jedem Neugeweihten vor seiner Aufnahme geheimnisvoll vorgelesen.

Gleichzeitig mit diesem »Wort« (1869) wurden folgende anonyme russische Schriften losgelassen: 1. »Formel der revolutionären Frage«; 2. »Prinzipien der Revolution«; 3. »Veröffentlichungen der Gesellschaft des ›Volksgerichts‹« (Narodnaja rasprava) Nr. 1, Sommer 1869, Moskau. – Alle diese Schriften waren in Genf gedruckt, wie die Identität der Lettern mit denen der übrigen Genfer russischen Drucksachen beweist – übrigens ist die Tatsache notorisch unter der ganzen russischen Emigration –, was sie jedoch nicht hinderte, auf der ersten Seite den Vermerk zu führen: »Imprimé en Russie – Gedruckt in Rußland«, um unter den russischen Studenten die Meinung zu erwecken, daß die geheime Gesellschaft in Rußland selbst große Aktionsmittel besitze.

Die »Formel der revolutionären Frage« verrät auf den ersten Blick ihre Verfasser. Es sind dieselben Phrasen, dieselben Ausdrücke, deren Bakunin und Netschajew sich in ihren »Worten« bedienen.

»Man muß nicht allein den Staat, sondern auch die Staats- und Kabinetts-Revolutionäre vernichten. Wir wahrlich, wir sind für das Volk.«[400]

Vermöge der anarchischen Assimilation setzt sich Bakunin an die Stelle der studierenden Jugend:

»Die Regierung selbst zeigt uns den Weg, den wir einschlagen müssen, um unser Ziel, d.h. das Ziel des Volks, zu erreichen. Sie verjagt uns aus den Universitäten, den Akademien, den Schulen. Wir danken ihr, daß sie uns damit auf ein so ruhmreiches, ein so günstiges Schlachtfeld gestellt hat. Jetzt haben wir festen Boden unter den Füßen, jetzt können wir handeln. Und wie sollen wir handeln? Das Volk unterrichten? Das wäre dumm. Das Volk weiß selbst und besser als wir, was ihm not tut« –

man vergleiche hiermit die geheimen Statuten, die den Massen die »Volksinstinkte«, den Eingeweihten die »revolutionäre Idee« zuschreiben.

»Wir müssen das Volk nicht unterrichten, sondern es empören«. Bis heute »hat es sich immer nutzlos empört, weil es sich nur teilweise empörte ... wir können ihm eine äußerst wichtige Hülfe bringen, wir können ihm das verschaffen, was ihm bisher stets gefehlt hat, was die Hauptursache all seiner Niederlagen war – die Einheit der allgegenwärtigen Bewegung vermittelst der Zusammenfassung seiner eigenen Kräfte.«

Man sieht, die Lehre der Allianz, Anarchie von unten und Disziplin von oben, erscheint hier in ihrer ganzen Reinheit. Zuerst finden wir da »die Entfesselung dessen, was man heute böse Leidenschaften nennt«, dann aber »ist es notwendig, daß inmitten der Volksanarchie, welche eben das Leben und die ganze Kraft der Revolution bilden wird, die Einheit der revolutionären Idee und Handlung ein Organ finde«. Dieses Organ soll die russische Sektion der allgemeinen Allianz sein, die Gesellschaft des Volksgerichts.

Doch die Jugend genügt Bakunin nicht. Er ruft unter die Fahne seiner Allianz, russische Sektion, alle Räuber.

»Das Räubertum ist eine der ehrenhaftesten Formen des russischen Volkslebens. Der Räuber ist der Held, der Schirmer und Rächer des Volks, der unversöhnliche Feind des Staats und jeder vom Staat gegründeten gesellschaftlichen und bürgerlichen Ordnung, der Kämpfer auf Tod und Leben gegen diese ganze Zivilisation der Beamten, Edelleute, Priester und der Krone ... Wer das Räubertum nicht versteht, wird nie von der russischen Volksgeschichte das Geringste verstehen. Wem das Räubertum nicht sympathisch ist, der kann auch nicht mit dem Volksleben sympathisieren und hat kein Herz für die hundertjährigen und unermeßlichen Leiden des Volks; er gehört ins Lager der Feinde, der Parteigänger des Staats ... nur im Räubertum zeigt sich die Lebensfähigkeit, die Leidenschaft und die Kraft des Volks ... Der russische Räuber ist der wahre und einzige Revolutionär – Revolutionär ohne Phrasen, ohne aus den Büchern geschöpfte Rhetorik, ein unermüdlicher, unversöhnlicher und in der Aktion unwiderstehlicher Revolutionär, ein sozialer und Volksrevolutionär, kein politischer und Klassenrevolutionär ...[401] Die in den Wäldern, Städten und Dörfern von ganz Rußland zerstreuten und die in den zahllosen Kerkern des Reichs eingesperrten Räuber bilden eine einige und unteilbare, fest verbundene Welt, die Welt der russischen Revolution. In ihr, in ihr allein besteht schon seit langem die wahre revolutionäre Verschwörung. Wer in Rußland eine ernstliche Verschwörung will, wer die Volksrevolution will, der muß in diese Welt gehen ... Schlagen wir den Weg ein, den uns die Regierung vorgezeichnet hat, als sie uns aus den Akademien, den Universitäten und den Schulen jagte, Brüder, werfen wir uns allesamt in das Volk, in die Volksbewegung, in die Erneute der Räuber und der Bauern, und, einander treue und feste Freundschaft bewahrend, fassen wir diese zerstreuten Aufstände der Mushiks (Bauern) zu einer einzigen Masse zusammen. Machen wir daraus eine wohlüberlegte, aber unerbittliche Volksrevolution«.18

Auf dem zweiten Blatte, »Die Prinzipien der Revolution«, findet man das in den geheimen Statuten gegebene Gebot entwickelt, so zu handeln, »daß kein Stein auf dem andern bleibt«. Man muß alles zerstören, um »den vollständigen Amorphismus« (Gestaltlosigkeit) zu erzeugen, denn wenn »eine einzige alte Form« erhalten bliebe, so würde sie der »Embryo« werden, aus dem alle anderen alten sozialen Formen wiedererständen. Das Blatt beschuldigt die politischen Revolutionäre, welche diesen Amorphismus nicht ernst nehmen, daß sie das Volk täuschen. Es erhebt die Anklage gegen sie, daß sie

»neue Galgen und Schafotte aufgebaut, auf denen sie die dem Kampfgemetzel entronnenen revolutionären Brüder hingerichtet haben ... bisher haben die Völker noch keine wahre Revolution gesehen ... die wahre Revolution braucht keine Individuen, die sich an die Spitze der Masse stellen und sie kommandieren, sondern Männer, die, unsichtbar in ihrer Mitte verborgen, die unsichtbare Verbindung einer Masse mit der andern ausmachen und so der Bewegung unsichtbar eine und dieselbe Richtung, einen und denselben Geist und Charakter geben. Die vorbereitende geheime Organisation hat nur diesen Sinn, und einzig und allein hierzu ist sie notwendig.«

Hier ist also dem russischen Publikum und der russischen Polizei die Existenz der »internationalen Brüder« enthüllt, die man dem Westen so[402] sorgfältig verbarg. Dann predigt das Blatt den systematischen Mord und erklärt, daß für die Männer des politischen revolutionären Werks alle Räsonnements über die Zukunft

»ein Verbrechen sind, weil sie die reine Zerstörung hindern und den Gang der Revolution hemmen. Wir haben nur zu denen Vertrauen, welche durch Taten ihre Ergebenheit für die Revolution offenbaren, ohne Furcht vor Martern und Kerker, und wir verleugnen jedes Wort, dem nicht unmittelbar auch die Tat folgt. Wir brauchen keine zwecklose Propaganda mehr, wir brauchen keine Propaganda, die nicht mit Bestimmtheit die Stunde und den Ort festsetzt, wo sie den Zweck der Revolution verwirklichen wird. Im Gegenteil, sie hindert uns, und wir werden all unsere Kraft gebrauchen, um ihr Halt zu gebieten ... Alle Schwätzer, die dieses nicht begreifen wollen, werden wir mit Gewalt zum Schweigen bringen.«

Diese Drohungen wandten sich an die Adresse der russischen Flüchtlinge, die sich nicht vor dem Papsttum Bakunins gebeugt hatten und die er Doktrinäre titulierte.

»Wir zerreißen jede Verbindung mit den politischen Emigranten, welche nicht in ihr Land zurückkehren wollen, um sich in unsere Reihen zu stellen, und, solange unsere Reihen noch geheim sind, brechen wir mit all denen, die nicht dazu beitragen wollen, daß ihr öffentliches Erscheinen auf der Bühne des russischen Lebens möglich werde. Wir machen nur für diejenigen Flüchtlinge eine Ausnahme, welche sich als Arbeiter der europäischen Revolution bewährt haben. Wir werden keine zweite Mahnung ergehen lassen ... Wer Augen und Ohren hat, wird die handelnden Männer sehen und hören, und wenn er sich ihnen nicht anschließt, so sind wir nicht schuld an seinem Untergang, noch wird es unsere Schuld sein, wenn alles, was sich hinter den Kulissen verbirgt, mitsamt diesen Kulissen kalt und unerbittlich zermalmt wird.«

Bakunin ist hier vollkommen deutlich. Während er den Flüchtlingen bei Todesstrafe befiehlt, als Agenten seiner geheimen Gesellschaft nach Rußland zurückzukehren, nach dem Vorbild der russischen Polizeispitzel, die ihnen Pässe und Geld anboten, um dorthin konspirieren zu gehen, erteilt er sich selbst einen päpstlichen Dispens, um ruhig in der Schweiz zu bleiben als »Arbeiter der europäischen Revolution« und dort an den Manifesten zu arbeiten, zur Kompromittierung der armen gefangenen Studenten.

»Indem wir keine andere Tätigkeit als die der Zerstörung zulassen, erkennen wir an, daß die Form, in der sich diese Tätigkeit äußern muß, eine höchst mannigfaltige sein kann: Gift, Dolch, Strick etc. Die Revolution heiligt alles ohne Unterschied. Also[403] das Feld ist offen! ... So mögen also alle jungen und gesunden Köpfe unverweilt aufnehmen die heilige Arbeit der Zerstörung des Bösen, der Reinigung und Klärung der russischen Erde mittelst des Feuers und des Schwertes, indem sie sich brüderlich mit denjenigen vereinigen, welche dasselbe in ganz Europa tun werden.«

Fügen wir noch hinzu, daß in dieser erhabenen Proklamation der unvermeidliche Räuber in der melodramatischen Person Karl Moors figuriert und daß die Nummer 2 des »Volksgerichts« beim Zitieren einer Stelle dieses Blattes dasselbe ausdrücklich als »eine Proklamation Bakunins« bezeichnet.

Die Nr. l der »Veröffentlichungen der Gesellschaft ›Das Volksgericht‹«19 beginnt damit, den allgemeinen Aufstand des russischen Volkes als nahe bevorstehend zu verkünden.

»Wir, das heißt jener Teil der Volksjugend, der zu einer gewissen Entwicklung gelangt ist, wir müssen ihr den Weg bahnen, d.h. alle Hindernisse beseitigen, die ihren Gang hemmen können, und ihr günstige Bedingungen vorbereiten. Angesichts des bevorstehenden Aufstandes erachten wir es für notwendig, in einem einzigen unauflöslichen Gebinde alle über ganz Rußland zerstreuten revolutionären Bestrebungen zusammenzufassen. Deshalb haben wir beschlossen, seitens des revolutionären Zentrums Blätter herauszugeben, aus denen jeder von unseren in allen Winkeln Rußlands zerstreuten Glaubensgenossen, jeder, wenn auch uns unbekannte Arbeiter an der heiligen Sache der Revolution stets ersehen wird, was wir wollen und wohin wir gehen.«

Dann heißt es:

»Der Gedanke hat für uns nur soweit Wert, als er dem großen Werke der allgemeinen Allzerstörung dient. Ein Revolutionär, der die Revolution aus den Büchern studiert, wird nie etwas taugen ... Wir glauben nicht mehr an Worte. Das Wort hat für uns nur Wert, wenn ihm die Tat auf dem Fuße folgt; aber nicht alles ist Tat, was diesen Namen führt. Zum Beispiel ist die bescheidene und zu vorsichtige Organisation geheimer Gesellschaften ohne äußere Kundgebungen in unseren Augen nur ein lächerliches und unerträgliches Kinderspiel. Wir nennen äußere Kundgebungen nur eine Reihe von Handlungen, die positiv irgend etwas, eine Person, eine Sache, ein Verhältnis, das die Volksemanzipation hindert, zerstört ... Ohne unser Leben zu schonen, ohne vor irgendeiner Drohung, irgendeinem Hindernis, irgendeiner Gefahr etc. zurückzuschrecken, müssen wir mit einer Reihe verwegener, ja übermütiger Unternehmungen in das Leben des Volkes einbrechen und ihm den Glauben an seine eigene Macht einflößen, es erwecken, vereinigen und zum Triumph seiner eigenen Sache hinführen.«[404]

Plötzlich verwandeln sich die revolutionären Phrasen des »Volksgerichts« in Angriffe gegen die »Volkssache«, eine in Genf herausgegebene russische Zeitung, die das Programm und die Organisation der Internationalen verteidigte. Es war begreiflicherweise von der größten Wichtigkeit für die allianzistische Propaganda Bakunins in Rußland, die auf den Namen der Internationalen gemacht wurde, ein Blatt zum Schweigen zu bringen, das diesen Betrug aufdeckte.

»Wenn dieses Journal in derselben Weise fortfährt, werden wir nicht zögern, ihm auszudrücken und kundzugeben, wie unsere Beziehungen zu ihm sein müssen ... Wir sind überzeugt, daß alle ernsten Männer jede Theorie und mit noch stärkerem Grunde jeden Doktrinarismus jetzt beiseite setzen werden. Wir können die Veröffentlichung von Schriften, welche, wenn auch ehrlich gemeint, doch unserer Fahne feindlich sind, durch verschiedene praktische Mittel verhindern, die wir in Händen haben

Nach diesen Drohungen gegen seinen gefährlichen Rivalen fährt das »Volksgericht« fort:

»Unter den letzthin auswärts herausgegebenen Schriften empfehlen wir fast ohne Einschränkung den Aufruf Bakunins an die ausgestoßene (déclassée) Jugend der Schulen.«

Man sieht, Bakunin verliert nie eine Gelegenheit, sich ein bissel Weihrauch zu streuen.

Der zweite Artikel führt den Titel: »Eine Darstellung des Begriffs vom Werke in der Vergangenheit und in der Gegenwart«. Im ersten Artikel bedrohten Bakunin und Netschajew das russische internationale Organ im Ausland; hier erbosen sie sich gegen Tschernyschewski, gegen den Mann, der am meisten dazu beigetragen, jene angeblich von ihnen vertretene Jugend der Schulen in die sozialistische Bewegung zu stürzen.

»Wahrlich, der Bauer hat sich nie damit abgegeben, in seiner Phantasie Formen für die zukünftige gesellschaftliche Ordnung zu schaffen; nichtsdestoweniger wird er nach der Beseitigung aller Hindernisse (d.h. nach der allzerstörenden Revolution, die vor allen Dingen zu machen und die daher das Wichtigste für uns ist) sein Leben mit mehr Verstand einzurichten wissen, als enthalten ist in den Theorien und Entwürfen der doktrinären Sozialisten, die sich dem Volke als Lehrer, und was noch schlimmer ist, als Leiter aufdrängen wollen. Vor den Augen des nicht durch die Brille der Zivilisation verdorbenen Volkes liegt das Bestreben dieser zur Unzeit sich meldenden Professoren zu auffällig dar. Sie wollen unter dem Vorwande der Wissenschaft, Kunst etc. für sich und ihresgleichen gute Stellchen vorbereiten. Und wären diese Bestrebungen[405] auch uneigennützig und unbewußt, wären sie nur die unvermeidliche Frucht jeder von der modernen Zivilisation durchdrungenen Gesellschaftsordnung, so würde doch das Volk nicht dabei gewinnen. Der ideale Zweck der sozialen Gleichheit war in der von Wassili Us in Astrachan nach der Abreise Stenka Rasins organisierten Kosaken-Gesellschaft unvergleichlich besser verwirklicht als in den Phalansterien Fouriers, den Anstalten Cabets, Louis Blancs und anderer sozialistischer Gelehrten (!), besser als in den Assoziationen Tschernyschewskis.«

Folgt eine ganze Seite Ausfälle gegen diesen und seine Gefährten.

Das gute Stellchen, welches sich Tschernyschewski vorbereitete, die russische Regierung hat es ihm angewiesen in einem sibirischen Kerker, während Bakunin, in seiner Eigenschaft als Arbeiter der europäischen Revolution dieser Gefahr überhoben, sich auf seine Kundgebungen von außen beschränkte. Und es war gerade in dem Augenblick, wo die Regierung streng verbot, auch nur den Namen Tschernyschewskis in der Presse auszusprechen, daß die Herren Bakunin und Netschajew ihn angriffen.

Unsere »amorphen« (gestaltlosen) Revolutionäre fahren fort:

»Wir unternehmen es, dieses faule soziale Gebäude zu zerstören ... Wir kommen aus dem Volke, die Haut zerfleischt von den Zähnen der gegenwärtigen Ordnung, geleitet vom Haß gegen alles, was nicht Volk ist, wir haben keinen Begriff von moralischen Pflichten oder irgendwelchen Rücksichten gegen diese Gesellschaft, die wir hassen und von der wir nur Böses erwarten. Wir haben nur einen einzigen unveränderlichen negativen Plan: den der unerbittlichen Zerstörung. Wir verzichten kategorisch auf die Ausarbeitung der zukünftigen Lebensbedingungen; ein solcher Versuch wäre unvereinbar mit unserer Tätigkeit, und deshalb erachten wir jede rein theoretische Kopfarbeit für unnütz ... Wir übernehmen ausschließlich die Zerstörung der gegenwärtigen sozialen Ordnung.«

Die beiden »Kundgeber von außen« geben zu verstehen, daß der Mordversuch gegen den Zar im Jahre 1866 zu der »Reihe« allzerstörender Handlungen ihrer geheimen Gesellschaft gehörte:

»Karakosow war es, der am 4. April 1866 unser heiliges Werk begann. Seit dieser Zeit erwacht in der Jugend das Bewußtsein ihrer revolutionären Macht. Es war ein Beispiel, eine Tat! Keine Propaganda kann eine so große Bedeutung haben.«

Dann stellen sie eine lange Liste von »Kreaturen« auf, die vom Komitee dem sofortigen Tode geweiht sind. Mehreren soll »die Zunge ausgerissen werden ...«, aber

»wir rühren den Zar nicht an ... ihn sparen wir auf für das Gericht des Volkes, der Bauern; dieses Recht gehört dem ganzen Volke ... unser Henker, er möge also leben bis zum Augenblick des Volkssturms ...«[406]

Niemand wird wagen, in Zweifel zu ziehen, daß diese russischen Flugschriften, die geheimen Statuten und die von Bakunin 1869 in französischer Sprache herausgegebenen Schriften aus derselben Quelle stammen. Im Gegenteil, diese drei Klassen von Schriften ergänzen einander. Sie entsprechen gewissermaßen den drei Weihegraden der famosen allzerstörenden geheimen Gesellschaft. Die französischen Broschüren sind geschrieben für die gewöhnlichen Allianzisten, deren Vorurteile man schont. Man spricht zu ihnen nur von der reinen Anarchie, vom Antiautoritarismus, von der freien Föderation autonomer Gruppen und von anderen ebenso abgestandenen Dingen: reiner Galimathias. Die geheimen Statuten sind bestimmt für die internationalen Brüder des Westens; die Anarchie wird dort zur »vollständigen Entfesselung des Volkslebens ... der bösen Leidenschaften«, aber mitten in dieser Anarchie existiert das geheime leitende Element – eben diese Brüder ; man gibt ihnen nur einige unbestimmte Andeutungen über die allianzistische, dem heiligen Loyola entnommene Moral; man erwähnt nur die Notwendigkeit, keinen Stein auf dem andern zu lassen, – denn im Westen ist man noch mit philiströsen Vorurteilen genährt und man bedarf einiger Schonung. Man sagt ihnen, daß die Wahrheit, zu blendend für Augen, die des wahren Anarchismus noch ungewohnt, erst vollständig enthüllt werde im Programm der russischen Sektion. Nur zu den geborenen Anarchisten, zum auserwählten Volke, zu seiner Jugend des heiligen Rußlands wagt der Prophet offen zu reden. Da wird die Anarchie zur allgemeinen Allzerstörung, die Revolution zu einer Reihe von erst einzelnen individuellen, dann Massenmorden; die einzige Verhaltungsregel ist die gesteigerte Jesuitenmoral; das Urbild des Revolutionärs ist der Räuber. Da wird der Jugend das Denken und die Wissenschaft verboten als weltliche Beschäftigungen, die sie zum Zweifel an der allzerstörenden Orthodoxie führen könnten. Wer etwa bei ihren theoretischen Ketzereien hartnäckig zu verharren oder den Maßstab der gewöhnlichen Kritik an den allgemeinen Amorphismus anzulegen sich vermäße, wird mit der heiligen Inquisition bedroht. Vor der russischen Jugend braucht der Papst sich keinen Zwang mehr anzulegen, weder im Inhalt, noch in der Form. Da läßt er seiner Sprache den Zügel schießen. Der absolute Mangel an Ideen drückt sich in einem so schwülstigen Galimathias aus, daß es unmöglich ist, denselben in einer westlichen Sprache wiederzugeben, ohne das Groteske abzuschwächen. Diese Sprache selbst ist nicht einmal russisch, sie ist tartarrisch, dafür hat sie ein Russe erklärt. Diese Männchen mit verschrumpften[407] Gehirnen blähen sich auf mit haarsträubenden Phrasen, um in ihren eigenen Augen als revolutionäre Riesen zu erscheinen. Es ist die alte Geschichte vom Frosch und vom Ochsen.

Was für schreckliche Revolutionäre! Sie wollen alles, »absolut alles« vernichten und amorphisieren (vollständig gestaltlos machen), sie stellen Proskriptionslisten auf, deren Opfer ihren Dolchen, ihrem Gift, ihrem Strick, den Kugeln ihrer Revolver geweiht sind. Mehreren sogar werden sie »die Zunge ausreißen«, aber sie beugen sich vor der Majestät des Zars. Doch der Zar, die Beamten, der Adel, die Bourgeoisie können ruhig schlafen. Die Allianz bekämpft nicht die konstituierten Staaten, sondern die Revolutionäre, die sich nicht zu Figuranten dieser Tragikomödie erniedrigen wollen. Friede den Palästen, Krieg den Hütten! Tschernyschewski wird verleumdet; die Redakteure der »Volkssache« werden benachrichtigt, daß man sie zum Schweigen bringen werde »durch verschiedene praktische Mittel, die wir in der Hand haben«; die Allianz droht mit Meuchelmord allen Revolutionären, die nicht mit ihr gehen. Das ist der einzige Teil ihres allzerstörenden Programms, dessen Ausführung begonnen hat. Wir kommen jetzt zu ihrer ersten Heldentat auf diesem Gebiet.


Seit April 1869 begannen Bakunin und Netschajew das Terrain für die Revolution in Rußland vorzubereiten. Sie schickten Briefe, Proklamationen und Telegramme von Genf aus nach Petersburg, Kiew und anderen Städten. Sie wußten indes, daß man nach Rußland keine Briefe, Proklamationen und vor allem keine Telegramme schicken kann, ohne daß die dritte Sektion (die geheime Polizei) davon Kenntnis nimmt. Dieses alles konnte keinen anderen Zweck haben, als die Leute zu kompromittieren. Das feige Vorgehen dieser Leute, die in ihrer guten Stadt Genf keinerlei Gefahr liefen, bewirkte zahlreiche Verhaftungen in Rußland. Und dabei waren die Herren benachrichtigt von der Gefahr, die sie hervorriefen. Wir haben den Beweis in Händen, daß folgende Stelle aus einem Briefe aus Rußland Bakunin mitgeteilt wurde:

»Bitte lassen Sie Bakunin sagen, daß er, wenn ihm an der Revolution irgend etwas heilig ist, aufhören möge, seine unsinnigen Proklamationen herzusenden, die in mehreren Städten zu Verfolgungen, zu Verhaftungen Anlaß geben und jede ernste Tätigkeit lähmen.«[408]

Bakunin antwortete, daran sei nichts und Netschajew sei nach Amerika abgereist. Aber der geheime Kodex Bakunins schreibt, wie man später sehen wird, vor, »die Ehrgeizigen und Liberalen der verschiedenen Schattierungen ... vollständig zu kompromittieren, ... so daß ihnen der Rückzug unmöglich wird, und sich dann ihrer zu bedienen«. (Revolutionärer Katechismus § 19.)

Hier eine Probe davon. Am 7. April 1869 schrieb Netschajew an Frau Tomilowa, die Gattin eines seitdem infolge ihrer Verhaftung vor Kummer gestorbenen Obersten, »daß es in Genf ungeheuer viel zu tun gebe«, und er drang in sie, einen zuverlässigen Mann zu schicken, mit dem er sich verständigen könne. »Die Angelegenheit, über die wir uns ins Einvernehmen setzen müssen, betrifft nicht allein unseren Verkehr, sondern den von ganz Europa. Hier ist die Sache im Kochen. Man bereitet eine Suppe, die ganz Europa nicht imstande sein wird auszuessen. Beeilen Sie sich also.« Es folgt dann die Genfer Adresse. Dieser Brief gelangte nicht an seine Adresse; er wurde auf der Post von der geheimen Polizei mit Beschlag belegt und führte die Verhaftung der Frau Tomilowa herbei, der er erst während der Untersuchung vorgelegt wurde. (Bericht über den Prozeß Netschajew, »Petersb. Ztg.«, Nr. 187.)20

Hier noch ein Beweis dafür, wie klug sich Bakunin bei der Organisation seiner Verschwörung benahm. Ein Student der Akademie zu Kiew, Mawrizki, erhielt Proklamationen aus Genf, die an seinen Namen adressiert waren. Er schickte sie sofort an die Regierung, die sich beeilte, nach Genf einen Vertrauensmann, d.h. einen Polizeispion, zu senden. Bakunin und Netschajew knüpften alsbald vertrauliche Beziehungen mit diesem »Delegierten aus dem Süden Rußlands« an, lieferten ihm Proklamationen sowie Adressen von Personen, die Netschajew in Rußland kennengelernt haben wollte, und gaben ihm einen Brief, der nur ein Vertrauens- und Empfehlungsbrief sein konnte (»St. Petersburger Zeitung«, Nr. 187).

Am 3. September (15. September neuen Stils) 1869 stellte sich Netschajew in Moskau einem jungen Manne, Uspenski, den er vor seiner Abreise ins Ausland kennengelernt, als delegierter Emissär des Genfer allgemeinen revolutionären Komitees vor und zeigte ihm das oben abgedruckte Mandat. Er teilte ihm mit, daß Emissäre dieses europäischen Komitees mit[409] gleichen Mandaten nach Moskau kommen würden, und daß er die Aufgabe habe, »eine geheime Gesellschaft unter der studierenden Jugend zu organisieren, ... um in Rußland den Volksaufstand hervorzurufen«. Auf Empfehlung Uspenskis ging Netschajew, um eine sichere Wohnung zu finden, nach der in einem entlegenen Stadtteil befindlichen landwirtschaftlichen Akademie und setzte sich in Verbindung mit Iwanow, einem der wegen ihres Eifers für die Interessen der Jugend und des Volkes bekanntesten Studenten. Von da ab wurde die landwirtschaftliche Akademie der Mittelpunkt seiner Tätigkeit. Er führte sich zuerst unter falschem Namen ein, erzählte, daß er viel in Rußland gereist sei, daß überall das Volk zur Erhebung bereit sei, und daß es dies schon lange getan hätte, ohne den ihm von den Revolutionären erteilten Rat, sich zu gedulden bis zur Vollendung ihrer großen und mächtigen Organisation, die alle revolutionären Kräfte Rußlands vereinen soll. Er drängte Iwanow und andere Studenten zum Eintritt in diese geheime Gesellschaft, die ein allmächtiges Komitee habe, in dessen Namen alles geschehe, dessen Sitz und Zusammensetzung jedoch den Mitgliedern unbekannt bleiben müsse. Dies Komitee und diese Organisation bildeten den russischen Zweig der allgemeinen Union, der revolutionären Allianz, der Internationalen Arbeiter-Assoziation!21

Netschajew begann mit der Verteilung der oben zitierten »Worte« an die Studenten, um ihnen zu zeigen, daß Bakunin, der berühmte Revolutionär von 1848, der Flüchtling aus Sibirien, eine große Rolle in Europa spiele, daß er der Generalbevollmächtigte der Arbeiter sei, daß er Mandate des Zentralkomitees der universellen Assoziation unterzeichne und daß dieser Heros ihnen rate, ihre Studien aufzugeben usw. Um ihnen einen sprechenden Beweis einer bis zum Tode gehenden Hingebung zu geben, las er ihnen ein Gedicht Ogarjews, eines Freundes Bakunins und Redakteurs des Herzenschen »Kolokol«, vor, betitelt: »Der Student« und gewidmet »seinem jungen Freunde Netschajew«. Dieser wurde darin als das ideale Vorbild des Studenten dargestellt, als »der unermüdliche Kämpfer von Kindheit an«; Ogarjew beschrieb darin, wie die lebendige Arbeit der Wissenschaft[410] Netschajew die Qualen seiner Jugendzeit ertragen lehrte, wie seine Hingebung für das Volk stieg, wie er, durch die Rache des Zars und den Schrecken der Bojaren verfolgt, sich dem Nomadenleben (skitanie, Herumstreichen) hingab, wie er auf die Pilgerfahrt ging, um allen Bauern vom Aufgang bis zum Niedergang zuzurufen: Sammelt euch, erhebt euch mutig etc.; wie er sein Leben in der Zwangsarbeit im Schnee Sibiriens geendet, und wie er, der kein Heuchler war, sein ganzes Leben hindurch dem Kampfe treu blieb und beim letzten Hauch noch wiederholte: Das ganze Volk muß sein Land und seine Freiheit erobern! – Diese allianzistische Dichtung wurde im Frühjahr 1869 gedruckt, während Netschajew sich in Genf amüsierte. Sie wurde mit den übrigen Proklamationen paketweise nach Rußland gesandt. Es scheint, daß schon das Abschreiben dieser Dichtung die Eigenschaft hatte, den Neugeweihten Selbstverleugnung einzuflößen, denn Netschajew ließ sie auf Befehl des Komitees von jedem Neuaufgenommenen abschreiben und verteilen (Aussagen mehrerer Angeklagter).

Die Musik scheint das einzige zu sein, was dem Amorphismus entgehen soll, dem die allgemeine Allzerstörung alle Künste und Wissenschaften überliefern wird. Netschajew befahl im Namen des Komitees, die Propaganda durch revolutionäre Musik zu unterstützen und mühte sich ab, eine Melodie zu finden, nach der jenes Meisterstück der Poesie von der Jugend gesungen werden könnte (»St. Petersb. Ztg.«, Nr. 190).

Jene mystische Legende über seinen Tod hielt ihn nicht ab, anzudeuten, daß Netschajew wohl noch am Leben sein könnte, oder gar unter dem Siegel des Geheimnisses zu erzählen, daß Netschajew sich im Ural als Arbeiter befinde und dort Arbeitergenossenschaften gegründet habe (»St. Petersb. Ztg.«, Nr. 202). Er machte diese Enthüllung besonders jenen, die »nichts taugten«, d.h. denen, die an Gründung von Arbeitergenossenschaften dachten, um auch ihnen Bewunderung für den fabelhaften Heros einzuflößen. Endlich, sobald die Legende von seiner erdichteten Flucht aus der Petersburger Festung und von seinem poetischen Tode in Sibirien die Geister genügend vorbereitet hatte und er seine Schüler hinreichend eingepaukt glaubte, bewirkte er seine evangelische Auferstehung und erklärte: Er sei es, Netschajew in Person! Aber diesmal war es nicht mehr der Netschajew von ehemals, der von den Studenten in Petersburg verlachte und verachtete, wie Zeugen und Angeklagte bestätigten, sondern der Bevollmächtigte des allgemeinen revolutionären Komitees. Das Wunder dieser[411] Umwandlung hatte Bakunin fertiggebracht. Netschajew hatte alle Bedingungen erfüllt, welche die Statuten der von ihm gepredigten Organisation verlangten; er hatte sich »durch Taten ausgezeichnet, welche das Komitee kannte und würdigte«; er hatte in Brüssel einen bedeutenden Strike der Internationalen organisiert und geleitet; das belgische Komitee hatte ihn als Delegierten zur Internationalen in Genf geschickt, woselbst er mit Bakunin zusammentraf, und da er nach seinem eigenen Ausspruch »es nicht liebte, auf seinen Lorbeeren zu ruhen«, war er nach Rußland zurückgekehrt, um die »revolutionäre Aktion« zu beginnen. Er versicherte auch, daß mit ihm ein ganzer Generalstab, aus sechzehn russischen Flüchtlingen bestehend, nach Rußland gekommen sei.22

Uspenski, Iwanow und vier oder sechs andere junge Leute scheinen die einzigen in Moskau gewesen zu sein, die sich von all diesen Gaukeleien fangen ließen. Vier dieser Aufgenommenen erhielten den Auftrag, neue Anhänger zu werben und Zirkel oder kleine Sektionen zu bilden. Der Organisationsplan findet sich in den Dokumenten des Prozesses; er stimmt fast in jedem Punkte mit dem der geheimen Allianz überein. Das »allgemeine Reglement der Organisation« wurde in voller Gerichtssitzung verlesen und keiner der Haupteingeweihten hat seine Echtheit angefochten; übrigens hat die Nr. 2 des von Bakunin und Netschajew redigierten »Volksgerichts« die Echtheit folgender Stellen zugegeben:

»Die Organisation hat das Vertrauen gegen das Individuum zur Grundlage. – Kein Mitglied weiß, welchen Grad es einnimmt, ob es weiter oder näher vom Zentrum entfernt ist. – Der Gehorsam gegen das Komitee muß absolut, ohne irgendwelchen Einwand sein. – Verzichtleistung auf jedes Eigentum zugunsten des Komitees, das darüber verfügen kann. – Jedes Mitglied, das eine bestimmte Anzahl Proselyten für unsere Sache geworben hat, das durch Taten Beweis abgelegt hat vom Grad seiner Kräfte und Fähigkeiten, kann Kenntnis von diesem Reglement und später mehr oder weniger vollständig von den Statuten der Gesellschaft erhalten. Der Grad der Kräfte und Fähigkeiten unterliegt der Schätzung des Komitees.«

Um die Moskauer Affiliierten zu täuschen, sagte ihnen Netschajew, daß in Petersburg die Organisation schon ungeheuer groß sei, während in Wirklichkeit daselbst nicht ein einziger Zirkel oder eine Sektion existierte. Einen Augenblick vergaß er sich einmal und rief vor einem seiner Eingeweihten aus: »In Petersburg sind sie mir untreu geworden wie die Weiber[412] und haben mich verraten wie die Sklaven.« In Petersburg sagte er umgekehrt, daß die Organisation in Moskau wunderbare Fortschritte mache.

Da man in dieser letzteren Stadt ein Komiteemitglied zu sehen verlangte, so lud er einen jungen Petersburger Offizier, der sich für die Studentenbewegung interessierte, ein, mit ihm nach Moskau zu kommen, um sich ihre Zirkel anzusehen. Der junge Mann willigte ein und unterwegs weihte ihn Netschajew zum »außerordentlichen Delegierten des Komitees der Internationalen Assoziation von Genf«.

»Sie würden«, sagte er zu ihm, »zu unseren Versammlungen nicht zugelassen, weil Sie nicht Mitglied sind, aber hier haben Sie ein Mandat, welches bescheinigt, daß Sie Mitglied der Internationalen Assoziation sind und als solches haben Sie Zutritt.«

Das Mandat hatte einen französischen Stempel und lautete: »Der Inhaber dieses Mandats ist bevollmächtigter Vertreter der Internationalen Assoziation.« Die anderen Angeklagten bestätigen, daß Netschajew sie glauben machte, daß dieser Unbekannte »der wirkliche Agent des revolutionären Komitees zu Genf« sei (Nr. 225 und 226, »St. Petersb. Ztg.«).

Dolgow, ein Freund Iwanows, bezeugt, daß »Netschajew, wenn er von der geheimen Gesellschaft sprach, die zu dem Zwecke organisiert sei, das Volk im Falle einer Erhebung zu unterstützen und den Aufstand so zu leiten, daß er gelingen müsse, auch der Internationalen Assoziation erwähnte und angab, daß Bakunin ihnen als Bindeglied mit der Internationalen diene« (Nr. 198). Ripman versicherte, daß Netschajew, »um ihn von seiner Idee über kooperative Assoziationen abzubringen, ihm erzählte, daß in Europa die Internationale Arbeiter-Assoziation existierte, und daß es, um den von dieser verfolgten Zweck zu erreichen, genüge, in seine Gesellschaft einzutreten, von der eine Sektion bereits in Moskau existierte« (Nr. 198).

Man sieht ferner aus den Aussagen, daß Netschajew die Internationale für eine geheime Gesellschaft und seine Gesellschaft für einen Zweig derselben gelten ließ. Auch versicherte er seinen Vertrauten, daß ihre Sektion zu Moskau mit Strikes und Genossenschaften in großem Maßstabe, wie die Internationale vorgehen werde. Als der Angeklagte Ripman von ihm das Programm der Gesellschaft verlangte, las ihm Netschajew einige Stellen aus einem französischen Schriftstück über den Zweck der Gesellschaft vor; der Angeklagte verstand, daß dies Schriftstück das Programm der Internationalen sei, und setzte hinzu, »da man in der Presse viel von dieser Gesellschaft gesprochen hätte, habe er in dem Vorschlage Netschajews nichts besonderes Strafbares gesehen«. Einer der Hauptangeklagten, Kusnezow, sagte, daß Netschajew das Programm der Internationalen Assoziation[413] vorgelesen habe (Nr. 181); sein Bruder sagt aus, daß »er gesehen habe, wie man bei seinem Bruder ein französisches Schriftstück kopierte, welches das Programm der Gesellschaft sein sollte« (Nr. 202). Der Angeklagte Klimin erklärt, man habe ihm »das Programm der Internationalen Assoziation nebst einigen von Bakunin als Postskriptum geschriebenen Zeilen« vorgelesen, »... doch soweit ich mich erinnere, war dieses Programm in sehr allgemeinen Ausdrücken abgefaßt und sagte nichts über die Mittel zum Zwecke, sondern sprach nur von der Gleichheit im allgemeinen« (Nr. 199). Der Angeklagte Gawrischew erklärte, daß das »französische Schriftstück, soweit man den Sinn verstehen konnte, eine Darlegung der Grundsätze der Vertreter des Sozialismus, die ihren Kongreß in Genf gehabt hatten, enthielt«. Endlich klärt uns die Auslassung des Angeklagten Swjatski vollständig über dieses geheimnisvolle französische Schriftstück auf; bei der Untersuchung fand man bei ihm ein französisch geschriebenes Blatt mit der Überschrift: »Programm der Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie«; er sagte aus: »Man hat in den Zeitungen viel von der internationalen Assoziation gesprochen, und das erregte in mir das Interesse, in ausschließlich theoretischer Absicht ihr Programm kennenzulernen« (»St. Petersb. Ztg.«, Nr. 230). Diese Aussagen beweisen, daß das geheime Programm der Allianz im Manuskript für das der Internationalen ausgegeben wurde. Die Identität des universellen revolutionären Komitees, als dessen Emissär sich Netschajew erklärte, mit dem Zentralbüro der Allianz (dem Bürger B.) ist durch die Auslassung des Hauptangeklagten Uspenski bewiesen, welcher erklärt, daß er alle Protokolle der Versammlungen des Zirkels gesammelt habe, »um aus denselben einen Bericht für Bakunin in Genf herzustellen«. Pryshow, einer der Hauptangeklagten, bekundete, daß Netschajew ihm befohlen habe, nach Genf zu gehen, um Bakunin Bericht zu überbringen.

Aus Mangel an Raum erwähnen wir hier nicht alle Lügen, Albernheiten, Schwindeleien und Gewaltstreiche des Agenten Bakunins, die durch den Prozeß aufgedeckt wurden. Wir lassen nur die auffälligsten Züge hervortreten.

Alles in dieser Organisation war Geheimnis. Dolgow sagte aus, »daß er gewünscht habe, bevor er in diese Gesellschaft eintrat, ihre Organisation und ihre Mittel kennenzulernen; Netschajew antwortete ihm, das sei ein Geheimnis und er werde es später erfahren« (»St. Petersb. Ztg.«, Nr. 198). – Wenn Mitglieder sich Fragen erlaubten, stopfte Netschajew ihnen den Mund, indem er ihnen sagte, daß nach den Statuten niemand das Recht habe, etwas zu erfahren, er habe sich denn zuvor durch irgendeine Tat ausgezeichnet[414] (Nr. 199). – »Sobald wir eingewilligt hatten, Mitglieder der Gesellschaft zu werden«, erklärt ein Angeklagter, »begann Netschajew uns mit der Macht und Gewalt des Komitees zu terrorisieren, von dem er vorgab, daß es existiere und uns lenke; er sagte, das Komitee habe seine Polizei, und wenn jemand sein Wort nicht halte oder den Befehlen von Individuen entgegenhandle, die höher ständen als unser Zirkel, das Komitee Rache nehmen würde.« Der Angeklagte bekennt, »als er die Schwindeleien Netschajews bemerkt, habe er diesem seine Absicht angekündigt, vollständig von dieser Sache zurückzutreten und zur Herstellung seiner Gesundheit nach dem Kaukasus zu gehen. Netschajew erklärte ihm, daß dies ihm nicht gestattet sei, und daß das Komitee ihn mit dem Tode bestrafen könnte, falls er die Gesellschaft zu verlassen wage; er befahl ihm gleichzeitig, in eine Versammlung zu gehen, dort von der geheimen Gesellschaft zu reden, um Anhänger zu werben, und auch das Gedicht über den Tod Netschajews zu verlesen. Da der Angeklagte sich zu gehorchen weigerte, drohte ihm Netschajew: Sie sind nicht hier zum Diskutieren, rief er aus. Sie sind verpflichtet, ohne Einwand den Befehlen des Komitees zu gehorchen.« (Nr. 198.) – Wäre dieses nur eine vereinzelte Tatsache, so könnte man sie in Zweifel ziehen, aber mehrere Angeklagte, die sich in der Unmöglichkeit befanden, sich gegenseitig zu verständigen, bezeugen genau dasselbe. – Ein anderer erklärt, daß die Mitglieder des Zirkels, als sie bemerkt hatten, wie sie getäuscht wurden, die Gesellschaft zu verlassen wünschten, aber es nicht wagten aus Furcht vor der Rache des Komitees (Nr. 198).

Ein Zeuge sagte, indem er von einem seiner angeklagten Freunde sprach: Der Angeklagte Florinski wußte nicht mehr, wie er Netschajew loswerden sollte, der ihn am Arbeiten hinderte; der Zeuge riet ihm, Moskau zu verlassen und sich nach Petersburg zurückzuziehen, aber Florinski gab ihm zur Antwort, daß Netschajew ihn ebensogut in Petersburg wie in Moskau auffinden werde, daß Netschajew den Überzeugungen einer großen Anzahl junger Leute Gewalt antue, und sie terrorisiere; was Florinski am meisten zu fürchten schien, war eine Denunziation von selten Netschajews. »Man sagte, und ich hatte es gehört, bekundete Lichutin, daß Netschajew aus dem Auslande in sehr heftigen Ausdrücken abgefaßte Briefe an seine Bekannten schickte, um sie zu kompromittieren und verhaften zu lassen. Diese Handlungsweise war ein Zug in seinem Charakter« (Nr. 186). – Jenischerlow erklärt sogar, daß er Netschajew als einen Agenten der Regierung zu betrachten anfing.

In einer kleinen Zirkelsitzung gab ein Mitglied, Klimin, dem Unbekannten, der in seiner Eigenschaft als Emissär der Sitzung beiwohnte und[415] seine Unzufriedenheit mit dem Verhalten des Zirkels ausdrückte, zur Antwort, »daß auch sie unzufrieden seien; am Anfang habe man den Angeworbenen gesagt, jede Sektion könne mehr oder weniger unabhängig handeln, ohne daß man von ihren Mitgliedern blinden Gehorsam verlange, dann aber schlug man einen ganz anderen Ton an und das Komitee machte sie förmlich zu Sklaven« (Nr. 199). – Netschajew erteilte seine Befehle auf Zetteln mit dem Stempel: »Russische Sektion der universellen revolutionären Allianz, öffentlicher Stempel«, und formulierte sie in folgender Weise: »Das Komitee befiehlt euch ...«, dieses oder jenes zu tun, hier- oder dorthin zu gehen etc.

Ein junger Offizier, der sich enttäuscht sah, will die Gesellschaft verlassen. Netschajew scheint seine Einwilligung zu geben, verlangt aber einen Loskauf. Man muß ihm einen Wechsel auf 6000 Rubel mit der Unterschrift Kolatschewskis verschaffen. Sowohl Kolatschewski wie seine Schwestern hatten im Jahre 1866, nach dem Attentat Karakosows, eine lange Haft zu erleiden gehabt. Zu der Zeit, in welcher diese Geschichte spielt, befand sich eine der Schwestern zum zweiten Male wegen politischer Angelegenheiten im Gefängnis. Die ganze Familie stand unter strengster Polizeiaufsicht, und Kolatschewski konnte in jedem Augenblick einer neuen Verhaftung gewärtig sein. Netschajew benutzte diese Lage; auf sein Geheiß lud der junge Offizier, von dem wir oben sprachen, unter einem falschen Vorwand Kolatschewski zu sich ein, knüpfte mit ihm ein Gespräch an und gab ihm Proklamationen, die derselbe aus Neugier annahm. Kaum ist jedoch Kolatschewski auf der Straße, als ein Offizier an ihn herantritt, und ihm befiehlt, ihm zu folgen; er sei Beamter der dritten Sektion (geheime Polizei) und wisse, daß Kolatschewski aufständische Proklamationen bei sich führe. Nun ist der bloße Besitz solcher Papiere schon mehr als hinreichend, um jemandem mehrjährige Untersuchungshaft zuzuziehen und ihn einer Verurteilung zur Zwangsarbeit auszusetzen, wenn derselbe das Unglück hat, bereits in einer politischen Sache kompromittiert gewesen zu sein. Der angebliche Agent der dritten Sektion fordert Kolatschewski auf, in einen Wagen zu steigen, und dort macht er ihm das Anerbieten, sich durch sofortige Unterzeichnung einer Tratte von 6000 Rubeln loszukaufen. Vor der sicheren Aussicht, sonst nach Sibirien zu wandern, unterzeichnete Kolatschewski. Tags darauf erfuhr ein anderer junger Mann, Negreskul, diese Geschichte; sein Verdacht fiel sogleich auf Netschajew; er suchte den angeblichen Agenten der dritten Sektion auf und verlangte Rechenschaft über seine Gaunerei. Netschajew leugnete alles; die Tratte wurde verborgen gehalten und fand sich erst später bei den Haussuchungen wieder.[416] Die Entdeckung der Verschwörung und die Flucht Netschajews hatten diesem das Inkasso unmöglich gemacht. – Negreskul kannte Netschajew schon lange. In Genf war er das Opfer einer seiner Gaunereien geworden; dann hatte Bakunin ihn an sich zu ziehen gesucht. Später erpreßte man von ihm hundert Rubel (Nr. 230). Schließlich wurde er durch Netschajew kompromittiert, obwohl er diesen haßte und jeder Niederträchtigkeit fähig hielt. Er wurde verhaftet und starb im Gefängnis.

Wie wir sahen, gehörte Iwanow zu den ersten von Netschajew Angeworbenen. Er war einer der beliebtesten und einflußreichsten Studenten der landwirtschaftlichen Akademie zu Moskau. Er widmete sich der Verbesserung der Lage seiner Kollegen und organisierte Unterstützungskassen und Kosthäuser, in denen armen Studierenden die Kost unentgeltlich gewährt wurde und die zugleich den Vorwand zu Zusammenkünften abgaben, in welchen man soziale Fragen diskutierte. Seine ganze freie Zeit widmete er dem Unterricht der in der Umgebung der Akademie wohnenden Bauernkinder. Seine Kollegen gaben ihm das Zeugnis, daß er alles mit Leidenschaft tat, indem er seinen letzten Groschen weggab und sich sehr oft ohne warme Nahrung behalf.

Iwanow wurde von dem Blödsinn in den gewaltsamen Proklamationen Netschajews und Bakunins betroffen. Er konnte nicht begreifen, weshalb das Komitee befahl, die »Worte«, den »Totengesang« Ogarjews, das »Volksgericht«, ja sogar Bakunins »Aufruf an den Adel«, eine ganz aristokratische Proklamation23, zu verbreiten.[417]

Er begann die Geduld zu verlieren und fragte, wo das Komitee sei, was es tue, wie es beschaffen sei, dieses Komitee, das Netschajew fortwährend recht gebe und allen anderen Mitgliedern unrecht. Er offenbarte den Wunsch, jemanden von diesem Komitee zu sehen; er hatte hierzu das Recht erlangt, da Netschajew selbst ihn zu einem Grade erhoben, der dem eines Mitgliedes eines Nationalkomitees der geheimen Allianz entsprach. Bei dieser Gelegenheit war es, daß sich Netschajew aus der Verlegenheit zog, indem er die oben erzählte Komödie mit dem Emissär der Genfer Internationalen aufführte.

Eines Tages befahl Netschajew, das für die Kasse zur gegenseitigen Unterstützung der Studenten bestimmte Geld an das Komitee auszuliefern. Dagegen protestierte Iwanow und es entspann sich ein Streit. Andere Kameraden bewegen ihn, sich der Entscheidung des Komitees zu unterwerfen; sie seien ja den Statuten beigetreten, welche diese Unterwerfung geboten. Ihrem Drängen gab Iwanow nach und ließ es widerwillig geschehen. Von diesem Augenblick sann Netschajew, wie er sich dieses Mannes entledigen könne, den er wahrscheinlich als doktrinären Revolutionär betrachtete, der aus der Welt geschafft werden müsse. Er knüpfte mit Uspenski theoretische Gespräche an über die Bestrafung, die Vernichtung treuloser Mitglieder, die durch ihre Widersetzlichkeit die ganze ungeheuere geheime Organisation kompromittieren und vernichten könnten.

Die Art und Weise, wie Netschajew die geheime Organisation lenkte, war allerdings geeignet, Zweifel an deren ernsthaften Charakter hervorzurufen. Die Sektionen mußten regelmäßig Sitzungen halten, um die akademischen Namensverzeichnisse der Studierenden zu prüfen und diejenigen zu bezeichnen, deren Heranziehung man wünschenswert erachtete, sowie um Mittel zu finden, wie man Geld schaffe. Zu diesen Mitteln gehörten die Subskriptionslisten für »Studenten, welche gelitten haben«, d.h. die im Verwaltungswege verbannt waren; der Ertrag dieser Listen ging gradeswegs in die Tasche des Komitees Netschajew. Man mußte sich allerlei Kostüme verschaffen, die an sicherm Orte aufbewahrt wurden und später Netschajew bei seiner Flucht zur Verkleidung dienten. Die Hauptbeschäftigung jedoch[418] bestand im Abschreiben des »Totengesanges« und der oben zitierten Proklamationen. Die Verschworenen mußten alles in ihren Versammlungen Verhandelte möglichst genau aufschreiben, und Netschajew drohte ihnen mit dem Komitee, das überall seine Spione habe, falls sie etwas zu verbergen wagten. Jeder von ihnen mußte schriftliche Berichte über alles, was er seit der letzten Versammlung getan, in seinen Zirkel mitbringen, und aus all diesen Berichten wurde ein Auszug gemacht, um ihn an Bakunin zu schicken.

Diese ganze kindische und inquisitorische Handlungsweise ließ Iwanow sogar an der Existenz des Komitees und an der so sehr gerühmten Macht der Organisation zweifeln; er begann zu merken, daß alles sich auf sinnlose Ausbeutung und riesenhafte Lügen beschränke, und er gestand seinen Vertrauten, daß, wenn die Sache nicht in Gang käme und man sie mit nichts weiter als mit Spielereien beschäftige, er sich von Netschajew trennen und selbst eine ernstliche Organisation gründen würde.

Grade damals ergriff Netschajew eine energische Maßregel: Er befahl, seine Proklamationen in den Sälen der Studentenkosthäuser anzuschlagen. Iwanow sah in der Anheftung dieser Proklamationen den Schluß der Kosthäuser, das Verbot der Versammlungen, die Zerstreuung der besten Studenten. Er widersetzte sich dieser Maßregel. (Die Verköstigungsanstalt der Studenten wurde denn auch wirklich geschlossen, und alle in deren Verwaltung gewählte Delegierte wurden verbannt.) Hierüber entspann sich der Streit; Netschajew wiederholte wieder seine stereotype Phrase: »Es ist der Befehl des Komitees!«

Iwanow ist in höchster Verzweiflung. Am 20. November 1869 erscheint er bei einem Mitgliede der Sektion und erklärt demselben, daß er aus jener Gesellschaft austrete; Pryshow teilt diese Erklärung Uspenski mit, der seinerseits eiligst Netschajew benachrichtigt. Nach einigen Stunden kommen diese drei Personen bei Kusnezow zusammen, bei dem auch Nikolajew wohnt. Dort erklärt Netschajew, daß man Iwanow wegen seiner Widersetzlichkeit gegen die Befehle des Komitees strafen und sich seiner entledigen müsse, um ihn zu hindern, ihnen weiteren Schaden zuzufügen. Kusnezow, der vertraute Freund Iwanows, scheint die Absicht Netschajews nicht zu verstehen; da erklärt dieser, man müsse Iwanow töten. Pryshow ruft hierauf aus, indem er sich an Kusnezow wendet: Netschajew ist verrückt, er will Iwanow töten; man muß ihn daran hindern. Netschajew macht ihrem Bedenken durch seine gewöhnliche Phrase ein Ende: »Wollt ihr euch auch gegen die Befehle des Komitees empören? Wenn man ihn[419] nicht anders töten kann, so werde ich mit Nikolajew diese Nacht auf sein Zimmer gehen und ihn dort erdrosseln.« Dann macht er den Vorschlag, Iwanow nachts in eine Grotte im Park der Akademie zu locken, unter dem Vorwande, eine daselbst seit längerer Zeit verborgen gehaltene Presse auszugraben, und ihn dort zu ermorden.

So gab Netschajew selbst in diesem entscheidenden Augenblick der Hingebung Iwanows die Ehre. Er war überzeugt, daß Iwanow trotz seines Austritts ihm bei der Ausgrabung der Presse zur Hülfe kommen werde, daß er nicht fähig sei, ihn zu verraten, denn wenn er dieses beabsichtigte, so hätte er es vor seiner Austrittserklärung oder unmittelbar nach derselben getan. Hätte Iwanow ihn bei der Polizei denunzieren wollen, so hatte er jetzt die Gelegenheit, ihn bei offener Tat abfassen zu lassen. Aber im Gegenteil, Iwanow war glücklich, endlich einen positiven Beweis für die Existenz dieser Organisation zu finden, ein faßbares Zeichen, daß sie irgendwelche Aktionsmittel besitze und wären es auch nur typographische Lettern. Er vergaß alle so oft von Netschajew gegen die Treulosen ausgestoßenen Drohungen; eiligst verließ er einen Freund, bei dem er seinen Tee nahm und von dem ihn Nikolajew auf Befehl Netschajews abholte, und kam der Aufforderung nach.

In der Dunkelheit der Nacht nähert sich Iwanow ohne Argwohn der Grotte. Plötzlich ertönt ein Schrei; jemand springt von hinten auf ihn. Ein schrecklicher Kampf beginnt, man hört nur das Heulen Netschajews und das Röcheln seines Opfers, das er mit den Händen würgte; ein Schuß fällt und Iwanow ist tot. Die Kugel aus Netschajews Revolver war ihm durch den Kopf gegangen. »Schnell Stricke, Steine!« ruft Netschajew, indem er in den Taschen des Ermordeten wühlt, um das Geld und die Papiere herauszunehmen. Dann wirft man die Leiche in einen Teich.

Die Mörder kehren zu Kusnezow zurück und ergreifen dort Maßregeln, um die Spuren ihres Verbrechens zu verbergen. Sie verbrennen das blutige Hemd Netschajews. Alle Mitschuldigen sind düster und niedergeschlagen. Plötzlich ertönt ein zweiter Revolverschuß und eine Kugel saust Pryshow am Ohre vorbei. Netschajew entschuldigt sich: »Er habe Nikolajew zeigen wollen, wie sein Revolver gehe«. Die Zeugen bekundeten einmütig, daß dies ein neues Attentat war. Netschajew wollte Pryshow töten, weil dieser vormittags gegen den Mord Iwanows zu protestieren gewagt.

Unmittelbar darauf verläßt Netschajew eiligst Moskau und begibt sich mit Kusnezow nach Petersburg, indem er Uspenski überläßt, in Moskau das Weitere zu besorgen. In Petersburg stellt er sich, als ob er sich noch immer mit seiner Organisation beschäftige; doch zu seiner großen Verwunderung[420] findet Kusnezow, daß dort noch weniger Organisation vorhanden ist als in Moskau. Da wagt er endlich Netschajew zu fragen: »Wo ist denn das Komitee? Bist du es etwa?« – Noch leugnet Netschajew und versichert, das Komitee existiere. Er kehrt nach Moskau zurück und gesteht Nikolajew, daß, da Uspenski bereits verhaftet, dies allen übrigen in kurzer Zeit auch bevorstehe, und daß »er nicht wisse, was er tun solle«. Da entschließt sich Nikolajew, sein Getreuester, ihn zu fragen, ob denn das wunderbare Komitee in Wirklichkeit existiere oder ob es aus Netschajew allein bestehe. – »Ohne geradeaus diese Frage zu beantworten, sagte er mir, alle Mittel seien erlaubt, um die Leute in solch ein Unternehmen hineinzuziehen, diese Regel werde auch im Auslande gehandhabt. Bakunin befolge sie ebenso wie andere, und wenn solche Männer in dieser Weise handeln, dann sei es natürlich, daß er, Netschajew, ebenso handle« (Nr. 181). Darauf heißt er Nikolajew mit Pryshow nach Tula gehen, um einem von früher her mit Netschajew befreundeten Arbeiter einen Paß abzuschwindeln. Später begibt er sich selbst nach Tula, wo er Frau Alexandrowskaja bittet, ihn nach Genf zu begleiten; es sei dies für ihn durchaus notwendig.

Frau Alexandrowskaja war seit den Unruhen von 1861 und 1862 stark kompromittiert; man hatte sie sogar in Haft genommen, bei welcher Gelegenheit ihre Handlungsweise sehr viel zu wünschen übrigließ. In einem Anfall von Offenherzigkeit hatte sie den Richtern ein schriftliches Geständnis abgelegt und dies Geständnis hatte viele Personen kompromittiert. Später wurde sie in einer Provinzialstadt unter Polizeiaufsicht interniert. Da sie keinen Paß zu erhalten fürchtete, verschaffte ihr Netschajew einen, man weiß nicht wie. Man möchte fragen, warum Netschajew die Begleitung einer Frau suchte, deren Gesellschaft allein genügen konnte, seine Verhaftung an der Grenze herbeizuführen. Doch er gelangte unter Deckung der Frau Alexandrowskaja gesund und wohlbehalten nach Genf, und während die von ihm getäuschten armen Teufel in den Kerker geworfen wurden, fabrizierten er und Bakunin die zweite Nummer des »Volksgerichts«. Bakunin fühlte sich aufs höchste in seinem Stolze geschmeichelt, als er im »Journal de Genève« von der Verschwörung Netschajew las, deren Leitung man ihm zuschrieb; er vergaß dabei, daß sein »Volksgericht« in Moskau gedruckt zu sein vorgab, und füllte eine ganze Seite darin mit dem Artikel des »Journal de Genève« in französischer Sprache. Kaum war das Blatt fertig, so erhielt Frau Alexandrowskaja den Auftrag, es nebst andern Proklamationen nach Rußland einzuschmuggeln. An der Grenze erwartete ein Agent der dritten Sektion die Frau Alexandrowskaja, nahm ihr das Paket ab und verhaftete sie. Darauf stellte sie ihm eine Liste mit Namen zu, die nur[421] Bakunin allein bekannt sein konnten. – Einer der Angeklagten in der Affäre Netschajew, und zwar einer seiner Vertrautesten, bekannte vor Gericht, daß »er vorher Bakunin für einen Ehrenmann gehalten habe, und daß er nicht begreifen könne, wie er und andere in so feiger Weise jene Frau der Verhaftung hätte aussetzen können«.

Wenn Bakunin sich auch nicht verbunden hielt, selbst nach Rußland zu gehen, um die große Revolution, deren bevorstehenden Ausbruch er stets voraussagte, in eigener Person zu leiten, so ließ er doch in Europa arbeiten, als hätte er »den Teufel im Leibe«. Der »Progrès« zu Locle, das schweizerische Organ der Allianz, veröffentlichte lange Auszüge aus dem »Volksgericht«. Guillaume strich die großen Erfolge der großen russischen Sozialisten heraus und erklärte, daß sein Enthaltungsprogramm mit dem der großen russischen Sozialisten identisch sei.24 Als auf dem Kongreß zu La Chaux-de-Fonds Utin die Infamien Netschajews zu enthüllen versuchte, schnitt ihm Guillaume das Wort ab, indem er sagte, es sei Spionage treiben, wenn man von jenen Männern rede. Bakunin selbst schrieb in der »Marseillaise«, als ob er eben zurückgekehrt sei »von einer langen Reise nach fernen Ländern, wo freie Blätter keinen Eingang finden« damit man glauben sollte, die Dinge nähmen in Rußland eine so revolutionäre Wendung, daß seine Anwesenheit dort notwendig gewesen.

Wir kommen jetzt zur Lösung des Knotens in der Tragikomödie der russischen Allianz. Herzen hatte im Jahre 1859 von einem jungen Russen ein Vermächtnis von 25000 Franken erhalten, um damit in Rußland revolutionäre Propaganda zu machen. Herzen, der diese Summe nie hatte an jemanden ausliefern wollen, ließ sich doch von Bakunin überreden; es gelang diesem, das Geld unter dem Vorwand zu erhalten, daß Netschajew der Vertreter einer weitverzweigten und mächtigen geheimen Organisation sei. Netschajew glaubte sich nun berechtigt, seinen Anteil zu verlangen; doch die beiden internationalen Brüder, die der Mord Iwanows nicht hatte entzweien können, gerieten bei der Geldfrage in Streit. Bakunin weigerte sich, das Geld zu geben. Netschajew verließ Genf und gab im Frühjahr 1870 in London ein russisches Blatt heraus, »Die Kommune« (Obschtschina), worin er öffentlich von Bakunin den Rest des Kapitals verlangte, das er von[422] weiland Herzen erhalten habe. Hieraus sehen wir, daß die internationalen Brüder »nie einander angreifen, noch ihre Streitigkeiten vor dem Publikum ausmachen«.


Der erste Artikel der zweiten Nummer des »Volksgerichts« enthält wieder einen Totengesang in poetischer Prosa auf den ewig toten und ewig lebenden Netschajew. Diesmal war der Held erdrosselt worden von Gendarmen, die ihn nach Sibirien schleppten. Er war in Tambow verhaftet worden, als Arbeiter verkleidet, während er im Wirtshause saß. Diese Verhaftung hatte in Regierungskreisen außerordentliche Bewegung hervorgerufen. Man sprach nur vom »verkleideten Netschajew ... von Denunziationen ... von geheimen Gesellschaften ... von Bakunisten ... von Revolution«. Beim Tode Netschajews schickte der Gouverneur von Perm ein Telegramm nach Petersburg; dieses Telegramm wird wörtlich zitiert. Ein anderes, ebenso wörtlich zitiertes Telegramm wird an die dritte Sektion geschickt, und das »Volksgericht« weiß ganz genau, daß »der Polizeichef nach Empfang dieses Telegramms von seinem Stuhl aufsprang und den ganzen Abend ein hämisches Lächeln aufsetzte«. So starb, zum zweiten Male, Netschajew.

Der Mord Iwanows wird zugegeben, aber man nennt ihn

»eine Tat der Rache seitens der Gesellschaft, verübt an einem Mitgliede wegen Abweichung von seiner Pflicht. Die strenge Logik der wahren Arbeiter am Werke darf nicht zurückschrecken vor einer Tat, die zum Erfolge des Werkes führt, und noch weniger vor Taten, welche das Werk retten und ihr Verderben abwenden.«

Der »Erfolg des Werks« in den Augen Bakunins war die Verhaftung von achtzig jungen Leuten.

Der zweite Artikel ist betitelt: »Ja, wer nicht für uns ist, der ist wider uns«, und enthält eine Verherrlichung des politischen Mordes. Das Schicksal Iwanows, der nicht genannt wird, wird allen Revolutionären angedroht, die nicht der Allianz anhängen:

»Der entscheidende Augenblick ist gekommen ... die kriegerischen Operationen zwischen beiden Lagern haben begonnen ... es ist nicht mehr möglich, neutral zu bleiben; hierbei in der Mitte stehen wollen, hieße sich zwischen zwei feindliche Heere stellen, im Augenblick, wo diese das Feuer eröffnen; es hieße, sich umsonst dem Tode aussetzen, unter den Kartätschen der einen oder der anderen fallen, ohne Möglichkeit der Verteidigung. Es hieße, entweder die Knutenhiebe und Martern der dritten Sektion auf sich nehmen oder unter den Kugeln unserer Revolver fallen.«

Folgt dann eine anscheinend ironische Danksagung an die russische Regierung wegen »ihrer Mitwirkung an der Entwicklung und dem[423] beschleunigten Fortgange unseres Werks, das sich mit geflügeltem Schritt seiner so sehr ersehnten Vollendung nähert«. Allerdings. Im Augenblick, wo unsere beiden Helden der Regierung dankten wegen ihrer Beschleunigung der »so sehr ersehnten Vollendung«, waren sämtliche Mitglieder ihrer vorgeblichen geheimen Gesellschaft verhaftet. – Daran schließt sich ein neuer Aufruf. Ihre »Arme sind zur Aufnahme aller frischen und ehrenhaften Kräfte geöffnet«, aber diese werden zugleich unterrichtet, daß, einmal von dieser Umarmung umschlungen, sie sich allen Anforderungen der geheimen Gesellschaft unterwerfen müssen, »daß jede Absage, jeder Rücktritt von der Gesellschaft, der wissentlich aus Mangel an Glauben an die Wahrheit und Gerechtigkeit gewisser Prinzipien geschieht, auch zur Ausstreichung aus der Liste der Lebenden führt«. Sodann machen unsere beiden Helden sich lustig über die Verhafteten, es seien das nur kleine Liberale, die wirklichen Mitglieder der Organisation werden durch die geheime Gesellschaft geschützt, welche ihre Verhaftung nicht zulassen würde.

Der dritte Artikel führt die Überschrift: »Hauptgrundlagen der sozialen Ordnung der Zukunft«. Dieser Artikel beweist, daß, wenn gewöhnliche Sterbliche für jedes Nachdenken über die soziale Organisation der Zukunft wie für ein Verbrechen bestraft werden, dies nur geschieht, weil die Häupter bereits alles ins reine gebracht haben.

»Das Ende der gegenwärtigen Ordnung und die Erneuerung des Lebens mit Hülfe der neuen Prinzipien kann nur erzielt werden durch die Konzentrierung aller Mittel der sozialen Existenz in den Händen unseres Komitees und durch die Proklamierung der Verpflichtung zur physischen Arbeit für alle.

Das Komitee verkündet unmittelbar nach dem Umsturz der gegenwärtigen Einrichtungen, daß alles Eigentum Gemeingut ist; es befiehlt die Gründung von Arbeitergesellschaften (Artels) und veröffentlicht gleichzeitig von Sachverständigen angefertigte statistische Tabellen, welche die an einem gegebenen Orte notwendigsten Industriezweige angeben, sowie diejenigen, welche daselbst auf Hindernisse stoßen könnten.

Während einer bestimmten Frist, ausgefüllt durch die revolutionäre Umwandlung und die dieselbe unvermeidlich begleitenden Störungen, muß jedes Individuum in irgendein selbstgewähltes Artel eintreten ... Alle diejenigen, welche ohne genügenden Grund in ihrer Vereinzelung beharren und sich keiner Arbeitergruppe anschließen, haben kein Recht der Zulassung zu den gemeinsamen Kosthäusern, Schlafstellen oder zu irgendwelchen anderen Gebäuden, welche zur Befriedigung der verschiedenen Bedürfnisse der Arbeiterbrüder, oder zur Aufbewahrung der für die verschiedenen Zweige der neubegründeten Arbeitergesellschaft dienenden Produkte, Materialien, Lebensmittel oder Werkzeuge bestimmt sind; mit einem Wort, wer ohne genügenden Grund[424] keinem Artel beigetreten ist, bleibt ohne Existenzmittel. Alle Wege und Mittel des Verkehrs bleiben für ihn verschlossen; es gibt für ihn keinen anderen Ausweg als Arbeit oder Tod.«

Jedes Artel wählt seinen Taxator (otzienschtschik), der den Gang der Arbeit regelt, über die Produktion und Konsumtion sowie über die Produktivität jedes Arbeiters Buch führt und zwischen dem Artel und dem gemeinschaftlichen Kontor des Orts vermittelt. Das Kontor besteht aus Mitgliedern, die von den Artels des Ortes gewählt werden; es bewirkt den Austausch zwischen den Artels, führt die Verwaltung aller gesellschaftlichen Anstalten (Schlafräume, Kosthäuser, Schulen, Hospitäler) und leitet alle öffentlichen Arbeiten:

»Alle gemeinschaftlichen Arbeiten stehen unter der Verwaltung des Kontors, während alle individuellen Arbeiten, für welche es besonderer Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit bedarf, von den Artels gesondert ausgeführt werden.«

Dann kommt ein langes Reglement über Erziehung, Arbeitsstunden, Säugung der Kinder, Erteilung von Arbeitserlaß an Erfinder usw.

»Mit der vollständig öffentlichen und der allgemeinen Kenntnis unterliegenden Tätigkeit jedes einzelnen verschwindet spurlos und für immer jeder Ehrgeiz, wie man ihn jetzt versteht, und jede Lüge ... Es wird dann ein jeder bestrebt sein, soviel wie möglich für die Gemeinschaft zu produzieren und sowenig wie möglich zu konsumieren, und der ganze Stolz, der ganze Ehrgeiz des Arbeiters wird in dem Bewußtsein seiner sozialen Nützlichkeit bestehen.«

Ein prachtvolles Probestück von Kasernenkommunismus! Da haben wir alles, gemeinsame Schlafräume und Kosthäuser, Taxatoren und Kontors zur Bevormundung der Erziehung, der Produktion, der Konsumtion, mit einem Worte jeder sozialen Tätigkeit, und hoch über dem allem die Oberleitung unseres namenlosen und unbekannten Komitees. Reiner »Antiautoritarismus« vom reinsten Wasser!

Um diesem blödsinnigen Organisationsplan den Anschein einer theoretischen Grundlage zu geben, wird der Überschrift des Artikels selbst folgende Anmerkung angehängt:

»Wer die vollständige theoretische Entwicklung unserer Hauptgrundsätze kennenlernen will, findet sie in der von uns herausgegebenen Schrift: ›Manifest der kommunistischen Partei‹.«

Es findet sich wirklich die russische Übersetzung des (deutschen) Manifestes der kommunistischen Partei vom Jahre 1847 (Preis ein Franken) in jeder Nummer des »Kolokol« vom Jahre 1870 neben dem Aufruf Bakunins »An die Offiziere der russischen Armee« und den beiden Nummern[425] des »Volksgerichts« angekündigt. Derselbe Bakunin, der dieses Manifest mißbraucht, um seinen tatarischen Phantasien in Rußland Ansehen zu verschaffen, ließ dasselbe durch die westeuropäische Allianz als eine äußerst ketzerische Schrift verschreien, welche die unheilvollen Lehren des deutschen autoritären Kommunismus predige (siehe die Resolution der Konferenz von Rimini, die Rede Guillaumes im Haag, das »Jura-Bulletin« Nummer 10 und 11, die »Federacion« zu Barcelona etc.).

Jetzt, da jedermann die Rolle kennt, zu welcher »unser Komitee« bestimmt ist, wird man leicht jenen Konkurrenzneid gegen den Staat und gegen jede Zentralisation der Arbeiterkräfte begreifen. In der Tat, solange die Arbeiterklasse ihre eigenen Vertretungsorgane hat, werden die unter dem Inkognito »unseres Komitees« revolutionierenden Herren Bakunin und Netschajew es nicht dahin bringen, die Inhaber und Verwalter des gesellschaftlichen Reichtums zu werden und die Früchte jenes erhabenen Ehrgeizes zu ernten, den sie – anderen einzuflößen brennen: viel zu arbeiten, um wenig zu verzehren!

15

Petersburger (russische) Zeitung, 1871, Nr. 180, 181, 187 etc.

16

Man muß hierbei bemerken, daß diese »Worte« gerade zur Zeit der Verfolgungen und Verurteilungen veröffentlicht wurden, als die Jugend ihr Möglichstes tat, ihre Bewegung unbedeutend erscheinen zu lassen, und die Polizei alles Interesse daran hatte, dieselbe zu übertreiben.

17

Die dritte Sektion der kaiserlich russischen Kanzlei ist das Zentralbüro der geheimen politischen Polizei in Rußland.

18

Um seine Leser zu täuschen, vermengt Bakunin die Häupter der Volksaufstände im 17. und 18. Jahrhundert mit den heutigen russischen Räubern und Dieben. Was diese letzteren betrifft, so dürfte das Buch Flerowskis »Lage der Arbeiterklasse in Rußland« die romantischsten Seelen über diese armen Teufel enttäuschen, aus denen Bakunin die heilige Schar der russischen Revolution zu bilden vorhat. Das einzige Räubertum – wohl zu verstehen, außerhalb der Regierungssphäre –, das in Rußland noch im Großen betrieben wird, ist der Pferdediebstahl, der zu einem Handelsunternehmen aufgestiegen ist, betrieben von Kapitalisten, deren bloße Werkzeuge und Opfer die »Revolutionäre ohne Phrase« sind.

19

Bakunin und Netschajew übersetzen immer: Volksjustiz, doch bedeutet das russische Wort »rasprava« nicht Justiz, sondern Gericht, Strafvollstreckung oder besser noch Rache, Vergeltung.

20

Alle die Verschwörung Netschajew betreffenden Tatsachen, die wir zitieren, sind den in der russischen »St. Petersburger Zeitung« veröffentlichten Prozeßberichten entnommen. Wir geben die Nummern des Blattes an, aus denen wir zitieren.

21

Wir müssen hier bemerken, daß in der russischen Sprache die Worte Assoziation, Union, Allianz (obschtschestvo, sojuz, tovarischtschestvo) mehr oder weniger synonym sind und ohne Unterschied gebraucht werden. Ebenso wird das Wort: International meistens mit allgemein (vsemirnyi) übersetzt. In der russischen Presse wird also die »Internationale Assoziation« oft mit Worten übersetzt, die ebensogut auch die »allgemeine oder universelle Allianz« bedeuten könnten. Durch Benutzung dieser Sprachverwirrung gelang es Bakunin und Netschajew, den Namen unserer Assoziation auszubeuten und fast hundert junge Leute ins Unglück zu stürzen.

22

Von den russischen Flüchtlingen war niemand nach Rußland zurückgekehrt, und in ganz Europa wären kaum sechzehn russische politische Flüchtlinge aufzutreiben.

23

Wir geben hier einige Stellen aus der im Druck erschienenen Proklamation Bakunins: »Aufruf an den russischen Adel«: »Was für Privilegien haben wir dafür empfangen, daß wir während der ganzen Hälfte des 19ten Jahrhunderts die Stütze des oft in seinen Grundfesten erschütterten Thrones gewesen, daß wir 1848, während der über ganz Europa entfesselten Stürme des Volkswahnsinns, durch unsere Großtaten das russische Reich vor den es bedrohenden sozialistischen Utopien bewahrt haben? ... Was hat man uns dafür gewährt, daß wir das Reich vor der Zerstückelung retteten, daß wir in Polen die Flammen des Brandes, der ganz Rußland zu verzehren drohte, erstickten, daß wir bis zu diesem Augenblick ohne Schonung unserer Kräfte und mit einem Mute sondergleichen an der Vernichtung der revolutionären Elemente in Rußland arbeiteten? – Ging nicht aus unserem Schoße Michail Murawjow hervor, dieser mutvolle Mann, den Alexander II. selbst trotz seiner Geistesschwäche den Retter des Vaterlandes nannte? Für all diese unschätzbaren Dienste werden wir alles dessen beraubt, was wir besitzen ... Unser gegenwärtiger Aufruf ist die Kundgebung einer großen Mehrheit des russischen Adels, welcher seit langer Zeit schon in organisierter Bereitschaft dasteht ... Wir fühlen in unserem Rechte unsere Macht und werfen kühn dem Despoten, dem kleinen deutschen Prinzen Alexander II. Saltykow-Romanow den Handschuh ins Gesicht und fordern ihn zu edlem, ritterlichem Kampfe heraus, der im Jahre 1870 zwischen den Nachkommen Ruriks und der Partei des unabhängigen russischen Adels beginnen soll.«

»Murawjow, dieser mutvolle Mann«, ist niemand anders, als der Henker Polens.

24

Im Jahre 1868, also noch nicht zwei Jahre vor dem Kongreß zu La Chaux-de-Fonds, auf welchem die Allianzisten ihre Doktrin von der politischen Enthaltung sanktionieren ließen, schrieb Bakunin, indem er die politische Enthaltung der französischen Arbeiter tadelte, in der »Démocratie« von Chassin: »Die politische Enthaltung ist ein Blödsinn, von Schurken erfunden, um Narren zu täuschen.«

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 18, S. 396-426.
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