V. Das Begleitschreiben des »Roten Katechismus«

[455] In der Sitzung vom 27. Oktober bezeugt der Polizei-Inspektor Junkermann aus Krefeld:

»Er habe ein Paket mit Exemplaren des ›Roten Katechismus‹ in Beschlag genommen, welches an den Kellner eines Krefelder Gasthofes adressiert und mit dem Poststempel Düsseldorf versehen war. Dabei lag ein Begleitschreiben ohne Unterschrift. Der Absender ist nicht ermittelt worden.« »Das Begleitschreiben scheint, wie das öffentliche Ministerium bemerkt, von der Hand des Marx geschrieben

In der Sitzung vom 28. Oktober ersieht der Sachverständige (???) Renard in dem Begleitschreiben die Handschrift des Marx. Dies Begleitschreiben lautet:

»Bürger! Da sie unser volles Vertrauen besitzen, so überreichen wir ihnen hiermit 50 Exemplare des ›Roten‹, die Sie Samstag, den 5. Juni, abends 11 Uhr, unter die Haustüren anerkannt revolutionärer Bürger, am liebsten Arbeiter, zu schieben haben. Wir rechnen mit Bestimmtheit auf ihre Bürgertugend und erwarten daher Ausführung dieser Vorschrift. Die Revolution ist näher, als mancher glaubt. Es lebe die Revolution!

Berlin, Mai 1852

Gruß und Bruderschaft. Das Revolutionskomitee«


Zeuge Junkermann erklärt noch, »daß die fraglichen Pakete an den Zeugen Chianella geschickt worden«.

Polizeipräsident Hinckeldey von Berlin leitet während der Untersuchungshaft der Kölner Angeklagten die Manöver als Obergeneral. Die Lorbeeren des Maupas lassen ihn nicht schlafen.

Während der Verhandlungen figurieren zwei Polizeidirektoren, ein lebendiger und ein toter, ein Polizeirat – aber der eine war ein Stieber –, zwei Polizeileutnants, wovon der eine beständig von London nach Köln, der andere beständig von Köln nach London reist, Myriaden von Polizeiagenten und[455] Unteragenten, genannte, anonyme, heteronyme, pseudonyme, geschwänzte und ungeschwänzte. Endlich noch ein Polizeiinspektor.

Sobald die »Kölnische Zeitung« mit den Zeugenverhören vom 27. und 28. Oktober in London eintraf, begab sich Marx zum Magistrat in Marlborough Street, schrieb den in der »Kölnischen Zeitung« gegebenen Text des Begleitschreibens ab, ließ diese Abschrift beglaubigen und zugleich folgende an Eides Statt abgegebene Erklärung:

1. Daß er das fragliche Begleitschreiben nicht geschrieben;

2. daß er die Existenz desselben erst aus der »Kölnischen Zeitung« kennengelernt;

3. daß er den sogenannten »Roten Katechismus« nie gesehen;

4. daß er nie in irgendeiner Weise zur Verbreitung desselben beigetragen.

Im Vorbeigehen sei bemerkt, daß eine solche vor dem Magistrat gegebene Erklärung (declaration), wenn sie falsch ist, in England alle Folgen des Meineids nach sich zieht.

Das obige Dokument wurde an Schneider II geschickt, erschien aber zugleich gedruckt im Londoner »Morning Advertiser«, da man sich im Laufe des Prozesses überzeugt hatte, daß die preußische Post mit Beobachtung des Postgeheimnisses die sonderbare Vorstellung verbindet, sie sei verpflichtet, die ihr anvertrauten Briefe vor dem Adressaten geheimzuhalten. Die Oberprokuratur widersetzte sich der Vorlegung des Dokuments, sei es auch nur zur Vergleichung. Die Oberprokuratur wußte, daß ein einziger Blick von dem Originalbegleitschreiben auf die amtlich beglaubigte Abschrift von Marx den Betrug, die absichtliche Nachahmung seiner Schriftzüge, selbst dem Scharfblicke dieser Geschworenen nicht verborgen lassen könnte. Im Interesse der Moralität des preußischen Staates protestierte sie daher gegen jede Vergleichung.

Schneider II bemerkte,

»daß der Adressat Chianella, der der Polizei bereitwillige Auskunft über die mutmaßlichen Absender gegeben und sich ihr direkt als Spion angeboten, nicht im entferntesten an Marx gedacht habe«.

Wer je eine Zeile von Marx gelesen hatte, konnte ihm unmöglich die Urheberschaft des melodramatischen Begleitschreibens aufbürden. Die Sommer-Mitternachts-Traumstunde des 5. Juni, die zudringlich-anschauliche Operation des Unterschiebens von »Rotem« unter die Haustüren der Revolutionsphilister – das konnte etwa auf das Gemüt Kinkel hindeuten, wie die »Bürgertugend«[456] und die »Bestimmtheit«, womit auf militärische »Ausführung« der gegebenen »Vorschrift gerechnet wird«, auf die Einbildungskraft Willichs. Aber wie sollten Kinkel-Willich dazu kommen, ihre Revolutionsrezepte in Marxsche Handschrift zu setzen?

Wenn eine Hypothese über die »noch nicht ganz aufgeklärte Entstehungsart« dieses in nachgeahmter Handschrift befindlichen Begleitschreibens erlaubt ist: Die Polizei fand in Krefeld die 50 Roten mit dem hochtönend angenehmen Begleitschreiben. Sie ließ – zu Köln oder Berlin, qu'importe? – den Text in Marxsche Noten setzen. Zu welchem Behuf? »Um ihrer Ware einen desto höheren Wert zu geben.«

Selbst die Oberprokuratur wagte indessen nicht, in ihrer katilinarischen Rede auf dies Begleitschreiben zu rekurrieren. Sie ließ es fallen. Es trug also nicht bei zur Konstatierung des mangelnden »objektiven Tatbestandes«.[457]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1960, Band 8, S. 455-458.
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