Sechstes Kapitel.

[82] 1. Der König sprach: »Meister Nāgasena, ist euch Mönchen der Körper lieb?«

»Nein, Grosskönig, Mönche lieben nicht den Körper.«

»Aber weshalb pflegt ihr ihn denn und schenkt ihm Aufmerksamkeit?«

»Bist du niemals und nirgends, Grosskönig, als du in die Schlacht zogest, von einem Pfeil getroffen worden?«

»Gewiss, Meister, das ist vorgekommen.«

»Wurde dann nicht die Wunde mit Salbe bestrichen, mit Öl beschmiert und mit feinem Verbandstoff bekleidet?«

»Freilich, Meister.«

»Wie denn, Grosskönig, ist die Wunde dir lieb, dass du ihr solche Sorgfalt zuwendest?«

»Die Wunde ist mir nicht lieb, Meister. Aber, damit das Fleisch wieder wachse, wird sie mit Salbe, Öl und Verbandstoff behandelt.«[83]

»Ebenso, Grosskönig, ist den Mönchen der Körper unlieb. Aber doch kümmern sich um ihn die Mönche, ohne an ihm zu hängen, damit sie in der rechten Weise ihrem Glauben leben können. Auch hat der Erhabene, Grosskönig, den Körper mit einer Wunde verglichen. Deshalb kümmern sich die Mönche um den Körper wie um eine Wunde, ohne daran zu hängen. Denn der Erhabene hat gesagt:


›In feuchte Haut ist eingehüllt

Die neunfach offne138 grosse Wunde;

An allen Seiten träufelt sie,

Ist unrein, riecht nach Fäulnis nur.‹«


»Gut, Meister Nāgasena.«

6. Der König sprach: »Meister Nāgasena, wenn zwei Männer weinen, der eine über den Tod seiner Mutter, der andere aus Liebe zur Wahrheit (Dhamma): wem von beiden helfen seine Tränen und wem nicht?«

»Des einen Tränen, Grosskönig, sind von den drei Feuern der Leidenschaft (Gier, Hass, Eitelkeit) getrübt und heiss, des anderen Tränen sind durch Heiterkeit und Seelenruhe klar und kühl; und Kühlheit, Grosskönig, kann heilen, Hitze nicht.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

7. Der König sprach: »Meister Nāgasena, wodurch unterscheiden sich der Gierige und der Gierlose?«

»Der eine, Grosskönig, hängt am Leben139, der andere nicht.«

»Was heisst das, Meister?«

»Der eine hat Bedürfnisse;140 der andere nicht.«

»Ich, Meister, betrachte die Sache so: sowohl der Gierige wie der Gierlose, jeder von ihnen verlangt nach gutem Essen und Trinken, keiner nach schlechtem.«[84]

»Wer von Gier noch nicht frei ist, Grosskönig, der empfindet, wenn er sein Mahl verzehrt, den Geschmack sowohl wie die Lust des Geschmackes. Hingegen empfindet der Gierlose, wenn er sein Mahl verzehrt, nur den Geschmack, nicht aber die Lust des Geschmackes.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

9. Der König sprach: »Meister Nāgasena, wenn du vom Kreislauf des Lebens (Samsāra) sprichst, was meinst du da mit diesem Wort?«

»Ein Wesen, Grosskönig, das hier geboren ist, stirbt hier. Nachdem es hier gestorben ist, tritt es wo anders ins Dasein. Nachdem es dort geboren ist, stirbt es dort. Nachdem es dort gestorben ist, tritt es wo anders ins Dasein. Das ist es, Grosskönig, was man Kreislauf des Lebens nennt.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

Quelle:
Die Fragen des Königs Menandros. Berlin [1905], S. 82-85.
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