XVI. Streiche und Feste.

[168] Auf die Prager Universität waren namentlich während der deutschliberalen Herrschaft viele Dozenten »aus dem Reiche« berufen worden. Ich verkehrte in den Familien einiger dieser Herren recht viel; ich verdankte diese Freundlichkeit – ich habe außer dem Strafrechtler Merkel besonders den Archäologen Benndorf und den Anatomen Henke zu nennen – wahrscheinlich dem Umstande, daß ich just in meinen letzten Universitätsjahren häufig in den nationalen Kampf hineingezogen wurde.

Diese Lehrer aus dem Reiche fühlten sich in Prag wie in der Verbannung; ihre Frauen sprachen dieses Gefühl ganz offen aus. Die Männer hofften auf eine neue Berufung nach einer deutschen Universität oder auf eine große Stellung in Wien. Auch in Wien wären sie in ihrer politischen Gesinnung Deutsche geblieben, wären mit dem ganzen Wesen Österreichs und mit dem Anwachsen der Slawenmacht unzufrieden gewesen. Doch in Prag mußten sie doppelt vorsichtig sein, wenn sie nicht Demonstrationen der Studenten und Denunziationen von seiten ihrer Kollegen heraufbeschwören wollten; schon damals gab es irgendwo in den höheren Regionen eine scharfe Strömung gegen die Ausländer. Ich habe es noch miterlebt, wie einige der besten reichsdeutschen Professoren von Prag »weggegrault« wurden.[168] Die Herren hielten sich darum in ihrem Kolleg streng an ihre Wissenschaft, blieben auch sonst zurückhaltend und bildeten mit ihren reichsdeutschen Frauen einen fast geschlossenen Ring. Es war kein geringes Glück für einen jungen Studenten, in diesen Kreis zugelassen zu werden. Gegenüber dem Philisterium oder der Frivolität gar mancher Prager Weiblichkeit erschienen mir alle diese deutschen Professorenfrauen, eine wie die andere, als ideale Vertreterinnen des Geistes und der Freiheit. Wenigstens hatten sie gute Bücher gelesen und ein ernstes Gespräch brauchte in ihrer Gegenwart nicht zu stocken.

Einen größeren Einfluß auf die ganze Studentenschaft übten einige einheimische Professoren, welche nicht schwarzgelbe Österreicher waren. Unser burschikoser Freund war der schwungvolle Nationalökonom Karl Thomas Richter, der übrigens ein recht starkes Dichtertalent besaß. Ich bin später jahrelang fast täglich bei ihm gewesen, oft für den ganzen Abend; ich weiß am besten, wie er uns Studenten unsere weltbewegenden Entschlüsse mitunter soufflierte; er gehört auch irgendwie – hinter den Kulissen – zu den drei Erlebnissen, über die ich noch berichten will. Vorher noch einen kurzen Überblick über die politische oder vielmehr nationale Lage der Dinge an unserer Universität.

Zu meiner Zeit wurde die einheitliche deutsche Universität Prag von ungefähr achthundert Deutschen und eintausendfünfhundert Tschechen besucht. Die Mehrheit war also bei den Gegnern. Im Lehrkörper dagegen gab es nur eine Minderheit von tschechischen Dozenten, unter ihnen eine so bedeutende Kraft, wie den Zivilrechtslehrer Randa. Die Gründung einer selbständigen tschechischen Universität stand schon damals[169] auf dem Programm der tschechischen Politiker. Alle Vorsicht der reichsdeutschen Professoren konnte es nicht hindern, daß die tschechischen Studenten auf Befehl ihrer politischen Führer Ungelegenheiten machten; bot sich ein passender Anlaß dar, so wurden den Deutschen die Fenster eingeworfen oder sie wurden auch persönlich bedroht. Bei solchen Tätlichkeiten machte der Prager Pöbel mit den tschechischen Studenten gern gemeine Sache; uns deutschen Studenten fiel es an den großen Kampftagen zu, unsere Professoren zu verteidigen; das war mitunter eine recht schwere Aufgabe, weil wir dem tschechischen Pöbel keinen deutschen Pöbel gegenüberzustellen hatten. Ich gebrauche das Wort »Pöbel« nicht gern; ich will lieber sagen: wir konnten den tschechischen Massen keine deutschen Massen gegenüberstellen. Ein ehrlicher Mann muß sagen, daß Prag wirklich längst keine deutsche Stadt mehr war.

Wir waren also die Leibgarde der deutschen Professoren und trugen diese Bürde mit viel Pathos, mitunter auch mit sträflichem Übermut.

Tschechische und deutsche Studenten hatten durchaus getrennte Organisationen. Wir trafen einander im Kolleg, kannten einander aber kaum; es kam vor, daß ein Deutscher und ein Tscheche, die auf dem Gymnasium Freunde gewesen waren, einander nicht mehr grüßten. Da zwischen Tschechen und Deutschen der sogenannte »Komment« nicht bestand, so existierte zwischen den beiden feindlichen Parteien nicht einmal die alte Institution der Mensur. Der ganze offizielle Verkehr bestand darin, daß in friedlichen Zeitläuften beim deutschen Studentenball einige Tschechen im hübsch und gut erfundenen nationalen Schnürrock erschienen,[170] beim tschechischen Studentenballe einige Deutsche in Wichs oder im Frack. Kam es dann zu kritischen Tagen, so wurde ohne jeden Komment geholzt; mit recht blutigem Ausgang mitunter, wie man weiß. Meine Universitätsjahre gehörten in dieser Beziehung wohl zu den schlimmsten. Bald darauf kam es zu einer Zerreißung in eine deutsche und eine tschechische Universität; damit waren die Reibungsflächen kleiner geworden und der Vernichtungskampf gegen die Farben der deutschen Studenten spielte sich nicht auf der Universität ab, sondern beim Straßenbummel auf dem »Graben«, der breitesten und vornehmsten Straße der Stadt; auf dem Graben (offiziell: Kolowratstraße) entwickelt sich allmittäglich noch heute der Korso von Prag.

Es gab in Prag deutsche Studentenverbindungen aller Art. Ich war damals der Meinung, daß diese Nachahmungen deutschen Wesens an ihre Vorbilder nicht heranreichten; ein so ideales Bild machte ich mir von den Korps und Burschenschaften der deutschen Universitäten. Für eine progressionistische Burschenschaft, die meines Erinnerns großdeutsch war, ganz und gar nicht schwarzgelb, und dann aufgelöst wurde, wurde ich gekeilt; ich wurde nur für kurze Zeit Konkneipant. Ich war doch wohl zu selbständig geworden, um mich, der ich sogar in wissenschaftlicher und literarischer Arbeit jede äußere Disziplin haßte, einer Disziplin des Saufens zu unterwerfen; ich bin ohne jede Disziplin dennoch ein recht trinkfester Mann und ein recht fleißiger Arbeiter geworden. Ich muß aber eingestehen, daß mein Fernbleiben von einem flotten Studentenleben vielleicht überdies eine viel kläglichere Ursache hatte: ich hatte nicht Taschengeld genug. Zwar hatten die Verwandten, die meinen Vater um sein Vermögen gebracht[171] hatten, sich wieder emporgearbeitet, machten ihre Schuld nach Möglichkeit wieder gut und mein Vater kehrte in den früheren bescheidenen Wohlstand zurück; aber sein strenger Gerechtigkeitssinn duldete es nicht, daß einer der Söhne vor den andern bevorzugt würde. Wenn ich den Wunsch hätte, sauber gekleidet zu gehen und an Kneipereien teilzunehmen, so müßte ich mir das Geld dazu selber verdienen. Ich empfand diese Gerechtigkeit damals mit Unrecht als eine Ungerechtigkeit gegen den Studenten. Ich versuchte es, Privatunterricht zu erteilen, spann aber keine Seide damit; ein Deutsch-Amerikaner, dem ich eine bessere schriftliche Behandlung des Deutschen beibringen sollte, entschloß sich, Schauspieler zu werden und verzichtete auf weitere Stunden; ein Gymnasiast, dessen Griechisch ich aufmuntern sollte, sattelte zornig um und wurde Bierbrauer. Später erst schrieb ich auch einige Aufsätze, die abgedruckt wurden, aber eine Bezahlung erhielt ich nicht. So mußte ich erst recht darauf verzichten, das kostspielige Verbindungsleben mitzumachen.

Doch gab es einen andern Sammelpunkt für uns, die »Lesehalle der deutschen Studenten«; es war Ehrensache für jeden deutschen Studenten, für die Finken sowohl wie für die farbentragenden jungen Herren, der »Halle« als Mitglied anzugehören. In der Halle wurde weder gefochten noch gekneipt. An kritischen Tagen wurden dort die entscheidenden Beschlüsse gefaßt. Sonst war die Halle unser Lesesaal und unser Debattierklub. In einzelnen wissenschaftlichen Sektionen wurden von uns – es war eine neue Einrichtung – wissenschaftliche Vorträge gehalten. Wir hatten gewiß ein kurzes Gedärm. Ich werde daran erinnert, daß ich einmal eine sehr kirchenfeindliche Vorlesung über den Kaiser Julianus[172] hielt, ein andermal eine (bessere) Arbeit über Schopenhauer vorlas.

Mein engerer Kreis bestand aus prächtigen ernsten Burschen; und gerade darum denke ich oft und auch gern an die törichten Kämpfe in der Halle zurück. Wenn wir alten Kameraden uns nach Jahren wieder einmal treffen, dann sagt gewiß bald einer zum andern: »Weißt du noch?« Und dann sprechen wir von den alten Zeiten der HalleVI. Und dann sprechen oder sprachen wir besonders gern von den drei Ereignissen, über die ich noch berichten will. Bei der ersten Geschichte, dem Falle Linker, war ich fast nur als Zuschauer beteiligt; beim Falle Krainc war ich der Rädelsführer, und bei der Fahrt nach Straßburg bin ich gottlob auch dabei gewesen.

Der Fall Linker verlief schlicht und einfach. Dieser wackere Professor der Altphilologie hatte eine Herzensfreude an der Wiederaufrichtung des deutschen Kaiserreichs; und weil er ein gelehrter Herr war, verfaßte er kurz nach der Kaiserproklamation eine lateinische Ode auf den Kaiser Wilhelm. Sie war in einem schwierigen Versmaß gebaut. Er ließ die Ode fein sauber drucken, mit einem schwarz-weiß-roten oder vielleicht auch schwarz-rot-goldenen Rand. Auf jeden Platz seines kleinen Hörsaals legte er eines schönen Morgens ein Exemplar dieser Ode nieder. Das war sehr freundlich von ihm; nur hatte der brave Dichtersmann vergessen oder nicht beachtet, daß mehr als drei Viertel seiner Zuhörer Tschechen waren. Als nun Linker nach der akademischen Viertelstunde sein Katheder bestieg, in bescheidener Erwartung von Ehrungen, wurde er von den tschechischen Studenten hinausgeschmissen. Das[173] Hörsälchen lag parterre und so passierte ihm nicht viel, nicht einmal so viel, wie den böhmischen Statthaltern, die anno 1618 auf dem Hradschin po staročesku (auf Altböhmisch) zum Fenster hinausgeworfen wurden. Wenn ich mir die Sache heute recht überlege, so hatte Linker für seine Taktlosigkeit eine kleine Strafe wohl verdient. Wer andern seine Gedichte vorlegt, und gar wenn sie politisch und lateinisch sind, setzt sich immer der Gefahr aus, hinausgeschmissen zu werden. Damals aber kamen wir erregt in der Halle zusammen und erkannten unsere Pflicht, den »Märtyrer der deutschen Wissenschaft« zu schützen. Vierzig oder fünfzig Mediziner und Juristen besetzten am nächsten Morgen, mit ordentlichen Stöcken bewaffnet, den kleinen Hörsaal und ließen sich von dem tapferen Professor, der vom Rector magnificus bis an die Tür des Auditoriums geleitet worden war, ein bißchen Philologie vortragen. Das ging so zwei oder drei Tage lang, bis die Tschechen es satt bekamen und ihrerseits auf dem Schauplatz erschienen; viele hundert Mann mit ebensoviel hundert Stöcken besetzten die Höfe des Klementinums. Kaum hatten wir das erfahren, als auch wir uns sammelten, etwa halb so viel Mann und halb so viel Stöcke. Viele hundert Studenten standen einander so kampfbereit gegenüber. In beiden Lagern wurden zündende Reden gehalten und das Ende der Schlacht mußte nach der Lage der Dinge nicht eben spaßhaft werden. Da rückte plötzlich die Polizeimacht an, eine große Abteilung mit einem Offizier an der Spitze. Ohne jede Verabredung war ein Waffenstillstand zwischen Deutschen und Tschechen sofort zustande gekommen; unter uns jungen Leuten wenigstens ging die »Ehre« über die Nationalität. Unsere[174] Führer, zu denen ich leider nicht gehörte, traten dem Offizier entgegen; Tschechen und Deutsche verlangten gemeinsam den Abzug der Polizei; wir hätten ein altes Recht auf den Boden unserer Universität, da hätte uns kein Gott und kein Teufel darein zu reden. Nach einigem Hin- und Herreden verstieg sich der Offizier zu der Drohung, die Höfe mit Waffengewalt räumen zu lassen. Wieder kann ich nicht sagen, wie ein solcher Konflikt etwa in Preußen geendet hätte. Bei uns siegte – ja was denn? Der Offizier rückte mit seinen Leuten wieder ab. Unser Triumph ließ uns vergessen, weshalb wir die Stöcke mitgebracht hatten. Wir eilten in einige Kneipen und die Tschechen warfen dem Professor Linker die Fenster ein. Damit war die Affäre Linker beigelegt, ich muß bekennen: zu allgemeiner Zufriedenheit. Wir waren nicht mit ganzem Herzen dabei gewesen.

Zu Beginn des Wintersemesters, im Oktober 1871, folgte der Fall Krainc; über diese Geschichte kann ich gut berichten, ganz genau eigentlich ich allein, wenn anders meine Erinnerung in mehr als vierzig Jahren nicht gefälscht worden ist. Aber auch ich weiß über die Vorgeschichte nichts zu sagen, als was wir jungen Leute damals über die österreichischen Verhältnisse dachten. Das deutschliberale Bürgerministerium war schon vor dem Deutsch-Französischen Kriege gestürzt worden. Bismarck erreichte es zwar, von den Magyaren unterstützt, daß Österreich (gegen den Willen der katholischen, deutschfeindlichen Hofpartei) während des Krieges neutral blieb; aber unmittelbar nach dem Kriege setzte die Slawisierung Österreichs ein. Man nannte das: Versöhnung der nichtdeutschen Völkerschaften. Im Frühjahr 1871 wurde ein konservativslawisches Ministerium ernannt, in welchem der Tscheche[175] Jiretschek das Unterrichtsministerium innehatte. Das Konkordat mit Rom war zwar nach dem Vatikanum aufgehoben worden, aber mit um so größerem Zorn wurde dieses Ministerium, wurde von den Deutschen dieses Ministerium Hohenwart-Habietinek-Jiretschek als junkerlich, tschechisch und pfäffisch im allgemeinen verurteilt. Doch machte es auf uns keinen besonderen Eindruck, als der neue Unterrichtsminister unsern alten Zivilrechtslehrer Schneider pensionierte und an seine Stelle den Professor Krainc setzte, der ein Slowene war oder doch dafür galt. Man hat es später so dargestellt, als ob wir deutschen Studenten zu unserer schrecklichen Tat von unsern politischen Führern angestiftet worden wären; ich weiß am besten, daß dem nicht so war. Weder diese Herren noch auch unser bewährter Freund Karl Thomas Richter wußten irgend etwas vor geschehener Tat; erst nachher hielten sie ihre schützende Hand über uns.

Ich habe schon erzählt, wie mir damals nach dem Staatsexamen und der Erkrankung zumute war, wie ich dichtete und die Juristerei an den Nagel gehängt hatte. Außerdem war ich in jenen Tagen gerade steinunglücklich. Man errät, worüber ein dichtender Jurist von noch nicht zweiundzwanzig Jahren steinunglücklich ist: sie war wunderbar schön, sie achtete mich, aber erwiderte meine Liebe nicht. In dieser Stimmung saß ich unter zwei- bis dreihundert Kollegen, welche sich die Antrittsvorlesung des neuen Professors anhörten. Neben mir mein lieber Freund Viktor Lenk. Der Professor hielt seine Rede in recht mangelhaftem Deutsch, langweilig, geistlos, schulmeisterlich. Ich habe mir später sagen lassen, Krainc sei ein ganz tüchtiger Fachmann gewesen; davon ahnten wir damals[176] nichts. Er schloß seinen Vortrag mit den nicht eben begeisternden Worten: »Also schreiben Sie nur fleißig mit, meine Herren!« Die nach Form und Inhalt elende Rede konnte wirklich nur Mitleid erregen, der pennälerhafte Schluß die studentische Entrüstung.

Ich hatte nur mit halbem Ohr zugehört und war im allgemeinen zu unglücklich, um über diese Antrittsvorlesung selbst in Zorn zu geraten. Da steht alles auf und mein Freund sagt zu mir: »Das ist wirklich ein Skandal!« Ein Ventil für meinen Jammer. Ich schreie in Gegenwart des Professors und Rektors, die einige Höflichkeiten austauschen, meinen Kommilitonen zu: »Das ist ein Skandal!« Man ist der gleichen Meinung, man schüttelt mir die Hände. Jetzt muß etwas geschehen. Wir überlegen nicht lang. Schnurstracks marschieren wir, acht oder zehn deutsche Juristen, nach dem Franzenskai, nach der Wohnung des pensionierten Lehrers, der uns vorher der gleichgültigste Mensch gewesen war, und fordern ihn auf, seine Vorlesungen einfach wieder aufzunehmen; der Slowene wäre gar zu dumm und könnte nicht Deutsch. Der deutsche alte Herr war natürlich sehr überrascht; er weinte vor Freude, und das ist mir die liebste Erinnerung an die ganze Heldentat. Dann setzte er uns aber auseinander, er wäre entlassen und dürfte nicht so ohne weiteres lesen; er brauchte dazu ein Wort des Ministers. Die Antwort auf eine Eingabe würde auf sich warten lassen. Wir aber konnten nicht warten; wir mußten uns inskribieren lassen und wollten das bei dem Slowenen nicht tun. Da warf der alte Professor Schneider in seiner Herzenseinfalt selbst das Wort hin, wir könnten ja auch telegraphieren. Wir drückten ihm feurig die Hand und gingen telegraphieren. Das ist der[177] wahrheitsgetreue Verlauf des ersten Aktes einer Geschichte, hinter der man eine wohlvorbereitete politische Intrige gesucht hat. In Wirklichkeit war es die Improvisation politisch erregter Studenten unter Führung eines verliebten Jünglings von der traurigen Gestalt.

Ich sehe noch heute kein Arg darin, daß wir unserer Unzufriedenheit Ausdruck gaben, daß wir uns im fünften Semester nicht mehr wie Schulbuben belehren lassen wollten. Schlimm wurde die Sache erst gerade dadurch, daß wir keinen unserer unparteiischen deutschen Professoren um Rat fragten und das Telegramm in unschicklichen Ausdrücken abfaßten. Nach meiner Erinnerung hatte es folgenden Wortlaut: »An den Herrn Unterrichtsminister in Wien. Wir ersuchen um sofortige Rehabilitierung unseres verehrten Professors Schneider, da Ihr Schützling (oder: Ihr Professor) Krainc unsere Wissenschaft und unsere deutsche Muttersprache in Gefahr bringt. Im Namen der deutschen Juristen Prags.« Es folgten unsere Unterschriften, die Namen von uns acht oder zehn Burschen, die wir losgegangen waren. Das Telegramm war abgeschickt, bevor noch eine Stunde nach dem Schlusse der Antrittsvorlesung vergangen war. Dieses niedliche Telegramm hatte ich aufgesetzt; ich hafte aber nicht für die Richtigkeit jeder Silbe. Ich besitze kein Archiv meines Lebens; auch bin ich nicht ganz sicher, ob nicht auf dem Telegraphenamte irgendein kleines Amendement vorgeschlagen und angenommen wurde.

Nachträglich fiel einem von uns ein – ich war nicht so besonnen –, daß es nicht gut anginge, im Namen der deutschen Rechtshörer zu handeln, ohne uns ihrer Zustimmung versichert zu haben. Die wurde rasch nachgeholt. Wir beriefen eine Versammlung in der Halle[178] ein und legten der Korona noch am gleichen Tage unser Telegramm vor. Als es nicht sofort gutgeheißen wurde, als ängstliche oder vernünftige Kollegen den Wortlaut tadelten, da blieb uns nichts anderes übrig, als ein Geständnis abzulegen. Daß wir nämlich das Telegramm schon abgeschickt hätten. Die Korona ließ uns nicht im Stich; uns wurde Indemnität erteilt, das Telegramm wurde anerkannt. Und das war gut. Denn schon am nächsten Morgen wurden wir Rädelsführer vor den Dekan unserer Fakultät zitiert, um uns zu verantworten. Der freundliche Dekan, der vorzügliche Pandektist Karl von Czyhlarz, ein fester Deutschböhme, fragte uns nicht allzustreng, ob wir wirklich diese Eingabe an den Herrn Minister verfaßt und unterschrieben hätten. Das Telegramm lag zerknittert auf dem Tische; wir sahen ordentlich oder glaubten zu sehen, mit welcher Wut der hochmögende Herr Minister das Blatt zusammengeknüllt hatte. Auf eine weitere Frage des Dekans konnten wir bestätigen, daß alle deutschen Juristen Prags hinter uns stünden.

Über die Folgen unseres jugendlichen Streichs blieben wir etwa zwei Monate im ungewissen, weil über unsere Bestrafung sich ein Kompetenzkonflikt erhob. Der Minister verlangte unsere Verurteilung durch den ordentlichen Strafrichter, was uns vielleicht übel bekommen wäre; die Universität bestand darauf, uns vor ihr Disziplinargericht zu ziehen. Ich war immer sehr genau davon unterrichtet, wohin in diesem Kompetenzkonflikte just das Zünglein an der Wage neigte. Die reichsdeutschen Professoren gaben mir ihr Wohlwollen deutlich zu erkennen. Einer von ihnen, der heute noch in Deutschland viel genannt wird, der von mir besonders hochgeschätzte Strafrechtler und Rechtsphilosoph Adolf[179] Merkel, kam öfter zu mir auf meine Bude, ließ sich alles genau erzählen, sprach schmunzelnd von »starkem Tobak« und davon, was mit uns geschehen müßte. Dem Richter würden wir nicht ausgeliefert werden; aber das Universitätsgericht würde zwei von uns relegieren müssen, mich und einen meiner Freunde, der bei dem Verhör seine Mitschuld ein wenig vergrößert hatte. Auch ein Deutschösterreicher, eben Karl Thomas Richter, versicherte mich unter kräftigen Händedrücken, er würde für meine Relegation stimmen. Und die wärmsten Empfehlungen für deutsche Universitäten wurden mir versprochen, nach Jena, Heidelberg oder Marburg. Ich durfte das Gefühl haben, den deutschen Professoren eine diebische Freude bereitet zu haben. Ich sah meiner Relegation mit Vergnügen entgegen, aber doch eigentlich ohne Begeisterung. »Sie« erwiderte meine Liebe immer noch nicht, und da war ja alles übrige gleichgültig.

Im November lasen wir eines Tages in der Zeitung, das Ministerium Hohenwart-Habietinek-Jiretschek wäre gestürzt. Wenige Tage später wurden wir Missetäter abermals vom Pedell zum Herrn Dekan zitiert. Wir wußten schon, es würde uns nicht an den Kragen gehen. Der Dekan setzte zwar seine Amtsmiene auf und verdonnerte uns ein bißchen, dann aber teilte er uns mit, der akademische Senat wäre übereingekommen, es bei einer Rüge bewenden zu lassen; und damit keiner von uns in seiner Laufbahn geschädigt würde, sollte diese mündliche Rüge in unser Absolutorium schriftlich nicht eingetragen werden. Er reichte jedem von uns die Hand und sagte urgemütlich: »Nicht wahr, solange ich Dekan bin, tun Sie so etwas nicht wieder! Ich habe zu viel Ärger davon gehabt.« Wir verließen das Universitätsgebäude mit dem stolzen Gefühle, zum[180] Sturze eines Ministeriums etwas beigetragen zu haben. Wir tranken viel an diesem Tage. Wir haben es gut gemeint. Sie haben es auch gut gemeint, die den Slowenen nachher recht schlecht behandelten, es sogar zu Realinjurien kommen ließen; ich glaube jetzt, wir können es doch nicht verantworten, wie wir dem armen Krainc weh getan haben.

Vielleicht habe ich es meiner entscheidenden Anteilnahme an der Affäre Krainc zu verdanken, daß ich von dem dritten Ereignis meiner Universitätszeit als von dem größten Erlebnisse meiner Schulzeit reden darf. Die Gründung der Straßburger Universität sollte am 1. Mai 1872 gefeiert werden. Auch Prag war eingeladen. Die älteste deutsche Universität sollte der jungjüngsten Schwester ihre Glückwünsche überbringen. Und in mir jubelt heute noch etwas auf, wenn ich daran denke, daß ich in die Deputation der deutschen Studentenschaft Prags gewählt wurde. Schwer war's freilich, das bißchen Reisegeld aufzutreiben. Schwer war's, unsern Rector magnificus mitzuschleppen, mehr fast durch Gewalt als durch Überredung; er war Deutscher, aber ein katholischer Herr.1 Schwer war's, meine Mutter zu beruhigen, als die tschechischen Zeitungen jeden sehr ernsthaft bedrohten, der nach Straßburg mitginge, als die tschechischen Studenten in einem Telegramm an Gambetta wieder unter Drohungen gegen die Vertretung Prags in Straßburg protestierten. Schwer war manche ganz lächerliche Kleinigkeit, die meiner unvergeßlichen Frühlingsfahrt hindernd in den Weg treten wollte. Aber was tat's? Ich bin doch dabei gewesen.[181]

Wie mir in diesen Tagen einer immerwährenden Bezechtheit und anderer seligerer Räusche zum ersten Male die Gestalt Bismarcks aufging und wie sich damals schon, besonders während der Heimkehr auf einsamen Wanderungen am Rhein und am Neckar, die Ideen zu kristallisieren begannen, denen ich erst mehr als zwanzig Jahre später meine beste Arbeitskraft widmen sollte, werde ich noch berichten. Keinem Teilnehmer kann die Erinnerung an diese Feste geschwunden sein; mir waren sie wie eine Taufe des heiligen Geistes.

Ein Zufall wollte es, daß ich den Abschluß meiner Schuljahre und die Abstemplung zum Schriftsteller an diese Frühlingsfahrt knüpfen kann. Ein unbedeutendes Wort, das mir damals eine Promovierung schien. Zu den gefeierten Gästen der Feier gehörte auch Berthold Auerbach. Auf der Fahrt nach dem Odilienberg, im Eisenbahnwagen, redete er mich an, der ich ihn nicht kannte. Er fragte ein bißchen viel und als ich mit Eröffnungen zögerte, nannte er seinen Namen. »Berthold Auerbach.« Herzensgut und kindlich eitel, wie ich ihn später in Berlin immer mehr kennenlernte. Ich war beglückt und gab nun jede Auskunft. Plötzlich sagte er zu mir: »Sie haben Tinte an den Fingern, junger Mann.« Ich empfand das als eine Auszeichnung; Auerbach hatte mich zum Schriftsteller ernanntVII.

1

Es war der Historiker Konstantin von Höfler, ein Bayer, der seine Münchener Professur verloren hatte, als er sich 1847 der Bewegung gegen die Tänzerin Lola Montez anschloß; er war 1851 nach Prag berufen worden.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 168-183.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon