3. Bakunin und der Zar

[447] Wir haben gesehen, daß in Rußland, bei Gelegenheit der Aufhebung der Leibeigenschaft der Krieg zwischen der liberalen und der revolutionären Partei ausgebrochen war. Um Tschernyschewski, den Führer der revolutionären Partei, reihte sich eine ganze Phalanx Publizisten, eine zahlreiche Gruppe Offiziere und die Jugend der Hochschulen. Die liberale Partei war vertreten durch Herzen, einige Panslawisten und eine große Anzahl friedlicher Reformatoren und Bewunderer Alexanders II. Die Regierung gewährte der liberalen Partei ihre Unterstützung. Im März 1861 hatte die Jugend der russischen Universitäten sich energisch für die Befreiung Polens ausgesprochen; im Herbst 1861 hatte sie versucht, dem Staatsstreiche Widerstand zu leisten, der mittelst disziplinarischer und fiskalischer Maßregelungen den armen Studierenden (über zwei Drittel der Gesamtzahl) die Möglichkeit rauben sollte, am höheren Unterricht teilzunehmen. Die Regierung behandelte ihre Proteste als Erneute; in Petersburg, Moskau, Kasan werden Hunderte junge Leute ins Gefängnis geworfen, von den Universitäten vertrieben oder nach dreimonatlicher Haft ausgestoßen. Und aus Furcht, daß diese jungen Leute die Mißstimmung der Bauern verschärfen könnten, verbot eine Entscheidung des Staatsrats den Ex-Studenten jeden Zutritt zu öffentlichen Ämtern auf dem Lande. Die Verfolgungen hörten hiermit nicht auf. Man verbannt Professoren wie Pawlow; man schließt die von den aus den Universitäten ausgeschlossenen Studenten organisierten öffentlichen Vorlesungen; man beginnt unter den nichtigsten Vorwänden neue Verfolgungen; die kaum genehmigte »Kasse der studierenden Jugend« wird plötzlich aufgehoben; Zeitungen werden suspendiert. Alles dies versetzt die radikale Partei in die höchste Entrüstung und Aufregung und zwingt sie, zur heimlichen Presse ihre Zuflucht zu nehmen. Es erschien das Manifest dieser Partei unter dem Titel »Das junge Rußland« mit einem Motto aus Robert Owens Schriften. Dieses Manifest gab eine klare und deutliche Darstellung der inneren Lage des Landes, des Zustandes der verschiedenen Parteien und der Presse, und schloß daraus, indem es den Kommunismus proklamierte, auf die Notwendigkeit einer sozialen Revolution. Es forderte alle tüchtigen Leute auf, sich um die radikale Fahne zu scharen.[447]

Kaum hatte dies Manifest die heimliche Presse verlassen, als durch ein verhängnisvolles Zusammentreffen (insofern die Polizei nicht ihre Hand dabei im Spiele hatte) zahlreiche Feuersbrünste in Petersburg ausbrachen. Die Regierung und die reaktionäre Presse ergriffen mit Freuden diese Gelegenheit, die Jugend und die gesamte radikale Partei der Brandstiftung zu beschuldigen. Von neuem füllen sich die Gefängnisse, neue Opfer drängen sich auf den Wegen zur Verbannung. Tschernyschewski wird verhaftet und auf die Petersburger Festung gebracht; von da schickt man ihn nach zwei langen martervollen Jahren zur Zwangsarbeit nach Sibirien.

Schon vor dieser Katastrophe griffen Herzen und Gromeka, welch letzterer später als Gouverneur einer polnischen Provinz bei der Unterwerfung Polens mitwirkte, der eine in London, der andere in Rußland, die radikale Partei aufs wütendste an und gaben zu verstehen, daß Tschernyschewski vielleicht noch schließlich mit einem Orden begnadigt werde. Tschernyschewski forderte Herzen in einem ganz besonders gemäßigten Artikel auf, über die Folgen der neuen Rolle nachzudenken, worin der »Kolokol« sich in offene Feindschaft mit der russischen revolutionären Partei setze. Herzen erklärte pomphaft, er sei bereit, in Gegenwart von allem dem, was er die internationale Demokratie nannte, Mazzinis, Victor Hugos, Ledru-Rollins, Louis Blancs u.a., den famosen Toast auf den großen Zar und Emanzipator auszubringen, und, fügte er hinzu, was auch die revolutionären Daniels in Petersburg sagen mögen, ihnen und ihren Schreiern zum Trotz, »ich weiß, daß dieser Toast ein günstiges Echo im Winterpalast« (Residenz des Zaren) »finden wird«.

Bakunin übertraf Herzen. Gerade als die revolutionäre Partei in voller Auflösung, als Tschernyschewski im Gefängnis war, veröffentlichte Bakunin, damals schon einundfünfzig Jahre alt, seine berüchtigte Broschüre für den Bauernzar: »Romanow, Pugatschow oder Pestel? Die Sache des Volks.« Von Michail Bakunin. 1862.

»Manche fragen sich noch, ob es in Rußland eine Revolution geben wird. Aber diese Revolution vollzieht sich schrittweise, sie herrscht überall vor, in allen Verhältnissen wie in allen Gemütern. Sie betätigt sich durch die Hand der Regierung noch erfolgreicher als in den Bemühungen ihrer eigenen Anhänger. Sie läßt sich nicht beschwichtigen noch aufhalten, bis sie die russische Welt wiedergeboren, bis sie neue slawische Welten geschaffen haben wird.

Die Dynastie arbeitet selbst an ihrem Sturz. Sie sucht ihr Heil darin, nicht das erwachte Volksleben zu beschützen, sondern darin, ihm Halt zu gebieten. Würde dieses[448] Volksleben verstanden, es hatte das kaiserliche Haus zu einer bis auf den heutigen Tag unbekannten Höhe der Macht und des Ruhmes erheben können ... Es ist zu beklagen. Selten hatte das Schicksal dem zarischen Hause eine so großartige, so segensreiche Rolle zugewiesen. Alexander II. konnte leicht der Abgott des Volkes werden, der erste Zar der Bauern26, mächtig nicht durch die Furcht, sondern durch die Liebe, die Freiheit, das Glück seines Volkes. Indem er sich auf das Volk stützte, hätte er der Herr und Erlöser der gesamten slawischen Welt werden können ...

Hierzu freilich mußte er ein russisches Herz haben, weit und stark in Hochsinn und in der Wahrheit. Die ganze lebende russische und slawische Gegenwart kam ihm mit offenen Armen entgegen, bereit, seiner historischen Größe als Fußgestell zu dienen.«

Weiter verlangt Bakunin die Abschaffung des Staates Peter des Großen, des deutschen Staates, und die Gründung des »neuen Rußlands«. Alexander II. ist zu diesem Werk berufen.

»Sein Anfang war herrlich; er verkündete die Freiheit des Volkes, die Freiheit und ein neues Leben nach tausendjähriger Sklaverei; es hatte den Anschein, als wollte er das Rußland der Bauern« (zemskuju Russiju) »organisieren, weil im Staate Peters ein freies Volk unmöglich ist. Am 19. Februar 1861 war Alexander II. trotz aller Fehler, aller absurden Widersprüche des Ukases über die Bauern-Emanzipation, der größte, geliebteste, mächtigste Zar, den Rußland je gehabt.« – Jedoch »widerspricht die Freiheit allen Instinkten Alexanders II.«, weil er ein »Deutscher« ist, und »ein Deutscher wird nie Verständnis oder Liebe für das Rußland der Bauern haben ... er hat nur daran gedacht, das Staatsgebäude Peters zu befestigen ... damit hat er ein verhängnisvolles und unmögliches Werk unternommen und arbeitet an seinem eigenen Untergang und dem seines Hauses; er steht auf dem Punkt, Rußland in eine blutige Revolution zu stürzen.«

Alle Widersprüche des Emanzipations-Ukas, alle Bauernmetzeleien, die Erneuten der Studenten, die ganze Schreckensherrschaft mit einem Worte, lassen sich nach Bakunin

»vollständig erklären aus dem Mangel an russischem Geiste beim Zaren, an einem Herzen, das für das Volk schlägt, aus seinem törichten Streben, koste es was es wolle, den Staat Peters zu erhalten ... und doch ist er es, er allein, der in Rußland, ohne einen Tropfen Bluts zu vergießen, die bedeutendste und wohltätigste Revolution durchführen könnte. Er kann es noch jetzt; wenn wir am friedlichen Ausgange verzweifeln, so geschieht es nicht, weil es zu spät ist, sondern weil wir schließlich allen Glauben aufgegeben haben, daß Alexander II. die Fähigkeit besitzt, einzusehen, auf welche Weise allein er sich und Rußland retten kann. Die Bewegung des nach tausendjährigem[449] Schlafe erwachten Volkes aufzuhalten, ist unmöglich. Aber stellte sich der Zar kühn und entschlossen an die Spitze der Bewegung, dann hätte seine Macht für das Wohl und den Ruhm Rußlands keine Grenzen.«

Hierzu brauchte er nur den Bauern Land zu geben und Freiheit und Selbstverwaltung zu gewähren.

»Es ist nicht zu fürchten, daß die Selbstverwaltung der einzelnen Landestelle den Zusammenhang der Provinzen miteinander löse, daß die Einheit Rußlands erschüttert werde; die Selbständigkeit der Provinzen wird nur eine administrative, für die inneren Angelegenheiten gesetzgebende, juridische sein, aber keine politische. Und in keinem Lande, mit Ausnahme Frankreichs vielleicht, ist das Volk in solchem Grade wie in Rußland durchdrungen vom Bewußtsein der Einheit, Harmonie und Unteilbarkeit des Staates und der nationalen Größe.«

Zu jener Zeit verlangte man in Rußland die Einberufung einer Nationalversammlung. Die einen verlangten sie, um finanzielle Schwierigkeiten zu lösen, die anderen, um der Monarchie ein Ende zu machen. Bakunin forderte sie, als Ausdruck der Einheit Rußlands, zur Befestigung der Macht und Größe des Zaren.

»Die Einheit Rußlands, die bisher nur in der Person des Zaren ihren Ausdruck gefunden, bedarf einer anderen Vertretung durch eine Nationalversammlung ... Es handelt sich nicht darum, zu wissen, ob eine Revolution kommen wird, sondern ob sie friedlich oder blutig sein wird. Sie wird friedlich und wohltätig sein, sobald der Zar, an der Spitze der Volksbewegung, mit der Nationalversammlung entschlossen und auf breiter Grundlage die Umwandlung Rußlands im Sinne der Freiheit vornehmen will; will aber der Zar rückwärtsschreiten oder bei halben Maßregeln stehenbleiben, wird die Revolution schrecklich sein. Sie wird dann beim Aufstande des gesamten Volkes den Charakter eines unerbittlichen Blutbades annehmen ... Noch kann Alexander II. Rußland vor vollständigem Untergang und vor Blutvergießen schützen.«

Für Bakunin war also 1862 die Revolution der vollständige Untergang Rußlands, und er beschwor den Zaren, Rußland davor zu behüten. Vielen russischen Revolutionären galt die Einberufung einer Nationalversammlung als eine Niederlage des kaiserlichen Hauses; Bakunin jedoch schneidet kurzweg ihre Hoffnungen ab und verkündet ihnen, daß

»die Nationalversammlung gegen sie und für den Zaren sein wird. Und wenn die Versammlung dem Zaren feindlich wäre? – Das ist nicht möglich, ist es ja das Volk, welches seine Delegierten schicken wird, das Volk, dessen Vertrauen zum Zaren bis jetzt keine Grenzen kennt und das alles an ihm mit Ehrfurcht betrachtet. Woher sollte also die[450] Feindseligkeit kommen? ... Es ist kein Zweifel, daß, wenn der Zar jetzt« (Februar 1862) »die Nationalversammlung einberiefe, er sich zum ersten Male von Männern umringt fände, die ihm aufrichtig ergeben sind. Dauert die Anarchie noch einige Jahre, so kann die Stimmung des Volkes sich ändern. In unserer Zeit lebt man schnell. Aber gegenwärtig ist das Volk für den Zaren und gegen den Adel, gegen die Beamten und gegen alles, was deutsche Tracht« (d.h. europäische Tracht) »trägt. Im Lager des offiziellen Rußlands ist alles Feind des Volkes, alles mit Ausnahme des Zaren. Wer sollte es also versuchen, zum Volke gegen den Zaren zu reden? Und wenn es selbst jemand versuchen wollte, würde das Volk ihm glauben? War er nicht der Zar, welcher die Bauern gegen den Willen der Adeligen, gegen den allgemeinen Wunsch der Beamten emanzipiert hat?

In seinen Abgeordneten wird das russische Volk zum ersten Male Angesicht zu Angesicht seinem Zaren gegenüberstehen. Das ist ein entscheidender, im höchsten Grade kritischer Moment. Werden sie aneinander Gefallen finden? Von dieser Begegnung wird die ganze Zukunft des Zaren und Rußlands abhängen. Das Vertrauen und die Ergebenheit der Abgeordneten für den Zaren werden keine Grenzen kennen. Stützt er sich auf sie, kommt er ihnen mit Liebe und Vertrauen entgegen, so wird er seinen Thron zu einer noch nie erreichten Höhe und Festigkeit erheben. Aber was wird geschehen, wenn die Delegierten in ihm statt eines emanzipatorischen Zaren, eines volkstümlichen Zaren, einen Petersburger Kaiser in preußischer Uniform, einen engherzigen Deutschen vorfinden? Was wird geschehen, wenn ihnen der Zar statt der erwarteten Freiheit nichts oder fast nichts gibt? ... Dann, wehe dem Cäsarismus! Es wird dann geschehen sein mindestens um das Petersburger, deutsche, Holstein-Gottorpsche Kaisertum.

Wenn in diesem verhängnisvollen Augenblick, da die Frage um Leben und Tod, Frieden oder Blut, für ganz Rußland sich entscheiden soll, wenn da vor der Nationalversammlung der volkstümliche Zar erschiene, der gute und redliche Zar, voll Liebe für Rußland, bereit, dem Volke eine Organisation nach seinem Willen zu geben, was könnte der nicht mit einem solchen Volke machen! Wer würde wagen, sich gegen ihn zu erheben? Frieden und Vertrauen wären wie durch ein Wunder hergestellt, das Geld wäre gefunden und alles ordnete sich einfach, natürlich, ohne jemanden zu schädigen, zu allgemeiner Befriedigung. Unter Leitung eines solchen Zaren würde die Nationalversammlung ein neues Rußland schaffen. Kein böswilliges Unternehmen, keine feindliche Macht wäre imstande, gegen die vereinigte Macht des Zaren und des Volkes anzukämpfen ... Kann man hoffen, daß diese Vereinigung zustande kommt? Wir sagen geradezu nein.«

Trotz alledem gibt Bakunin nicht die Hoffnung auf, den Zar hinzureißen, und um ihn zu bestimmen, droht er ihm mit der revolutionären Jugend, die, wenn er sich nicht beeilt, ihr Werk vollenden und den Weg zum Volke finden wird.

[451] »Und warum ist diese Jugend nicht für Sie, sondern gegen Sie? Es ist dies ein großes Unglück für Sie ... sie« (die revolutionäre Jugend) »bedarf vor allem der Freiheit und der Wahrheit. Aber warum hat sie den Zaren aufgegeben, warum hat sie sich gegen den erklärt, der zuerst dem Volke Freiheit gegeben hat? Sollte sie sich durch das abstrakte revolutionäre Ideal und durch jenes klangvolle Wort der Republik haben hinreißen lassen? Das ist zum Teil möglich, ist aber doch nur ein in zweiter Reihe stehender und nicht tiefgehender Grund. Die Mehrheit unserer vorgeschrittenen Jugend weiß sehr wohl, daß die Abstraktionen des Westens, sowohl die konservativen als die bürgerlichen, liberalen oder demokratischen, auf die russische Bewegung nicht anwendbar sind ... das russische Volk bewegt sich nicht nach abstrakten Prinzipien ... das Ideal des Westens ist ihm fremd und alle Versuche des konservativen, liberalen oder selbst revolutionären Doktrinarismus, ihm seine Tendenzen aufzudrängen, werden vergeblich sein ... es hat sein Ideal für sich ... es wird neue Prinzipien in die Geschichte hineintragen, es wird eine andere Zivilisation schaffen, eine neue Religion, ein neues Recht, ein neues Leben.

Gegenüber dieser großen, ernsten und selbst schrecklichen Erscheinung, dem Volk, wagt man keine Torheiten zu begehen. Die Jugend wird die lächerliche und hochmütige Rolle eines täuschenden Schulmeisters fallenlassen ... Was können wir das Volk lehren? Wenn man die mathematischen und Naturwissenschaften beiseite läßt, wird das letzte Wort unserer Wissenschaft die Verneinung der angeblich unumstößlichen Wahrheiten der westlichen Doktrin sein, die vollständige Negation des Westens.«

Dann nimmt Bakunin die Gründer des »Jungen Rußlands« vor; er beschuldigt sie, daß sie Doktrinäre seien, daß sie sich zu Herren des Volkes aufwerfen wollen, daß sie die Sache kompromittiert haben, daß sie Kinder seien, die nichts begreifen und die ihre Ideen aus einigen Büchern des Westens geschöpft haben. – Die Regierung, die damals diese selbe Jugend als Brandstifter einkerkerte, schleuderte dieselben Vorwürfe gegen sie. Und um seinen Zar zu beruhigen, verkündet Bakunin, daß

»das Volk nicht für jene revolutionäre Partei ist ... die ungeheure Mehrheit unserer Jugend gehört der Volkspartei an, der Partei, welche zum einzigen und alleinigen Zweck den Triumph der Volkssache hat; diese Partei hat keine Vorurteile, weder für noch gegen den Zar, und wenn nicht der Zar, der das große Werk begonnen, das Volk verraten hätte, man hätte ihn nie aufgegeben. Und auch jetzt ist es noch nicht zu spät für ihn, auch jetzt noch würde diese Jugend ihm mit Freuden folgen, vorausgesetzt, daß er an der Spitze seines Volkes schritte. Sie würde sich durch keines der revolutionären Vorurteile des Westens behindern lassen. Es ist Zeit, daß die Deutschen nach Deutschland abziehen. Wenn der Zar begriffen hätte, daß er von nun an nicht mehr das Haupt einer Zwangs-Zentralisation, sondern das einer freien Föderation freier Völker sein müßte, gestützt auf eine feste und neugekräftigte Macht, im Bündnis mit Polen und der Ukraine, daß er alle sosehr verabscheuten deutschen Bündnisse lösen und kühn das panslawistische Banner erheben müßte – er würde der Heiland der slawischen Welt.

[452] Ja, in der Tat, der Krieg gegen die Deutschen ist für die Slawen ein gutes und unerläßliches Werk; es ist jedenfalls besser, als die Polen zum Vergnügen der Deutschen zu ersticken. Eine Notwendigkeit und heilige Pflicht für das befreite russische Volk wird es sein, sich zur Befreiung der Slawen vom türkischen und deutschen Joche zu erheben.«

In derselben Broschüre verpflichtet Bakunin die revolutionäre Partei, sich unter das Banner der Volkssache zu scharen. Wir geben hier einige Glaubensartikel des Programms dieser für den Zaren zugeschnittenen Volkssache:

»Art. 1. Wir« (Bakunin & Co.) »wollen die Selbstregierung des Volks in der Gemeinde, der Provinz, dem einzelnen Lande und endlich dem Gesamtstaate, ob mit oder ohne Zar, daran liegt uns wenig; das wird sich machen. Je nachdem das Volk entscheidet. – Art. 2 .... Wir sind bereit, und die Pflicht gebietet es uns, Litauen, Polen und der Ukraine zur Hülfe zu kommen, um jede Vergewaltigung zu verhindern und diese Länder gegen ihre äußeren Feinde zu beschützen, besonders gegen die Deutschen. – Art. 4. Vereinigt mit Polen, Litauen und der Ukraine wollen wir unseren Arm allen unseren slawischen Brüdern leihen, die gegenwärtig unter dem Joche des Königreichs Preußen, des österreichischen und türkischen Reichs seufzen, und wir verpflichten uns, das Schwert nicht in die Scheide zu stecken, so lange noch ein einziger Slawe Sklave der Deutschen, Türken oder wessen sonst sein wird.«

Der Artikel 6 schreibt eine Allianz mit Italien, Ungarn, Rumänien und Griechenland vor; es waren gerade diese Allianzen, welche die russische Regierung damals suchte.

»Art. 7. Wir werden mit allen übrigen slawischen Stämmen nach der Verwirklichung des teuern Traums der Slawen streben, nach der Gründung der großen und freien panslawischen Föderation, damit es nur eine einzige und unteilbare panslawische Macht gebe.

Das ist das große Programm der slawischen Sache, das ist das letzte unabänderliche Wort der russischen Volkssache. Wir haben unser ganzes Leben dieser Sache geweiht.

Und nun: wohin gehen wir, und mit wem werden wir gehen? Wir haben gesagt, wohin wir gehen wollen; wir haben auch gesagt, mit wem wir gehen wollen, mit niemandem anders als mit dem Volke. Bleibt nur noch zu wissen, wem wir folgen werden. Werden wir Romanow, Pugatschow oder einem neuen Pestel, wenn sich ein solcher findet, folgen?27

[453] Sagen wir die Wahrheit. Wir würden es vorziehen, Romanow zu folgen, wenn Romanow sich aus einem Petersburger Kaiser in einen Bauernzar umwandeln könnte und wollte. Wir würden uns gern unter seine Fahne stellen, weil das russische Volk sie noch anerkennt, und weil seine Macht bereits geschaffen und zum Handeln bereit ist und weil sie unbesiegbar würde, sobald er ihr die Volkstaufe gäbe. Wir würden ihm auch deshalb folgen, weil er allein die große friedliche Revolution durchführen kann, ohne einen Tropfen russischen oder slawischen Bluts zu vergießen. Blutige Revolutionen, dank der menschlichen Torheit, werden oft notwendig; nichtsdestoweniger sind sie ein großes Übel und ein großes Unglück, nicht nur wegen ihrer Schlachtopfer, sondern auch hinsichtlich der Reinheit und Fülle des Zweckes, wozu sie sich vollziehen. Wir haben dies während der Französischen Revolution gesehen.

So ist unsere Haltung gegenüber Romanow klar. Wir sind nicht seine Feinde, wir sind ebensowenig seine Freunde. Wir sind die Freunde der russischen Volkssache, der slawischen Sache. Steht der Zar an der Spitze dieser Sache, so folgen wir ihm; stellt er sich gegen sie, so sind wir seine Feinde. Daher handelt es sich einfach darum: Will Romanow der russische Zar, der Zar der Bauern sein, oder will er lieber der Petersburger, der Holstein-Gottorpsche Kaiser sein? Will er Rußland, will er den Slawen oder den Deutschen seine Dienste widmen? Diese Frage wird sich bald entscheiden, und dann werden wir wissen, was wir zu tun haben.«

Leider hielt es der Zar nicht für angemessen, die Nationalversammlung einzuberufen, für welche Bakunin in dieser Broschüre bereits seine Kandidatur aufstellte. Er hatte also dieses sein Wahlmanifest und seine Kniebeugungen vor Romanow weggeworfen. Schmählich in seinem unschuldsvollen Vertrauen getäuscht, blieb ihm nichts weiter übrig, als sich kopfüber in die pan-destruktive Anarchie zu stürzen.

Nach diesem Machwerk des Meisters, der vor seinem Bauernzar auf dem Bauche kriecht, war es seinen Freunden und Schülern Albert Richard und Gaspard Blanc wohl gestattet, aus vollem Halse zu schreien: Es lebe Napoleon III., der Bauernkaiser![454]

26

Der Titel des Bauernzaren (Zemsky Tzar), mit dem Alexander II. beschenkt wird, ist eine Erfindung Bakunins und des »Kolokol«.

27

Romanow ist der Familienname des Zaren; Pugatschow war das Haupt des großen Kosaken-Aufstandes unter Katharina II.; Pestel war das Haupt der Verschwörung gegen Nikolaus I. im Jahre 1825, er wurde gehängt.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 18, S. 447-455.
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