2. Das panslawistische Manifest Bakunins

[444] Am 3. März 1861 hatte Alexander II. unter dem Beifallsgejubel des gesamten liberalen Europas die Aufhebung der Leibeigenschaft proklamiert. Die Bemühungen Tschernyschewskis und der revolutionären Partei, die Aufrechterhaltung des Gemeindebesitzes an Grund und Boden durchzusetzen, hatten zwar Erfolg gehabt, aber in so wenig befriedigender Weise, daß Tschernyschewski bereits vor der Proklamierung der Aufhebung der Leibeigenschaft traurig eingestand:

»Hätte ich gewußt, daß die von mir aufgeworfene Frage eine solche Lösung erhalten würde, so wäre mir eine Niederlage lieber gewesen als solch ein Sieg. Ich hätte es vorgezogen, daß man gehandelt hätte, wie es die erste Absicht war, ohne irgendwie auf unsere Forderungen Rücksicht zu nehmen.«

In der Tat war der Emanzipationsakt nur ein Taschenspielerstreich. Das Land wurde zum großen Teil seinen wirklichen Besitzern genommen und das System des Rückkaufs des Bodens durch die Bauern proklamiert. Aus diesem Akt zaristischer Täuschung schöpften Tschernyschewski und seine Partei ein neues unwiderlegliches Argument gegen die kaiserlichen Reformen. Der sich zur Fahne Herzens schlagende Liberalismus brüllte aus Leibeskräften: »Du hast gesiegt, Galiläer!« Galiläer bedeutete in ihrem[444] Munde Alexander II. – Diese liberale Partei, deren Hauptorgan Herzens »Kolokol« war, wußte seit diesem Augenblick nichts als das Lob des Zaren, des Befreiers, zu singen, und um die öffentliche Aufmerksamkeit von den Klagen und Einsprüchen abzulenken, die jener volksfeindliche Akt hervorrief, ersuchte sie den Zaren, sein Emanzipationswerk fortzusetzen und einen Kreuzzug zu beginnen zur Befreiung der unterdrückten slawischen Völker, zur Verwirklichung des Panslawismus.

Im Sommer 1861 entlarvte Tschernyschewski in der Revue »Der Zeitgenosse« (Sovremennik) die Umtriebe der Panslawisten und sagte den slawischen Völkern die Wahrheit über den Stand der Dinge in Rußland sowie über die interessierte Reaktionswut ihrer falschen Freunde, der Panslawisten. Da glaubte Bakunin, eben von Sibirien zurückgekehrt, den Augenblick gekommen, um sich vorzuschieben. Er schrieb den ersten Teil eines langen Manifestes, veröffentlicht als Beiblatt zum »Kolokol« vom 15. Februar 1862 unter dem Titel: »An die russischen, polnischen und sämtliche slawischen Freunde.« Der zweite Teil ist niemals erschienen.

Das Manifest führt sich ein mit folgender Erklärung:

»Ich habe mir den Mut des allerobernden Gedankens bewahrt, und in meinem Herzen, meinem Willen und meiner Leidenschaft bin ich den Freunden, der großen gemeinsamen Sache, mir selbst treu geblieben ... Ich erscheine jetzt vor euch, meine alten erprobten Freunde, und vor euch jungen Freunde, die ihr in demselben Gedanken, in demselben Willen lebt wie wir, und ich bitte euch: nehmt mich von neuem in eure Mitte auf; möge es mir vergönnt sein, unter euch und zusammen mit euch den ganzen Rest meines Lebens zu weihen dem Kampfe für die russische Freiheit, für die polnische Freiheit, für die Freiheit und Unabhängigkeit aller Slawen.«

Wenn Bakunin diese demütige Bitte an seine alten und jungen Freunde richtet, so tut er es, weil es

»ein schlimmes Ding ist, seine Tätigkeit in fremdem Lande auszuüben. Ich habe dies nur zu sehr erprobt in den Revolutionsjahren; weder in Frankreich, noch in Deutschland habe ich Wurzel schlagen können. Und so widme ich auch ferner der fortschrittlichen Bewegung der gesamten Welt meine glühende Sympathie; um jedoch den Rest meines Lebens nicht zu vergeuden, muß ich von jetzt an meine direkte Tätigkeit auf Rußland, Polen und die Slawen beschränken. Diese drei heute getrennten Welten sind unzertrennbar in meiner Liebe und meinem Glauben.«

Im Jahre 1862, also vor elf Jahren, im Alter von 51 Jahren bekannte der große Anarchist Bakunin den Staatskultus und den panslawistischen Patriotismus.

[445] »Bis zur Gegenwart hat das großrussische Volk, man kann sagen ausschließlich, von dem nach außen gerichteten Leben des Staates gelebt. Wie drückend auch immer seine Lage nach innen sein mochte, wie sehr diese es auch zur äußersten Verarmung und Sklaverei führte, trotzdem blieb es erfüllt von Liebe für die Einheit, Größe und Macht Rußlands und für diese Prinzipien war es zu allen Opfern bereit. So entwickelte sich im großrussischen Volke das Staatsbewußtsein und ein Patriotismus, nicht der Phrase, sondern der Tat. Daher erhielt sich unter allen slawischen Nationalitäten allein das großrussische Volk unversehrt, es allein erhielt sich aufrecht in Europa und ließ dieses seine Macht fühlen ... Glaubt nicht, daß es den berechtigten Einfluß und die politische Macht verlieren werde, die es nur durch Kämpfe errungen hat, Kämpfe, geführt durch drei Jahrhunderte und mit der Selbstverleugnung des Märtyrers, nur um den unversehrten Bestand seines Staates zu retten ... Verweisen wir die Tataren nach Asien und die Deutschen nach Deutschland, und seien wir ein freies, ein rein russisches Volk ...«

Zur besseren Beglaubigung dieser panslawistischen Propaganda, die im Kreuzzuge gegen die Tataren und Deutschen gipfelt, verweist Bakunin seine Leser auf den Kaiser Nikolaus:

»Man sagt, daß selbst der Kaiser Nikolaus kurz vor seinem Tode, als er sich anschickte, Österreich den Krieg zu erklären, alle österreichischen und türkischen Slawen, die Ungarn und die Italiener zum allgemeinen Aufstande aufrief. Er selbst hatte den orientalischen Krieg gegen sich heraufbeschworen und, um sich zu verteidigen, hätte er sich fast aus einem despotischen Kaiser in einen revolutionären verwandeln mögen. Man sagt, daß seine Proklamationen an die Slawen, darunter ein Aufruf an die Polen, bereits unterzeichnet waren. Trotz all seines Hasses gegen Polen begriff er, daß ohne dasselbe der slawische Aufstand unmöglich war ... er bezwang seine Abneigung bis zu dem Grade, daß er bereit war, die unabhängige Existenz Polens anzuerkennen, aber ... nur jenseits der Weichsel.«

Derselbe Mann also, der seit 1868 in Internationalismus macht, predigte noch 1862 den Racenkrieg im Interesse der russischen Regierung. Der Panslawismus ist eine Erfindung des Petersburger Kabinetts und hat keinen andern Zweck als den, die europäischen Grenzen Rußlands nach Westen und Süden vorzuschieben. Da man aber nicht wagt, den österreichischen, preußischen und türkischen Slawen ihren Beruf anzukündigen, im großen russischen Reich aufzugehen, stellt man ihnen Rußland als die Macht dar, welche sie vom fremden Joche befreien und in einer großen freien Föderation vereinigen wird. Der Panslawismus ist demnach verschiedener Schattierungen fähig, vom Panslawismus des Kaisers Nikolaus bis zu dem Bakunins; aber alle laufen sie auf dieselbe Tendenz hinaus und stehen[446] im Grunde in inniger Harmonie, wie die eben angeführte Stelle beweist. Das Manifest, das uns jetzt beschäftigen wird, läßt hierüber keinen Zweifel mehr.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 18, S. 444-447.
Lizenz:
Kategorien: