XIX. Kritik der Sprache.

[204] Natürlich, für den passiven Widerstand meines Charakters war es natürlich, blieb ich Student der Rechte, ließ mich für das neue Semester inskribieren und besuchte nach wie vor die Vorlesungen der Herren, mit denen ich persönlich bekannt war oder von denen ich mir einen geistigen Gewinn versprach. Die Hauptfächer, die für die Ablegung des zweiten Examens notwendig waren, hörte ich nicht mehr. Einigen Professoren, die ich hochschätzte, sandte ich mein Büchlein zu; die Antworten liefen eigentlich alle darauf hinaus, daß ich vor dem Schriftstellerberuf, besonders aber vor Radikalismus und Pessimismus gewarnt und zum Abschlusse meines Rechtsstudiums gemahnt wurde. Sehr herzlich von Merkel, ganz besonders eindringlich von Randa.

Meine jungen literarischen Freunde beschränkten sich in ihrem Interesse darauf, meine Sonette harmlos und ohne Bosheit zu verspotten. Als ein beliebter Schauspieler des Prager Landestheaters etwa ein Dutzend der Sonette öffentlich zum Vortrag brachte (er sagte mir, ich müßte ihm ein neues Gebiß kaufen, weil er sich an meinen harten Versen alle seine Zähne ausgebrochen hätte), hätte ich mir einen lokalen Erfolg einbilden können. Ich will mich nicht besser machen als ich bin: die freundlichen Besprechungen dieser Vorlesung schmeichelten mir und ich hatte gewiß Stunden,[204] in denen ich stolz darauf war, zu den »Hoffnungen« des Prager Parnasses gezählt zu werden. Meine nächste Umwelt, die Familie und der Kreis der Studienfreunde, verhielt sich mißtrauisch oder abwartend, was ich damals sicherlich als eine Kränkung empfand.

Daran war nicht zu zweifeln, daß für das große Deutschland und für das übrige zukünftige Weltall, an das ich mich hatte wenden wollen, mein Gedichtbuch ein Schlag ins Wasser gewesen war. Auch in Prag war nach einiger Zeit von meinen geharnischten Sonetten nicht mehr viel die Rede.

Ich litt unter dem Mißerfolge eigentlich gar nicht, weil just während des Jahres 1873 sich in meinem Erleben etwas gestaltete, von dem ich damals noch gar nicht wußte, ob es ein ungeheurer Arbeitsplan oder eine Resignation auf jede schriftstellerische Tätigkeit war. Die sprachkritischen Ideen, die ich erst siebenundzwanzig Jahre später, dreimal neun Jahre später, in den drei starken Bänden herausgab, bemächtigten sich meiner mit einer Macht, der ich nicht widerstehen konnte. Ohne jede Vorarbeit, wie man ein lyrisches Gedicht niederschreibt, so setzte ich mich eines Tages hin, um wie mit einem wilden Anlauf die Ideen, die mich bedrängten, für mich selbst zu gestalten und so im Grunde erst zu erfahren, was in mir denken wollte. Einige Wochen lang arbeitete ich Tag und Nacht an dieser ersten Fassung meiner Sprachkritik, leidenschaftlich und mit dem Bewußtsein, Unerhörtes zu sagen. Das Manuskript war nicht mehr ganz klein, als mir das Bedürfnis kam, mich mit der Lehre Kants auseinanderzusetzen. Da wurde es mir plötzlich klar, daß mir die allermeisten Vorkenntnisse für meine Arbeit fehlten. Von Kant und anderen Philosophen (Schopenhauer etwa ausgenommen)[205] wußte ich wenig, von der neuern Sprachwissenschaft so gut wie nichts. Ich war ein Ignorant auf dem Gebiete, auf welchem ich reformatorische Ideen zu haben geglaubt hatte. Mir fehlte unbedingt der nötige Schulsack. Vielleicht hatten sich die großen Denker, die ich nicht kannte, an den Schuhsohlen abgelaufen, was ich für meine eigenen Eingebungen hielt. Auf das Hochgefühl, mit dem ich wochenlang meinen Gedankengang hinausgebraust hatte, folgte eine geistige Verzweiflung, in welcher ich zwischen ganz gemeinen Räuschen und Selbstmordplänen hin und her schwankte. Da half mir wieder die seit meiner Erkrankung bestehende Überzeugung, ich wäre ein Todeskandidat. Ich warf das wüste Manuskript ins Feuer und faßte den feierlichen Entschluß, an einen Erfolg, an eine dichterische Tätigkeit überhaupt nicht mehr zu denken, ebensowenig wie an die Wiederaufnahme der Rechtsstudien, dagegen die kurze oder längere Zeit, die ich noch zu leben hatte, Erkenntnistheorie und Sprachwissenschaft zu studieren, um mir zu einiger Deutlichkeit über die rebellischen Ideen zu verhelfen, die mich bedrängten. Ich bin diesem Vorsatze ja nicht ganz treu geblieben. Ich habe bald nachher den Schriftstellerberuf trotzig-bewußt ergriffen, im Kampfe ums Dasein, weil doch der Mensch sein Brot durch redliche Arbeit verdienen »soll«, und habe in diesem Berufe sehr viel, viel zu viel an Romanen, Novellen und Zeitungsaufsätzen geschrieben. Aber in den langen Jahren dieser strengen Arbeit habe ich meinem Vorsatz, Erkenntnistheorie und Sprachwissenschaft im Dienste meiner sprachkritischen Gedanken zu studieren, doch eigentlich keinen Tag vergessen und darf mich wenigstens rühmen, fleißig gewesen zu sein. Die Vorstellung, ein Todeskandidat zu sein, mußte ich endlich[206] zu meiner Verwunderung aufgeben, da mein Körper die doppelte Arbeit aushielt. Nach dem Frondienst der Tagesarbeit gehörte fast jede halbe Nacht meinen eigenen Studien. Das Doppelleben führte ich, unerbittlich gegen mich selbst, bis zu Ende durch; zwanzig Jahre lang dauerte die Vorarbeit zu meinem sprachkritischen Werke und während dieser ganzen Zeit habe ich fast keiner menschlichen Seele verraten, daß mich noch etwas ganz anderes beschäftigte als meine Romane und meine Zeitungsaufsätze. Vielleicht lag es an diesem Doppelleben, daß ich manche der Schriften, die ich damals veröffentlichte, zu leicht nahm. Erst im Jahre 1893, als ich die Niederschrift meines Buches begann, als die siebenjährige Mordsarbeit der Gestaltung meiner Ideen mich aufzureiben schien, fühlte ich mich geborgen und war meines Zieles sicher genug, so daß ich mein Geheimnis drei Menschen mitteilen konnte.

Wie diese sprachkritischen Gedanken in meinem Kopfe entstanden sind, weiß ich kaum genau mehr anzugeben. Ich könnte kein einzelnes Buch oder Erlebnis nennen, auch kein zugeflogenes Wort, keinen mir bewußten unmittelbaren Einfluß. Es geschieht auch nicht zur Kurzweil des Lesers, wenn ich mir Mühe gebe, gewissenhaft zu erforschen, von wo die in der Luft fliegenden Keime des sprachkritischen Gedankens mir zugeflogen sein mögen. Bestimmt weiß ich nur, daß der Schrecken über die Sprache, dessen Analyse ich dann zu meiner Lebensaufgabe machte, mich einmal auf einem langen Marsche überfiel, als ob ich einen Schlag vor die Stirn erhalten hätte. Vorgänger, deren Worte ich in meinem Buche immer verzeichnet habe, lernte ich erst viel später in den langen Jahren der Vorarbeit kennen.[207]

Sicher habe ich schon als Knabe einige Fragen der Sprachphilosophie ahnungslos als Fragen empfunden. In einem zweisprachigen Lande, wie gesagt, dazu als Jude in der Lage häufig eine dritte Sprache, das Deutsch der böhmischen Juden zu vernehmen und zu verhöhnen, war ich in früher Jugend schon bereit, die törichte Frage zu stellen: warum ist dieser Ausdruck richtig und der andere nicht? Dazu mochte kommen, daß mein Vater – mit ungenügender Sachkenntnis freilich – es liebte, uns auf die Besonderheiten der drei Sprachen aufmerksam zu machen. Dann aber klingen mir noch heute in den Ohren einige Verse eines Mannes, der weder ein Denker noch ein Dichter war, die aber einen starken Eindruck auf den Knaben, vielleicht gar schon auf das Kind gemacht haben müssen. Reime von Kotzebue, aus seinem nachgemachten Gedichte »Der Ausbruch der Verzweiflung«1. Es war ein Lieblingsstück meiner Mutter, sie konnte es auswendig und sprach es uns Kindern häufig vor; immer, wie ich jetzt glaube, wenn sie Schweres niederzukämpfen hatte und uns ihre Stimmung, anstatt persönlich zu klagen, durch die Reimereien Kotzebues mitzuteilen vorzog. Es ist sicherlich eine übertriebene Pedanterei, wenn ich auch dieses »Gedicht«, das beim Nachlesen wie ein umgekehrter, geifernder und darum gar nicht komischer Brockes auf mich wirkte, nenne, da ich die Anregungen zu meiner Sprachkritik überdenke. Aber – wie gesagt – es muß einen starken Eindruck auf mich gemacht haben, da[208] noch heute, nach mehr als 50 Jahren, noch just die Zeilen im Gedächtnisse haften, die die Vernunft und die Sprache zu verhöhnen vermeinten.


»Die Vernunft, – ei, wie in meinen Ohren

Bettelstolz dies Wörtchen tönt.

Wehe uns, ihr eitlen Toren,

Die ihr einem Götzen frönt! ...

Klauen, Zähne sind die Waffen,

Die man unter Tieren trifft;

Worte, Schwerter, Blicke, Gift,

Sind für Menschen nur geschaffen.«


Wie stark bei mir, einem Schwätzer von Natur, die Andacht zum Schweigen war, noch bevor mich der Schrecken der Sprache überfiel, mögen die Verse bezeugen (aus dem Jahre 1871), die meine Revolutionssonette beschließen. Ich hatte die Sternengreise aufgerufen, mir das Schicksal der Menschen nach ihrer großen Revolution vorauszusagen; die Sterne antworteten mir:


»Unbewegt beharren wir, zu zeigen

Himmelslicht den Erdenfinsternissen;

Sehen nicht und wissen nicht und schweigen.

Arme Menschen, die ihr mußtet missen

Ruh' und Glück, die unser Göttereigen:

Nicht zu sehen, nicht zu wissen.«


Ich habe wenige Jahre nach dem Erscheinen meiner Sprachkritik, durch Anfragen angeregt und durch mancherlei bösen Willen gereizt, Rechenschaft darüber zu geben versucht, wie entscheidend drei Männer, Otto Ludwig, Nietzsche und Bismarck, auf die Ausbildung meiner Ideen eingewirkt hatten: in einem Briefe an Maximilian Harden; dieser Rechenschaftsbericht ist unter dem[209] Titel »Die Herkunft des sprachkritischen Gedankens« am 2. April 1904 in der »Zukunft« erschienen. Bevor ich diesen Brief hier noch einmal abdrucke, möchte ich noch einen vierten Namen nennen, den von Ernst Mach. Mach selbst hat mich vor einigen Jahren – er gab mir wieder einen Beweis seines erstaunlichen Gedächtnisses – daran erinnert, daß ich als junger Student in Prag einen seiner öffentlichen Vorträge angehört und nach der physikalischen Darlegung die Erlaubnis erbeten hatte, ihm einige begriffliche Bedenken vorlegen zu dürfen. In dem gleichen Jahre 1872 ließ mich Mach seinen Vortrag über »Die Erhaltung der Arbeit« lesen und ich erhielt, so wenig ich damals von mathematicher Mechanik verstand, einen Anstoß, der ohne mein Wissen durch Jahrzehnte fortgedauert haben muß. Denn als ich fast dreißig Jahre später diesen Vortrag las, ohne mich der ersten Lektüre zu erinnern, war ich über die sprachkritischen Ahnungen erstaunt und hatte plötzlich die entschiedene Vorstellung, alle diese schlagkräftigen Formulierungen schon einmal in mich aufgenommen zu haben. Machs erkenntnistheoretischer Positivismus – der die metaphysischen Worte nicht, wie Auguste Comte, haßt, sondern psychologisch beschreibt, also erklärt – hatte in meinem Unterbewußtsein nachgewirkt.

Mein Bericht über die Herkunft des sprachkritischen Gedankens aber lautete:


»Lieber Freund.


Sie kennen die beiden Finten, die nacheinander gegen eine neue Lehre von unehrlichen Gegnern angewandt werden. Zuerst wird das Neue, weil es gegen die allgemeine Meinung verstößt, also in wörtlichem Sinne paradox[210] ist, für widersinnig erklärt, für unsinnig, für paradox im schlechten Sinn. Vor ihrer Anerkennung ist jede Wahrheit paradox. Pythagoras opferte hundert Ochsen, da er seinen Lehrsatz gefunden hatte; seitdem zittern alle Ochsen, nach dem geistreichen Worte Börnes (oder vielmehr Kästners), wenn eine neue Wahrheit gefunden wird. Die zweite Finte ist perfider, weil sie weniger dumm ist. Man sagt von der neuen Wahrheit, wenn sie sich durchzusetzen beginnt, daß sie uralt sei. Und da alles Gescheite schon einmal gedacht worden ist, so ist dieses Vorgehen der Verkleinerungssucht niemals völlig falsch. Alles ist schon einmal dagewesen. Rabbi Akiba hat recht. Nur wird bei dieser zweiten Finte eine häßliche Unredlichkeit geübt, die selbst Schopenhauer in seiner grimmigen Schrift gegen die Philosophieprofessoren der Professorenphilosophie übersehen hat. Der Verfasser des Werkes hat natürlicher- oder törichterweise sehr viel gelesen und gewissenhaft und freudig all die Stellen zitiert, an denen ältere Selbstdenker sich seinem neuen Gedanken nähern oder ihn auch schon halb aussprechen, ohne seine Wichtigkeit zu ahnen. Die Gegner tun nun so, als hätten sie all diese versteckten Stellen selbst schon beachtet und gesammelt, und halten mit fälschender Übertreibung dem Verfasser die von ihm selbst zitierten Anklänge entgegen, die ihn während der Arbeit erfreut und ermutigt haben. Die Torheit solcher Angreifer ist aber vielleicht noch größer als ihre Unehrlichkeit. Sie glauben wirklich, ein eigenes Werk, die Konzeption einer eigenen Weltanschauung entstehe so wie ein deutscher Schulaufsatz oder wie eine Doktordissertation: indem ein jüngerer oder älterer Schüler Stücke aus älteren Aufsätzen zu einem neuen Aufsatze zusammenstückelt. Die Armen wissen nichts vom[211] künstlerischen Schaffen, das auch im wissenschaftlichen Denken allein lebendig ist. Die Armen wissen nicht, wie unbewußt der dominierende Gedanke sich der Seele bemächtigt haben muß, bevor sich Daten aus allen Wissenschaften ankristallisieren.«

Man wird es unbescheiden finden, wenn ich den Erfahrungssatz, daß die gleichen Bodenelemente in der Buche zu Eckern, im Pfirsichbaum zu Pfirsichen metamorphosiert werden, daß die anregenden Motive für den neuen Gedankengang vollständig umgeschaffen werden müssen, – man wird es unbescheiden finden, wenn ich diesen Satz für die Herkunft meines eigenen Gedankens in Anspruch nehme. Ich trotze dem Vorwurf der Unbescheidenheit. Ich trotze ihm am liebsten vor den Lesern der »Zukunft«, weil da oft mit Achtung und Wärme von meiner »Kritik der Sprache« gesprochen wurde. Ihre eigene Meinung kenne ich ja; und die einzigen Zeugen unserer langen Unterhaltungen, die Kiefern des Grunewaldes, verstehen die Worte Bescheidenheit und Unbescheidenheit gar nicht.

Eigentlich könnte nur eine getreue Autobiographie helfen, die Herkunft einer neuen Erfindung, einer neuen Lehre festzustellen, soweit eben Treue sicher zwischen Wahrheit und Dichtung unterscheiden kann. Ein wenig pathologisch ist jeder Finder und Erfinder, ein wenig unbescheiden ist jede Autobiographie.

Ich habe Ihnen einmal erzählt, daß mein Spielen mit dem sprachkritischen Gedanken, ja, eigentlich schon die entscheidende Stimmung bis in frühe Jugend zurückreicht. Hier möchte ich nur darüber berichten, wie vor etwa dreißig Jahren die Arbeit in der Gedankenwerkstatt begann, wie bei der Entbindung der sprachkritischen Idee zwei merkwürdige Bücher und eine große[212] Persönlichkeit mithalfen. Otto Ludwig und Friedrich Nietzsche hatten die beiden Bücher geschrieben. Der Fürst Bismarck war die große Persönlichkeit.

Die Jugend von heute kann sich keine Vorstellung davon machen, eine wie tiefe Wirkung Otto Ludwigs »Shakespeare-Studien« auf die Jugend von vor dreißig Jahren ausübten. Wer damals etwa im vierundzwanzigsten Jahr stand, hatte als zehnjähriger Knabe das lodernde Aufflammen der Schillerbegeisterung bei der Schillerfeier von 1859 mit erlebt, hatte den Fackelzug geschaut, hatte die politische Bedeutung der Feier nicht geahnt und vermeintlich für Lebenszeit die Vorstellung gewonnen: wie im Dichter überhaupt alle Menschengröße, so sei in Schiller alle Dichtergröße vereint. Der Naturalismus war noch nicht neu benannt. Was damals in der deutschen Literatur realistisch hieß, die ersten Romane von Freytag und die hübschen alten Novellen von Auerbach, das dachte selbst nicht daran, sich dem unsterblichen Schiller gegenüberzustellen. Schiller war ein dichterischer Nationalheiliger. Eigentlich der einzige. Der Goethekultus, abgesehen von einzelnen Gemeinden des Urgoethetums, war erst im Entstehen.

Und nun erfuhren wir aus Ludwigs »Shakespeare-Studien«, daß einer aus dem Kreis der bescheidenen Realisten sein ganzes Leben und sein halbes Schaffen scharfsinnigen Untersuchungen über die poetischen Sünden Schillers geopfert hatte. Die Wirkung war zuerst eine Verblüffung und dann eine förmliche Revolution in den ästhetischen Überzeugungen. Der spätere Naturalismus hatte im Vergleich dazu nur die Bedeutung einer Revolte. Wir müssen heute sagen: Otto Ludwig war mit seiner Schillerkritik im Recht, ganz gewiß subjektiv, weil er ernst und ehrlich war, gewiß aber[213] auch objektiv, wenn das neue deutsche Drama füglich die Wege Heinrichs von Kleist gegangen ist. Wir können Schiller lieben, ohne ihn als Vorbild gelten zu lassen. Wir können heute übrigens auch das Einseitige und allzu Schematische in den Shakespeare-Studien wahrnehmen. Damals fühlten wir nur das eine: der Mann hat recht. Wir sahen in Otto Ludwig den Verkünder einer neuen Zeit, den Johannes eines neuen dramatischen Messias, auf den Christen und Juden bekanntlich immer noch warten.

Wer nun selbst zum Grübeln veranlagt war, wer besonders mit dem Geheimnis der Sprache in Liebe und Haß nicht fertig werden konnte, der war geneigt, den Faden der Shakespeare-Studien weiterzuspinnen. Was mehr als zwei Menschenalter hindurch die Deutschen entzückt hatte, Schillers schöne Sprache, wurde vom Shakespeare – Enthusiasten getadelt. »Schönheit der Sprache am unrechten Ort wird zum Fehler und damit zur Unschönheit.«

Das wollten wir nicht für Schiller allein gelten lassen. Jede Zeit hat ihre eigene »schöne Sprache«. Niemals ist von den Zeitgenossen das Beste an einem großen Dichter »schöne Sprache« genannt worden. Das Ungeheure an Shakespeare, sein harter Blick in die Wirklichkeitswelt und seine dämonische Charakterisierungskraft: das lobte niemand als schöne Sprache. Worin aber Shakespeare der Sklave seiner Zeit war, sein Spielen mit Antithesen, Wortanklängen und toten Symbolen aus der antiken Mythologie: all diese Schönheitsfehler gerade mußten seiner Zeit als schöne Sprache erscheinen. Schön ist den Zeitgenossen in der Sprache immer nur eigentlich der Gedankeninhalt; und der wieder nur, wenn er mit glatter Banalität der Weltanschauung der Zeitgenossen[214] entspricht, sei nun diese Weltanschauung eine neue Mode oder eine neue Philosophie.

War nun »Schönheit der Sprache« nicht das richtige Kunstmittel, sollte die Sprache als Werkzeug der Poesie untersucht werden, so mußten wir radikaler sein als Otto Ludwig. Der hatte für die praktischen Zwecke seines dramatischen Handwerkes Schiller und Shakespeare verglichen. Wollten wir das Geheimnis der Sprache als Kunstmittel erforschen, so mußte Schiller gegen einen Näheren gehalten werden, der Dichter der schönen Sprache gegen den Dichter an sich, gegen Goethe. Was da an liebloser Kritik namentlich der Gedichte Schillers und an liebevollem Verstehen des ganzen Goetheschen Wesens herauskam, das ließ bald die bloß ästhetischen Anregungen Ludwigs weit hinter sich. Die Frage nach dem Wesen der Sprache als Kunstmittel führte zu der tieferen Frage nach dem Wesen der Sprache als Erkenntniswerkzeug. Goethe führte unmittelbar in den sprachkritischen Gedanken hinein. Den Sprachbeherrscher ohnegleichen begleitete von der Jugend bis ins höchste Alter ein Mißtrauen – um nicht zu sagen: ein Haß – gegen die Sprache. Ein solcher Haß gegen das beste Mittel des eigenen Schaffens ist immer aus Liebe geboren. So mag ein genialer Maler die realen, im Laden käuflichen Farben verfluchen, die sich schwer zur Darstellung seiner Künstlerträume verschmelzen lassen. So wurden Friedrich der Große und Bismarck Verächter der Menschen, die ihnen zu neuen Zielen nicht schnell genug gehorchten. Goethe nannte sich einmal selbst den Todfeind von Wortschällen. Und bei Gelegenheit von Hamann, dem Magus des Nordens, der den sprachkritischen Gedanken bei Goethe und anderen wie kein zweiter Deutscher gefördert hatte, spricht Goethe die entscheidende[215] Wahrheit aus: Alles Vereinzelte sei verwerflich; bei jeder Überlieferung durchs Wort jedoch, die nicht gerade poetisch ist, finde sich eine große Schwierigkeit. Denn das Wort müsse sich ablösen, es müsse sich vereinzeln, um etwas zu sagen, zu bedeuten. Der Mensch, indem er spricht, müsse für den Augenblick einseitig werden. Da war bei Goethe, dem Poeten und dem Weisen, zusammengedacht, was uns bisher in zwei verschiedenen Denkreihen auseinandergefallen war. Die Sprache als Werkzeug der Poesie war das edelste Kunstmittel, erhob für uns die Poesie über alle anderen Künste. Dieselbe Sprache war ein unbrauchbares, ein elendes Werkzeug der Erkenntnis. Dieser Widerspruch – Widersprüche gibt es nur in der Sprache oder im Denken des Menschen, nicht in der Wirklichkeitswelt – dieser scheinbare Widerspruch wurde nicht nur aufgelöst, sondern als notwendig erkannt, wenn erst das Wesen des Wortes ein wenig aufgehellt war und dann die Beziehungen des Wortes zur Poesie oder Wortkunst auf der einen, zur Welterkenntnis oder Philosophie auf der anderen Seite. Die Poesie ist ein Sinnenreiz durch Worte. Aber die Worte geben keine Anschauung, weder in der Poesie noch in der Wissenschaft. »Jedes einzelne Wort ist geschwängert von seiner eigenen Geschichte, jedes einzelne Wort trägt in sich eine endlose Entwicklung von Metapher zu Metapher.« Daher kommt es, daß die Worte unserer Sprache nur in den seltensten Fällen den Begriffen entsprechen, mit denen die Schullogik arbeitet, daß die Begriffe oder Worte keinen starren Umfang und keinen definierten Inhalt haben, daß vielmehr ein zitteriger Umfang, ein nebelhafter Inhalt die Worte der lebendigen Sprache mindert oder erhöht, wie man's nimmt. Dieses Schweben und Weben in den einzelnen[216] Worten kann keine Anschauung geben, nur Assoziationen kann es wecken, Assoziationen und Erinnerungen. Und weil die menschliche Sprache nichts ist als die Gesamtheit der menschheitlichen Entwicklung, als die ererbte und erworbene Erinnerung des Menschengeistes, darum sind die Worte reicher an Assoziationen als die Töne der Musik oder als die Farben der Malerei. Und weil die Bilder des Dichters nicht die Wirklichkeit wiedergeben, sondern des Dichters Stimmungen und Gefühle gegenüber der Wirklichkeit, darum ist das Schwebende in den Begriffen, der Gefühlswert in den Worten ein so ausgezeichnetes Mittel der Wortkunst. Lange bevor es in der Malerei eine impressionistische Technik gab, war in der Poesie diese Übung zu Hause. Diese Worte haben immer zitterige Umrisse gehabt, die Sprache ist immer impressionistisch gewesen. Eine Wortanalyse der schönsten Gedichte Goethes machte diese Wahrheit deutlich. Erst die Stimmung, die vom Dichter zum Leser oder Hörer übergeht, vereint die zitternden Worte wieder zu dem Bilde, das der Dichter mitteilen wollte.

Dieses Schweben und Zittern um die Worte macht aber dieselbe Sprache unlogisch, unpräzis, macht sie zu einem schlechten Werkzeug der Wissenschaft, macht sie vor allem ganz unfähig, aus Worten Welterkenntnis oder Philosophie herauszuspinnen. Die Sprache ist ein Werkzeug, mit dem sich die Wirklichkeit nicht fassen läßt. Im besten Fall sind die Worte orientierende Erinnerungen an Sinneseindrücke. Darum ist die Sprache in ihrem Wesen materialistisch, kann bestenfalls in den einzelnen Naturwissenschaften dem Ordnungstrieb der Menschen dienen, kann bestenfalls der Weltanschauung des Materialismus genügen, kann aber über den[217] Materialismus hinaus dem unausrottbaren metaphysischen Bedürfnis nicht helfen. Weil unser Denken nur Sprechen ist, darum müssen wir uns in allen Wissenschaften auf das Beschreiben beschränken und gelangen nicht zum Erklären. Auf diesem Wege ungefähr führte bereits die ästhetische Sprachkritik Ludwigs zu einer erkenntnistheoretischen Sprachkritik hinüber.

Mit einer gewaltsamen Losreißung von Schiller, nicht von der edlen Persönlichkeit des Dichters, sondern nur von seiner Psychologie und Sprache, fing es an. Welcher Abgrund sich da endlich auftat, zeigte ein Blick auf eins seiner bekanntesten Gedichte. In den »Worten des Wahnes« hat Schiller an einigen stolzen Begriffen Sprachkritik geübt. Die Goldene Zeit, die Gerechtigkeit auf Erden, die Entschleierung der Wahrheit sind Schatten. »Verscherzt ist dem Menschen des Lebens Frucht, solang' er die Schatten zu haschen sucht.« Zwei Jahre früher, doch schon nach mehrjährigem Verkehr mit Goethe, schrieb Schiller aber ganz wortabergläubig »die Worte des Glaubens«:


»Drei Worte nenn' ich euch, inhaltschwer,

Sie gehen von Munde zu Munde ...

Dem Menschen ist aller Wert geraubt,

Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt.«


Es sind die Begriffe: Freiheit, Tugend und Gott, dieselben Begriffe, die Kant durch die Hintertür der »Praktischen Vernunft« (doch schon vorher in der »Metaphysik der Sitten«) wieder eingeführt hatte, nachdem sie von ihm in der »Kritik der reinen Vernunft« eben hinausgewiesen worden waren. Es sind für Kant und für Schiller Worte des Glaubens, Bedürfnisse des Herzens. »Und stammen sie gleich nicht von außen her:[218] Euer Inneres gibt davon Kunde.« Und nun lesen Sie die Eingangverse des Gedichtes noch einmal, ohne Änderung, ohne Parodie, ohne Bosheit, nur etwa mit der Verachtung ewiger Wahrheiten, die uns inzwischen Friedrich Nietzsche, der Umwerter aller Werte, gelehrt hat. Und Schillers Gedicht verwandelt sich in eine höhnische Parodie seiner selbst:


»Drei Worte nenn' ich euch, inhaltschwer,

Sie gehen von Munde zu Munde ...

Dem Menschen ist aller Wert geraubt,

Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt.«


Ich bitte Sie nur, laut zu lesen und die Lautgruppen »Worte« und »Wert« so auszusprechen, wie wir sie empfinden. Sie gehen wirklich nur »von Munde zu Munde«.

Von dem Friedrich Nietzsche, der später als Dichter des Zarathustra und als antichristlicher Verkünder einer neuen Herrenmoral, jenseits von Gut und Böse, so einflußreich wurde, konnten wir vor dreißig Jahren noch nichts wissen. Noch nichts wissen von der glänzenden Wortkritik, die Nietzsche an der beschränkten Gruppe moralischer oder moralinsaurer Begriffe üben würde. Der spätere Nietzsche wäre der Mann gewesen, mit unvergleichlicher Sprachkraft Sprachkritik zu treiben, wenn er den Dichter in sich selbst und den Denker auseinanderzuhalten vermocht hätte, wie Goethe es doch vermochte, und wenn er mit seinem stärksten Interesse über moralische, also eigentlich theologische Fragen hinausgelangt wäre. Genug: seine bekanntesten Werke waren noch nicht geschrieben und fast wie durch ein Wunder nur gelangten die ersten Schriften Nietzsches schon damals in unseren studentischen Kreis.[219]

Einige eingefleischte Wagnerianer begeisterten sich an der »Geburt der Tragödie«. Wir anderen wußten mit diesem Buch wenig anzufangen, in dem die Psychologie des Genies ebenso gut ist wie schlecht und unhaltbar die historische Auffassung. Die erste unzeitgemäße Betrachtung, die den feinen und verdienstvollen Strauß, den Bekenner des neuen Glaubens, als den Bildungsphilister an den Pranger stellte, mißfiel uns. Sie schien uns ein gut geschriebenes Pamphlet, einseitig und ungerecht. Nur das neue Wort »Bildungsphilister« prägte sich uns mit dem, was es bedeutete, unauslöschbar ein. Und dann kam die zweite unzeitgemäße Betrachtung; sie schlug wie ein Blitz unter uns hinein: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.« Für mich selbst kann ich eingestehen, daß nie wieder ein Werk von Nietzsche einen so übermächtigen Eindruck auf mich gemacht hat wie diese einfach und verhältnismäßig ruhig gehaltene Abhandlung. Und ich halte sie noch heute für die fruchtbarste, subjektiv und objektiv wahrste unter Nietzsches Schriften. Wie hatten wir unter dem Leiden geseufzt, für das es kein Heilmittel gab, das wir nicht einmal benennen konnten! Das Leiden, das nun plötzlich bei seinem Namen gerufen wurde: die historische Krankheit oder der Historismus, hatte uns unsere wissenschaftliche Jugend geraubt. Er lag über den Vorträgen unserer Lehrer ebensosehr wie über dem öffentlichen Leben. Wenn man den Historismus als die herrschende Macht oder die herrschende Krankheit des neunzehnten Jahrhunderts auf die kürzeste Formel bringen will, so kann man sagen: der Historismus war die romantische Reaktion gegen die Tendenzen der großen Französischen Revolution von 1789. Hegel hat einmal den Meisterwitz gemacht, die Französische[220] Revolution habe die Welt auf die Vernunft, also auf den Kopf gestellt. Man könnte den geistreichen Scherz umkehren: die romantische Reaktion, die namentlich in Deutschland nach dem Sturz Napoleons, also nach der scheinbaren Beendigung der Revolution, einsetzte, hat die Welt auf die Geschichte, also auf die Unvernunft gestellt. Der Begriff der Entwicklung wurde ja erst später auf die Geschichte angewandt. Der leitende Historismus des neunzehnten Jahrhunderts stemmte sich gegen Revolution ebenso wie gegen Evolution. Besonders wir Juristen hatten ein Recht, über den Historismus zu klagen. Das anerkannte Haupt der historischen Rechtsschule, Savigny, hatte sich dem Vernunft- und Naturrecht des achtzehnten Jahrhunderts gegenübergestellt und ewig wurde uns sein berühmter Satz wiederholt, daß unsere Zeit keinen Beruf zur Gesetzgebung habe. Wir wissen jetzt alle, wie diese Äußerung des Historismus durch die Lebensarbeit Bismarcks, des Illegitimistischen, also Unhistorischen, über den Haufen geworfen wurde. Bezeichnend ist, daß das geflügelte Wort des Historismus, das verhängnisvolle Wort Hegels, in seiner Philosophie des Rechtes zu finden ist, niedergeschrieben zur Zeit der Karlsbader Beschlüsse und der Wiener Schlußakte, das Wort: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.«

Heute haben wir aus den Notizen des zweiten Bandes von Nietzsches Nachlaßschriften erfahren, wie scharf sich Nietzsche in seiner zweiten Unzeitgemäßen gerade gegen Hegels Geschichtsphilosophie wenden wollte. Hegel finde die Vernunft in der Geschichte selbstverständlich, wie schon Kinder zu den Erzählungen einen Zweck, eine Moral fordern. »Aber wir fordern gar keine[221] Erzählungen vom Weltprozeß, weil wir es für Schwindel halten, davon zu reden.« In der damals allein vorliegenden zweiten Unzeitgemäßen griff Nietzsche besonders hart den neusten philosophischen Vertreter der Weltprozeßideen an, den Philosophen des Unbewußten, gegen den er Grobheiten aus der Rüstkammer Schopenhauers heranholt. Doch eigentlich gilt der Kampf dem Historismus Hegels. »Wer erst gelernt hat, vor der ›Macht der Geschichte‹ den Rücken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaftmechanisch sein ›Ja‹ zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zahlenmajorität, und bewegt seine Glieder genau in dem Takt, in welchem irgendeine ›Macht‹ am Faden zieht.«

So packte uns die Schrift Nietzsches zunächst bei unserem Interesse für das öffentliche Leben. Und wir deutschen Studenten der Prager Universität standen durch den unablässigen Kampf mit den tschechischen Kommilitonen gar sehr im öffentlichen Leben, mehr, als es sonst gern gesehen wird. Doch darüber hinaus meldeten sich Fragen von entscheidender Bedeutung. War die Historie noch eine Wissenschaft im strengsten Sinn, wenn die Erzählung keine Moral hatte, wenn keine Vernunft in der Geschichte war, wenn es keine historischen Gesetze gab? Nietzsche hat den Satz damals nicht ganz klar formuliert, aber seine Meinung ist deutlich genug ausgesprochen. In anderen Wissenschaften seien die Allgemeinheiten das Wichtigste, insofern sie die Gesetze enthalten; nicht so in der Geschichte. Und viel stärker noch: »Wie, die Statistik bewiese, daß es Gesetze in der Geschichte gäbe? Gesetze? Ja, sie beweist, wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist: soll man die Wirkung der Schwerkräfte Dummheit,[222] Nachäfferei, Liebe und Hunger Gesetze nennen? Nun, wir wollen es zugeben, aber damit steht dann auch der Satz fest: soweit es Gesetze in der Geschichte gibt, sind die Gesetze nichts wert und ist die Geschichte nichts wert.«

Da hatten wir also mit einem Schlagwort das Gegengift gegen die historische Krankheit. Die Geschichte der Menschheit ist unvernünftig oder irrational, ist eine Zufallsgeschichte; es gibt keine historischen Gesetze.

Nun hatte unser Nachdenken über die Schönheit oder die Unschönheit der sogenannten schönen Sprache inzwischen zu einer leidenschaftlichen Beschäftigung mit sprachwissenschaftlichen Fragen geführt. Die ästhetische Ausbeute war anfangs gering. Noch viel mehr als in der Gegenwart beschäftigte sich die Sprachwissenschaft damals fast ausschließlich mit dem Aufspüren und Kodifizieren der Lautgesetze. Noch hatten die Junggrammatiker den Streit um den Begriff der Lautgesetze nicht begonnen, noch war Wechßlers Frage »Gibt es Lautgesetze?« nicht aufgeworfen, noch hatte Hermann Paul sein wertvolles Werk nicht geschrieben, das nicht Prinzipien der Sprachwissenschaft, sondern »Prinzipien der Sprachgeschichte« heißt. Aber es lag für uns doch in der Luft, die antihistorischen Ideen Nietzsches auch auf den Zweig der Geschichte anzuwenden, der als Sprachwissenschaft zu viele Gesetze aufstellte. Mag sein, daß Sprachgeschichte Kulturgeschichte ist, unter die vage Rubrik »Völkerpsychologie« gehört, nur großzügig zu verstehen ist, einerlei: wenn es keine historischen Gesetze gibt, gibt es auch keine Gesetze der Sprachgeschichte. Die mechanischen Gesetze haben ihren enorm praktischen Wert, weil sie für alle Zukunft und für alle Vergangenheit ausnahmelos[223] gelten. Mit Hilfe der Gesetze der Physik und Mechanik kann man den noch nicht erfundenen Maschinen bestimmte Aufgaben stellen, kann man längst vergangene Veränderungen der Erdrinde häufig mit Sicherheit beschreiben. Mit Hilfe der Sprachgesetze kann man weder die künftige Entwicklung der Sprache voraussagen noch einen vorhistorischen Zustand der Sprache rekonstruieren. Die Aufstellung der indoeuropäischen Ursprache war ein ausgeträumter Traum.

Die Kritik des Begriffes Gesetz führte aber weiter und weiter über Nietzsches Leugnung historischer Gesetze hinaus. Es ergab sich, daß Platon und Aristoteles das Wort Gesetz nur metaphorisch auf die Natur anwandten, daß sie mit der Behauptung recht hatten, in »Naturgesetz« stecke ein bildlicher Ausdruck. »Sind wir so erst ganz einig darüber, daß unser ganzes menschliches Wissen in unseren Wahrnehmungen besteht, unser Denken oder Sprechen einzig und allein in der bequemen Ordnung dieser Wahrnehmungen (durch Begriffe oder Worte, die ähnliche Wahrnehmungen zusammenfassen), so werden wir bescheiden weiter sagen, daß wir Gesetze die Begriffe zu nennen pflegen, die besonders regelmäßige Naturbewegungen oder Änderungen zusammenfassen. Gespenster, die pünktlich zur gleichen Stunde erscheinen. Wir nennen die Regelmäßigkeiten in der Mechanik, die wir bis auf die kleinsten Bruchteile beobachten gelernt haben, Gesetze, wie wir die Regelmäßigkeiten in der Biologie, die noch sehr schlecht beobachtet sind, ebenfalls Gesetze nennen.«

Noch viel energischer über den Nietzsche der unzeitgemäßen Betrachtungen hinaus führte zuerst die Ahnung, dann die Gewißheit, daß es außerhalb unserer Sprache auch keine aktiven Denkgesetze gibt. Unter der[224] Kritik der Denkgesetze geriet der Jahrtausende alte Bau der Schullogik ins Wanken. Und der sprachkritische Gedanke, der schon durch Ludwigs Zweifel an dem Schillerischen Schönheitsideal geweckt und zu erkenntnistheoretischen Fragen geführt worden war, ging von Nietzsches Zweifel an den historischen Gesetzen zu den letzten Fragen der Erkenntnistheorie, zu den Abgründen, die sich jetzt vor den Blicken auftaten. War der sprachkritische Gedanke wirklich, wie einmal Hebbel scharf ausgesprochen hatte, wie aber schon Hamann und seine Anhänger, Herder und Jacobi, unmittelbar nach Erscheinen der »Kritik der reinen Vernunft« fühlten, die notwendige Ergänzung von Kant, dann durften die Abgründe nicht schrecken, dann mußte die Schullogik als ein Wahngebilde der Sprache zerstört, dann mußte das sprachliche Korrelat der Logik, die Grammatik, zum ersten Male ohne Sprachaberglauben angeschaut werden. Dann ergaben sich ganz neue Ausblicke. Sprachwissenschaft im höheren Sinn wurde zur einzigen Geisteswissenschaft und eine Kritik der Sprache, die eine Erlösung von der Sprache, eine Erlösung vom Wortaberglauben verhieß, wurde das wichtigste Geschäft der denkenden Menschheit.

Gedanken solcher Art glitzerten schon in der zweiten unzeitgemäßen Betrachtung Nietzsches auf. Er sprach einmal von Ideenmythologie, ein anderes Mal von einer Krankheit der Worte. Und vorher, allerdings wieder nur in bezug auf Werturteile, klagt Nietzsche, daß der Mensch unter der Übermacht der Historie »so lange der Narr fremder Worte, fremder Meinungen gewesen sei«. Ich kann nicht sagen, ob damals durch eine zufällige Mitteilung über Stirner »Der Einzige und sein Eigentum« oder erst später durch das furchtbare Buch selbst[225] oder schon früher durch Betrachtungen über Sprache als Kunstmittel der traurigste Gedanke der Sprachkritik sich festwurzelte, daß die Sprache als die Summe der menschheitlichen Erinnerungen jeden einzelnen Menschen zwingt, beim Denken oder Sprechen die Leichen der Vergangenheit mit sich herumzutragen, daß er diese Leichen oder Gespenster nur mit dem Denken oder dem Sprechen selbst von sich werfen kann, wie seinen Körper nur mit seinem Leben? Was wir so stolz Weltanschauung nennen, ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als die Sprache, die ererbte und erworbene Erinnerung an die Daten unserer Zufallssinne.

Wenn Sie selbst Nietzsches zweite Unzeitgemäße heute lesen, so wird es Sie wahrscheinlich am meisten interessieren, schon den Antichrist, schon den Phantasten der »Wiederkunft« in dieser Jugendarbeit zu finden. Mir war es aber doch nur darum zu tun, ein psychologisches Beispiel zu geben von der Art, wie ein keimkräftiger Gedanke seine Nahrung an sich reißt, woher er mag, selbstherrlich. Um wachsen zu können. Immerhin war bisher nur von Büchern die Rede. Glücklicherweise handelt es sich bei der dritten großen Förderung des sprachkritischen Gedankens nicht um ein Buch, sondern um eine erlebte Persönlichkeit, um Bismarck. Wir haben oft über Nietzsche gestritten, gelegentlich über Otto Ludwig, niemals über den Fürsten Bismarck. Nur beneidet habe ich Sie seit dem Tage, da Sie mir auf der Heimreise von Hamburg in Friedrichsruh begegneten. Wir anderen sagen nur bildlich, daß wir diesen Mann erlebt haben.

Es ist aber keine Konstruktion, wenn ich sein Eingreifen in diese Gedankenwelt auf die Zeit von vor dreißig Jahren zurückdatiere. Ich muß da noch viel persönlicher[226] werden. Wir deutschen Studenten Prags waren fanatisch national; die ewigen Katzbalgereien mit den Tschechen machten chauvinistisch. Dabei fühlten wir es durchaus nicht als eine Verwirrung der Gefühle, daß wir die Preußen und ihren Bismarck nicht mochten. Unklar und jugendlich nahmen wir den Preußen und Bismarck die Ereignisse von 1866 übel. Und nach dem französischen Krieg erst recht unseren Ausschluß aus der deutschen Einheit. Wir hielten es ungefähr mit den Sentimentalen von der deutschen Fortschrittspartei.

Etwas Großes war gewonnen, aber unsere Felle waren fortgeschwommen. Wir gestanden uns selbst nicht ein, wie wir uns für das Lebenswerk Bismarcks enthusiasmierten. Dann aber kam der Tag, an dem der heimliche Enthusiasmus laut und hell herausschlagen sollte. Eigentlich sollte ich nicht in der Mehrzahl reden. Wir durften im Frühjahr 1872 die Gründung der Straßburger Universität mitfeiern, wir durften der jüngsten die Grüße der ältesten deutschen Hochschule überbringen.

Die Stimmung war von der Ausfahrt an ernst und feierlich, denn die Tschechen bedrohten uns. Und nicht nur mit papiernen und gesprochenen Protesten: auch Steine versuchten zu reden. Desto herrlicher wurde diese Frühlingsfahrt. Wir sangen Scheffels Festlied und wir tranken, daß Scheffel recht zufrieden war. Über allen Festen schwebte, neu und überraschend für uns, die wir nicht Reichsdeutsche waren, die Gestalt Bismarcks.

Man muß diese Feste mitgenossen haben, um zu begreifen, was uns Österreichern die Erinnerung war und ist. Nicht als ob etwas Besonderes zu erzählen wäre.

Höchstens, daß berühmten alten Männern die Tränen in die Augen traten, wenn sie den Namen Bismarck in ihren Reden aussprachen. Das war dem Österreicher[227] neu und fremd. Da besaß das deutsche Volk, unser Volk, einen Helden, den es verehren konnte. Und dieser Held war im Geiste dabei, als am 2. Mai 1872 die große Kneipe abgehalten wurde. Ein Huldigungstelegramm an Bismarck, ein burschikoser Gruß zur Antwort. Die Musik spielt die Kutschke-Polka und zweitausend Studenten und Alte Herren reiben einen Salamander auf Bismarck. Das war alles. Ein sehr feucht-fröhliches Fest für alle Teilnehmer; ein Ereignis für unseren kleinen Kreis. Seit dieser Stunde erst erschien mir Bismarck als der Magister Germaniae; ich versuchte, mich in seine Persönlichkeit, in seine Sprache zu versenken, ich las sogar Berliner Zeitungen.

Wer nun aber von Kant (den ich damals freilich fast nur aus Schopenhauer kannte) herkam, ganz im erkenntnistheoretischen Idealismus lebte, der stand plötzlich vor der Aufgabe, sich zugleich mit dem Realismus, mit der Realpolitik des neuen Helden abzufinden. Nicht darum handelte es sich, eine Brücke von Worten zu schlagen zwischen den Namen »Kant und Bismarck«, nicht darum: in einer Festrede oder in einer Doktordissertation die Kluft zwischen beiden mit Wortleichen auszufüllen. Das wäre leicht gewesen. Im Nu ließe sich so ein Vortrag über das Thema Kant und Bismarck improvisieren. Sie selbst haben einmal von Bismarck gesagt: »Er dürfte so etwa der gebildetste Deutsche sein.« Daraus läßt sich folgern, daß er, nachdem er ein wenig über Spinoza gebrütet hatte, auch die Schriften von Kant gelesen hat. Vergleichen ließen sich die pietistischen Einflüsse, die zu Kant durch seine Eltern, zu Bismarck durch seine Frau kamen. Sie werden nicht leugnen, daß sehr viele Festreden und sehr viele Doktordissertationen mit solchen Mitteln zustande gebracht[228] werden. Man könnte auch an ein ernsteres Zwischenglied denken, an Kants kategorischen Imperativ. Die Freiheitskriege, in deren Zeit Bismarck geboren wurde, sind nicht ganz unrichtig mit Kants Moralprinzip in Verbindung gebracht worden. Von Ostpreußen war der kategorische Imperativ und war die große Bewegung ausgegangen. Und es ist gewiß, daß man Kants Moralprinzip als Motto über Bismarcks Lebenswerk setzen könnte: Du kannst, denn du sollst.

Aber auch diese begriffliche Vereinigung der Vorstellungsmassen, die sich in den Namen Kant und Bismarck konzentrieren, wäre mir nicht ernst genug gewesen. Das Moralprinzip war uns das Gleichgültigste an den Lehren Kants. Wir glaubten ja zu wissen, daß Kant in der »Kritik der praktischen Vernunft« sich selber untreu geworden war. Was uns aufs tiefste bewegte, was die ganze Weltanschauung in Frage stellte, was darum eine geistige Lebensfrage wurde, das war etwas völlig Verstiegenes, war die Sehnsucht, die letzten Fragen der Erkenntnistheorie ernst zu nehmen, Idealismus und Realismus zu überwinden oder zusammenzufassen. Wenn man sich in der Theorie zum erkenntnistheoretischen Idealismus bekannte, in der Wirklichkeitswelt nur ein Phänomen sah, in der Praxis jedoch den Realpolitiker bewunderte, der lachend mit einer realen Faust auf eine reale Welt losschlug, dann ging durch jeden von uns der Riß, den wir am Pöbel so verachteten. Wenn der Pöbel an jenseitige Mächte glaubte, in seinem ganzen Leben jedoch für sich selbst und für seine Kinder so schuftete, als ob es nur ein Diesseits gäbe, dann sah dieser Zustand ganz verteufelt dem unseren ähnlich, die wir in der Bücherwelt dem erkenntnistheoretischen Idealismus Kants und der Neukantianer huldigten, in[229] der Wirklichkeitswelt dem Realismus Bismarcks. Diesen Riß in unserer Weltanschauung nicht zu übersehen: das war schon etwas. Das war der Entschluß zum Ernst. Nach der Naturwissenschaft der Neukantianer ist auch der menschliche Leib mitsamt dem erkennenden Gehirn nur die subjektive Erscheinung von einem Unbekannten, das wir bereits zu fälschen anfangen, wenn wir es mit Kant das Ding an sich nennen. Auch der menschliche Leib löst sich für diese Vorstellung in einen Wirbeltanz von Atomen oder Kraftmittelpunkten auf, – oder wie wir die gedachten Einheiten nennen wollen. Auch der Organismus des menschlichen Leibes verwandelt sich in einen unausdenkbar feinen Mückenschwarm von Kraftpunkten. Knochen, Fleisch und Blut sind dieser Vorstellung nur noch Erscheinungen, zu denen sich Gruppen des Mückenschwarms für die menschlichen Zufallssinne verbinden. Wir können uns ferner ein Messer vorstellen, so unendlich fein und so unendlich schnell, daß es durch den geordneten Haufen von Atomen hindurchflitzen kann, ohne den Organismus zu stören. So fahren wir mit der Hand durch einen Mückenschwarm, ohne an ihm eine Veränderung wahrzunehmen. Mit dieser Vorstellung vom menschlichen Leibe kann der Chirurg nichts anfangen. Der Chirurg weiß nichts von unserer Erkenntnistheorie; er ist ein Realpolitiker, er glaubt naiv an Knochen, Fleisch und Blut. Er setzt ein reales Messer an und bewirkt etwas – Heilung oder Tod.

Hier liegt das furchtbare Dilemma für den, der Weltanschauungsfragen ernst nimmt. Hier kam Bismarck zu Hilfe, ein Chirurg, der nicht naiv war und dennoch zum Messer griff. Sie müssen mir glauben, daß in langen und schweren Seelenkämpfen die Gedankengänge sich[230] öffneten, die ich hier als beinahe wilde Assoziationen nebeneinanderstelle. Der Anschluß an die Einflüsse von Philosophie und Dichtung ergab sich von selbst. Nietzsche war ja ohnehin – wider Willen – ein Produkt der Bismarckzeit. Bismarck war mehr als Schopenhauer oder Wagner der Übermensch in Nietzsches aristokratischem Geniekultus. Jedenfalls war uns Bismark der große Unhistorische. Ebenso nah sahen wir Bismarck in seiner Begriffsverachtung dem Goethe, den der Sprachkritiker auch als den Feind aller Wortschälle verehrte. Jetzt verstanden wir das Lachen Bismarcks über die Wortmachereien der Parlamente, der Bezirksvereine und der regierenden Herren. Der Mann der Tat verhöhnte die Schreiber als Menschen, die ihren Beruf verfehlt hätten. Handeln ist Menschenberuf. »Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut.« Der starke Chirurg Deutschlands beugte sich auch nicht vor den Wortgebäuden der Wissenschaft. Wurde er selber krank, so war ihm der Heilkünstler lieber als der »Gelehrte«, Schweninger lieber als ein ordentlicher Professor. Der sprachkritische Gedanke lernte von Bismarck dasselbe, was er von Goethe gelernt hatte: im Anfang war nicht das Wort, im Anfang war die Tat. Wissen ist Wortwissen. Wir haben nur Worte, wir wissen nichts.

Die sprachkritische Idee durfte sich auch vermessen, einseitig und eigensinnig in ihrem Reich oder Bereich über Bismarck hinauszugehen und da noch mit gegenständlichen Blicken zu forschen, wo des Staatsmannes Interesse nicht mehr hinlenkte, wo ja auch Goethes gegenständliche Augen nicht mehr hinschauen wollten. Eben erst (im August 1872) hatte der Festredner der[231] offiziellen Wissenschaft seine berühmte Rede »Über die Grenzen des Naturerkennens« gehalten. Vor dem gegenständlichen Denken wurde Dubois-Reymonds Ignorabimus einfach sinnlos. Gegenüber diesem tönenden Wortschall steigerte sich eine nach Bismarck geschulte Rednerverachtung zu fruchtbarem Worthaß. Die Gleichung von »ich weiß« und »ich habe gesehen« (auch etymologisch in so vielen Sprachen begründet) stellte der sprachkritischen Idee ihre letzte Aufgabe: in einer Kritik der allgemeinen Grammatik auch die Gegensätze von Substantiven und Verben – das heißt: von Dingen und Handlungen – aufzulösen, in die Widersprüche der Zeitbegriffe hineinzuleuchten und an die Stelle einer Kritik der reinen Vernunft eine Kritik der Sprache zu setzen. Ein verzweifelter, letzter Versuch, die Geistesbrücke zu schlagen zwischen dem notwendigen erkenntnistheoretischen Idealismus und dem ebenso notwendigen praktischen Lebensrealismus. Erinnerung ist all unser Wissen, ererbte und erworbene Erinnerung der Menschheit. In Worten ererbt, in Worten erworben. Unser Wissen, unser Denken ist nur Sprache, die praktisch in der Wirklichkeit orientiert, die aber so wenig zur Welterkenntnis geeignet ist, wie das Bewußtsein ein Organ für sich selber hat. Und vollends die neue kühne Denkgewohnheit, nicht nur die sogenannte Weltgeschichte bismarckisch als eine Zufallsgeschichte zu betrachten, sondern auch die Evolution der Organismen als eine Zufallsevolution, unsere Sinne als Zufallssinne, die die Außenwelt in uns hineingeschlagen hat, – diese Gewohnheit oder Weltanschauung bot einen Ausblick in das dritte Reich, wo Idealismus und Realismus einander finden können. Wir glauben von jetzt an, daß die Wirklichkeitswelt ein[232] Produkt unserer Zufallssinne ist, daß sie sich nach uns richtet; wir glauben zugleich, daß unsere Sinne ein Produkt der Außenwelt sind, daß unser Kopf von der Wirklichkeit eingerichtet ist.

In Kant war die Aufklärung mit erstaunlichstem Scharfsinn über sich selbst hinausgewachsen bis zu der alten sokratischen Weisheit, daß wir nichts wissen können. In Bismarck war ein Tatenmensch von der Wortverachtung ausgegangen, die selbst einem Kant noch fehlte. Die Erlösung vom Sprachaberglauben, die seit Bismarck in der Luft lag, konnte endlich auch in der Philosophie versucht werden. Denn alles Wissen ist, weil es menschliche Sprache ist, bildlich, metaphorisch, anthropomorphisch. Für Kant galt Goethes tiefer Spruch: »Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist.« Für Bismarck galt der andere Spruch: »Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.« Denn wortgeschichtlich wie moralgeschichtlich ist das Gewissen nur ein menschliches Bild mehr, nur eine Gefühlsform des Wissens, nur eine der Illusionen der großen menschlichen Illusion, die Bewußtsein heißt.

»Sie, lieber Freund, und noch zwei oder drei freundliche Männer haben mich wohl gefragt, wie die sprachkritische Idee zu mir gekommen sei. Ich habe nun über die Herkunft der sprachkritischen Idee vor einem großen Kreis zu reden gewagt. Sie werden sie nicht verachten, weil sie mein war, weil die Anregungen von Gedanken und Erlebnissen kamen, die nicht sprachkritischer Art waren. Gewissenhaft und freudig habe ich in meinem Buch verzeichnet, was ich nachher in fast dreißigjährigen Studien bei Vico, bei Bacon, Hobbes, Locke und Hume, bei Kant, Hamann und Goethe an[233] Anklängen und Leitsätzen gefunden habe. Keiner von diesen Denkern hat dem sprachkritischen Gedanken die Wichtigkeit beigelegt, die ihm gebührt. Keiner hat ihn darum zu Ende zu denken versucht. Über Wichtigkeit und Wert des sprachkritischen Gedankens habe ich nicht zu urteilen, vielleicht auch nicht alle meine Herren Kritiker. Das Urteil steht bei einer anderen Macht, die die roheste und doch die mildeste Kritik zu üben pflegt, bei der Zeit.«

1

Für Literarhistoriker mag das Wort »nachgemacht« überflüssigerweise erklärt werden; aber was wäre für Historiker zu unbedeutend? Ich glaube also »entdeckt« zu haben, daß Kotzebues »Ausbruch der Verzweiflung« in seiner Aufzählung der Nachteile, die den Menschen vom Tiere unterscheiden, Punkt für Punkt der ganz pessimistischen Klage folgt, die bei dem älteren Plinius (Hist. natur. VII. 1) zu finden ist.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 204-235.
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