Siebentes Kapitel.

[85] 2. Der König sprach: »Meister Nāgasena, ihr Buddhisten behauptet, dass jemand, der hundert Jahre dem Laster gefröhnt hat, bei den Göttern wiedergeboren wird141, wenn er in der Sterbestunde nur einen einzigen ernsten Gedanken bezüglich des Buddha oder seiner Lehre fasst. Das kann ich nicht glauben. Und andrerseits behauptet ihr, dass man durch die Tötung eines einzigen lebenden Wesens142 in eine Hölle geraten kann. Auch das glaube ich nicht.«

»Nun, was meinst du, Grosskönig: würde ein Stein, und sei er noch so klein, ohne ein Schiff auf dem Wasser schwimmen können?«

»Nein, Meister.«

»Und würden hundert Fuhren Steine, auf ein Schiff geladen, auf dem Wasser schwimmen können?«

»Gewiss, Meister.«

»Nun, Grosskönig, mit dem Schiffe sind die guten Taten zu vergleichen.«

»Gut, Meister Nāgasena.«[86]

4. Der König sprach: »Meister Nāgasena, wie weit ist es von hier bis zur Brahman-Welt143

»Sehr weit, Grosskönig. Wenn ein Felsblock von der Grösse einer Spitzhütte144 von dort fiele und täglich achtundvierzigtausend Meilen145 zurücklegte, so würde er vier Monate brauchen, um auf die Erde zu kommen.«

»Meister Nāgasena, dann kann ich nicht glauben, was ihr da behauptet: dass ein Mönch, der die magischen Kräfte besitzt und die absolute Herrschaft des Geistes über den Körper erlangt hat146, in dem gleichen Zeitraum in Indien unsichtbar werden und in der Brahman-Welt erscheinen kann, in dem ein starker Mann seinen gekrümmten Arm ausstrecken oder den ausgestreckten Arm krümmen kann. Wie sollte es möglich sein, so viele tausend Meilen so schnell zurückzulegen!«

Der Senior sprach: »In welcher Gegend bist du geboren, Grosskönig?«

»Es gibt eine Insel namens Alexandria147, Meister. Auf ihr bin ich geboren worden.«

»Wie weit, Grosskönig, ist Alexandria von hier?«

»Etwa zweihundert Meilen, Meister.«

»Du wirst, Grosskönig, irgend eine Angelegenheit noch im Sinne haben, die du dort erledigtest. Denke einmal daran.«

»Schön, Meister, ich denke an eine.«

»Schnell fürwahr, Grosskönig, hast du die zweihundert Meilen zurückgelegt!«

»Gut, Meister Nāgasena.«

5. Der König sprach: »Meister Nāgasena, wenn jemand hier stirbt und darauf in der Brahman-Welt wiedergeboren wird und ein anderer, der hier stirbt,[87] in Kaschmir wiedergeboren wird: welcher von den beiden würde zuerst ankommen?«

»Gleichzeitig würden sie ankommen, Grosskönig.«

»Gieb mir ein Gleichnis.«

»In welcher Stadt bist du geboren, Grosskönig?«

»In einem Dorfe namens Kalasi bin ich geboren, Meister.«

»Wie weit, Grosskönig, ist Kalasi von hier?«

»Etwa zweihundert Meilen, Meister.«

»Und wie weit, Grosskönig, ist Kaschmir von hier?«

»Zwölf Meilen, Meister.«

»Jetzt denke einmal an das Dorf Kalasi, Grosskönig.«

»Ich habe es getan, Meister.«

»Und jetzt denke einmal an Kaschmir, Grosskönig.«

»Es ist geschehen, Meister.«

»Woran, Grosskönig, hast du am langsamsten und woran schneller gedacht?«

»Gleich schnell an beide, Meister.«

»Geradeso, Grosskönig, wird der, welcher hier stirbt und in der Brahman-Welt wiedergeboren wird, nicht später wiedergeboren als der, welcher hier stirbt und in Kaschmir wiedergeboren wird.«

»Gib noch ein Gleichnis.«

»Nun, was meinst du, Grosskönig: angenommen, zwei Vögel flögen in der Luft und setzten sich, beide gleichzeitig, der eine auf einen hohen, der andere auf einen niedrigen Baum: wessen Schatten würde zuerst auf der Erde ruhen und wessen Schatten zuletzt?«[88]

»Die beiden Schatten würden gleichzeitig da sein, Meister.«

»Geradeso, Grosskönig, werden jene beiden gleichzeitig wiedergeboren und nicht einer später, der andere früher.«

»Gut Meister Nāgasena.«

7. Der König sprach: »Meister Nāgasena, was ist mehr, Verdienst oder Schuld?«

»Verdienst, Grosskönig.«

»Inwiefern?«

»Wer Böses tut, Grosskönig, bekommt Reue bei dem Gedanken, ein böses Werk getan zu haben. Infolgedessen nimmt das Böse nicht zu. Wer aber Gutes getan hat, Grosskönig, bekommt keine Reue, sondern wird zufrieden, und aus der Zufriedenheit entspringt Fröhlichkeit, und des Fröhlichen Körper ist in Ruhe, und die Ruhe des Körpers führt ein Glückgefühl mit sich, und des Glücklichen Geist wird geeinigt148, und der einheitlich Denkende149 erkennt die Dinge wie sie sind. So also nimmt das Gute zu. Ja, so sehr nimmt das Gute zu, Grosskönig, dass ein Mann, dem (wegen eines schweren Verbrechens) Hände und Füsse abgehauen sind, einundneunzig Kalpas150 hindurch nicht auf einen schlechten Pfad kommen kann151, wenn er nur eine Handvoll Lotusblumen dem Erhabenen geweiht hat152. Und darum, Grosskönig, sage ich: Viel ist des Verdienstes, wenig der Schuld.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

8. Der König sprach: »Meister Nāgasena, wessen Schuld ist die grössere: dessen, der wissentlich oder dessen, der unwissentlich sündigt?«[89]

Der Senior sprach: »Wer unwissentlich sündigt, Grosskönig, hat die grössere Schuld.«

»Dann sollen wir also, Meister Nāgasena, unsere Prinzen und Minister, wenn sie unwissentlich sich vergehen, doppelt bestrafen!?«

»Was meinst du, Grosskönig: wenn einer, ohne zu wissen, was er tut, und ein anderer mit Bewusstsein eine Eisenkugel ergreift, die bis zum Rotglühen erhitzt worden ist: welcher von beiden würde sich stärker brennen?«

»Derjenige, Meister, welcher ahnungslos die Kugel ergreift.«

»Ebenso, Grosskönig, ist dessen Schuld die grössere, der unwissentlich Böses tut.«

»Gut, Meister Nāgasena.«153

14. Der König sprach: »Meister Nāgasena, kann man das Allerfeinste teilen?«

»Freilich, Grosskönig, kann man das Allerfeinste teilen.«

»Was ist denn, Meister, das Allerfeinste?«

»Die Wahrheit (Lehre Buddhas, dhammo) ist das Allerfeinste154. Aber die Dinge (dhammā)155 sind überhaupt nicht fein. Fein und grob, Grosskönig, ist eine (blosse) Benennung der Dinge156. Was irgend geteilt werden kann, das wird durch die Einsicht (pa a) geteilt. Nicht aber kann die Einsicht wieder geteilt werden.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

15. Der König sprach: »Meister Nāgasena, sind Erkennen, Einsicht und die Seele in einem Wesen157 wirklich verschieden, so wie sie verschieden benannt[90] sind, oder sind das nur verschiedene Bezeichnungen für ein und dasselbe Ding?«

»Das Unterscheiden, Grosskönig, ist das Merkmal des Erkennens, das Beurteilen158 ist das Merkmal der Einsicht, und Seelen gibt es nicht.«

»Wenn es keine Seele gibt, Meister, wer ist es denn, der mit dem Auge die Gestalt sieht, der mit dem Ohre den Ton hört, mit dem Geruch den Duft riecht, mit dem Geschmak den Saft schmeckt, mit dem Körper die Berührung fühlt und mit der Phantasie die Vorstellungen erkennt?«

Der Senior sprach: »Wenn es eine Seele ist, die all dieses tut, so frage ich dich: kann etwa diese Seele, wenn die Augentore herausgenommen sind (wenn die Augen ausgestochen sind), ihren Kopf hinausstrecken und bei der grossen Helligkeit die Gestalten um so besser sehen? kann sie, wenn das Gehör herausgenommen ist, ihren Kopf hinausstrecken und infolge der grossen Helligkeit die Töne um so besser hören? kann sie, wenn der Geruch, der Geschmack, das Gefühl fortgenommen ist, die Gerüche, Geschmäcke, Berührungen infolge der grossen Helligkeit um so besser riechen, schmecken, fühlen?«

»Gewiss nicht, Meister.«

»Also, Grosskönig, gibt es nicht eine Seele in dem Körper.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

16. Der Senior sprach: »Eine schwere Leistung, Grosskönig, hat der Erhabene vollbracht.«

»Was für eine, Meister Nāgasena?«

»Eine schwere Leistung war es von dem Erhabenen, dass er alle diese unkörperlichen, geistigen[91] Erscheinungen, die bei der Wahrnehmung jedes einzelnen Sinnesobjektes zusammen da sind, festgestellt, dass er uns erklärt hat: ›Dieses ist die Berührung, dieses das Gefühl, dieses die Vorstellung, dieses das Wollen, dieses das Denken159‹.«

»Gib mir ein Gleichnis.«

»Stelle dir vor, Grosskönig, es wäre ein Mann in seinem Boot auf die hohe See gefahren, und er schöpfte mit der hohlen Hand Wasser und kostete es mit seiner Zunge: würde wohl dieser Mann das Wasser des Ganges, der Yamunā, der Aciravatī, der Sarabhū und der Mahī auseinanderschmecken können?«

»Das dürfte ihm schwer werden, Meister.«

»Und schwerer noch, Grosskönig, ist das, was der Erhabene vollbrachte, da er alle diese Erscheinungen feststellte.«

»Vortrefflich, Meister!« sprach erfreut der König.


Ende des siebenten Kapitels.[92]


17.160 Der Senior sprach: »Weisst du, Grosskönig, welche Zeit wir jetzt haben?«

»Ja, Meister, ich weiss es. Die erste Nachtwache ist vorüber; wir sind in der zweiten. Die Fackeln werden angezündet; man lässt die vier Fahnen aufziehen, und gleich werden aus der Schatzkammer die Königsgaben eintreffen.«

Die Griechen sagten: »Du tust recht, Grosskönig. Weise ist der Mönch.«

»Ja, ihr Lieben, weise ist der Senior. Wo ein Lehrer wie er und ein Schüler wie ich, da muss der Verständige gar bald die Wahrheit erfassen.«

Und der König, befriedigt durch die Erklärungen, die er auf seine Fragen von Nāgasena erhalten hatte, schenkte diesem einen gestickten Mantel im Werte von hunderttausend (Kahāpanas)161 und sprach: »Meister Nāgasena, von heute ab sollst du achthundert Tage dein tägliches Mahl von mir erhalten, und was du brauchen kannst von den Dingen hier im Palaste, das bitte ich dich als Geschenk von mir anzunehmen.«

»Ich danke, Grosskönig, ich habe zu leben.«[93]

»Ich weiss, Meister Nāgasena, dass du zu leben hast. Dennoch bitte ich dich: schütze dich und schütze mich! Schütze dich vor dem öffentlichen Gerücht, du habest den König Menandros überzeugt und nichts dafür erhalten; schütze mich vor dem öffentlichen Gerücht, dass ich, der König Menandros, überzeugt worden sei und durch nichts mich erkenntlich gezeigt habe.«

»Nun wohl, Grosskönig.«

»Gleichwie, o Meister, der Löwe, der König der Tiere, selbst wenn er in einen goldenen Käfig gesetzt ist, nur immer nach aussen blickt: ebenso, Meister, habe auch ich, der ich ein weltliches Leben führe, verlangend nach aussen den Blick gerichtet. Aber wenn ich, Meister, aus meinem Heim hinauszöge in die Heimatlosigkeit, so würde ich nicht lange leben: so viele sind meiner Feinde.«

Darauf erhob sich der ehrwürdige Nāgasena, nachdem er also des Königs Fragen gelöst hatte, von seinem Sitz und kehrte zurück nach dem Kloster, wo seine Gemeinde sich aufhielt.

18. Nicht lange war er fort, da ging der König in Gedanken die Fragen durch, die er gestellt, und die Antworten, die der ehrwürdige Nāgasena ihm gegeben hatte. Und er kam zu der Überzeugung, dass er alle Fragen richtig gestellt und dass Hochwürden sie alle wohl beantwortetet habe. Und auch der ehrwürdige Nāgasena ging, als er nach dem Kloster zurückgekehrt war, die Fragen durch, die der König Menandros gestellt, und die Lösungen, die er selbst gegeben hatte. Und auch er kam zu dem Ergebnis, dass alle Fragen richtig gestellt und richtig beantwortet worden seien.[94] Und als die Nacht zu Ende ging und der Morgen graute, da kleidete sich der ehrwürdige Nāgasena an, begab sich, seinen Speisenapf in der Hand, zum Palast und setzte sich auf den Stuhl, der für ihn bereit stand. Und der König Menandros begrüsste den ehrwürdigen Nāgasena, setzte sich in der geziemenden Entfernung zu ihm und sprach: »Ich bitte dich, nicht zu glauben, Hochwürden, dass ich aus Freude, die Fragen gestellt zu haben, den Rest der Nacht nicht geschlafen hätte. Vielmehr habe ich den Rest der Nacht damit verbracht, die Fragen durchzugehen, die ich gestellt habe, und die Lösungen, die ich von Hochwürden erhielt. Und ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass alle Fragen von mir wohl gestellt und von Hochwürden wohl gelöst worden sind.«

Und der Senior seinerseits sagte: »Ich bitte dich, nicht zu glauben, Grosskönig, dass ich während des Restes der Nacht mich der Freude hingegeben hätte, dem König Menandros seine Zweifel gelöst zu haben. Auch ich habe den Rest der Nacht damit zugebracht, die Fragen durchzugehen, die du gestellt hast, und die Lösungen, die ich dir gegeben habe. Und auch ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass du die Fragen in der rechten Weise gestellt hast und ich sie in der rechten Weise beantwortet habe.«

So freuten sich die beiden grossen Männer gemeinsam über die trefflichen Reden, die sie geführt hatten.


Ende der »Zweifel und Lösungen« der Fragen des Menandros.

Quelle:
Die Fragen des Königs Menandros. Berlin [1905], S. 85-95.
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