Anmerkungen und Zusätze

[159] [Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Originalausgabe.]


Einer der gründlichsten Weltweisen dieser Zeit, der die Freundschaft für mich gehabt, diese Aufsätze durchzulesen, hat mir einige Anmerkungen darüber mitgetheilt, die ich meinen Lesern nicht vorenthalten will.


Seite 32.

mißbilligen kann) Diese Bemerkung ist sehr richtig und fruchtbar! Könte man sie nicht noch mit folgendem erläutern? – So bald wir durch Vergleichung des Gefühls u.s.w. gelernt haben, von den Entfernungen zu urtheilen, ist die Vorstellung des Gesichts und Gehörs nicht einmal in, sondern ausser unserm Körper – dort an der Wand – dort auf der Gasse. Wenn die Rührung nur nicht so stark ist, daß sie an Schmerzen grenzet, und also zum Gefühl gehört, (dahin auch die Empfindung der Blindgebornen, zum erstenmal Sehenden gerechnet werden muß) so wissen wir von dem eigentlichen Sinnenwerkzeuge nichts. Wenn wir nicht die Grenzen bemerkten, oder durch Vorhaltung der Hände es erforschten, so wüsten wir nicht, wo eigentlich Gesicht und Gehör läge. Die umgekehrten Bildchen in zweien Augen empfinden wir nicht, und noch weniger die Rührung des Nerven, der weiter zum Gehirne gehet: alles scheinet eine Erleuchtung zu seyn, die sich nicht blos in uns, sondern auch weit um uns erstrecket. So erforschen wir auch nur durch Bedeckung des Ohrs, ob wir mit diesem, oder mit jenem, oder mit beiden hören. – Hier ist also doch die Täuschung des Räumlichen offenbar, und folglich zeigt die Vorstellung des Ortes nicht an, daß daselbst in den aus einander gelegenen Theilen die Empfindung stecke.


Seite 38.

nicht – bündig ist) Sehr wohl erklärt! und eigentlich war das Bild im Wasser oder im Spiegel eben so unstät und täuschend, als das vom Regenbogen, indem es sich auch nur auf den Stand des Sehenden[159] beziehet. Also: allgemein zu sagen – wir sind gewohnt, einen Gegenstand da zu vermuthen, wo die gerade Linie des Strahls, der unser Auge berührt, hinführt: daher irren wir uns in dem Orte eines gebrochenen Strahls. Wir sind gewohnt, eine gewisse Beschaffenheit der Oberfläche, oder der durchscheinenden Materie eines Körpers zu vermuthen, wenn uns ein solcher gespaltener Strahl rührt, den wir farbicht nennen: daher schreiben wir dem Orte, von welchem er in gerader Linie zu uns komt, die Farbe zu. – Die Berichtigung ist allemal, wie im Texte vorgeschrieben.


Seite 42.

Wenn die dauernden sinnlichen Eindrücke im Gehirne, und was von ihrer Anwendung vorgegeben wird, sonst erwiesen werden könten; so mögte Helvetius, den ich nicht gelesen habe, zu seiner Vertheidigung noch sagen, daß wir jedem Worte, welches einen allgemeinen Begrif andeuten soll, vielleicht heimlich ein bestimmtes Bild unterschieben, und das thun wir freilich, wenn wir es uns anschaulich vorstellen; denn z. E. einen Baum oder Menschen in genere können wir uns nicht vorstellen. Was nun die Wörter betritt, die keine Bilder zulassen – ey nun: das sind Zeichen von Verbindung, Trennung, Verhältniß, u.s.f. wie =, +, ÷, V, √, : u. d. gl., die der Abt l'Epée bey den Taubstummen auch mit seiner Zeichensprache ausdruckt. – Es ist aber unleugbar, daß in jeder Erinnerung, auch ohne Worte, schon ein abgesonderter Begrif liegt. Voltairens Gesicht kennet der Taubstumme so gut, wie derjenige, welcher den Nahmen gehört, links oder rechts, oder von vorne dargestellt, als von der nämlichen Person wieder, da doch die Sinnenbilder nur im Allgemeinen übereinkommen. Dieselbe Melodie, die doch nicht durch Worte bezeichnet wird, erkennet auch derjenige, der das gemeinschaftliche Zeichen der Noten nicht versteht, sie mag in höherm oder tieferm Tone, langsamer oder geschwinder, gesungen, auf der Violine, dem Klavier, der Flöte, oder den Glocken gespielt werden, welches doch sehr verschiedene sinnliche Eindrücke sind. – Was leisten also die Worte zur Abstraction oder zum deutlichen Denken, dazu sie doch so nöthig scheinen? Mich dünkt dieses, daß sie jeden abgesonderten Begrif, der sonst unbestimmt, schwebend seyn würde, in gewisse Grenzen einschliessen, dadurch Art, Gattung, Klasse, Grad, Beschaffenheit, Verhältniß u.s.w. unterschieden und bestimmt werden. Z.B. Mensch, Thier, Körper, Ding: Hütte, Haus,[160] Wohnung: heiß, brennend, u.s.f. Daher ist allerdings die Sprache eine vortrefliche Gabe, ohne welche wir nicht allein die Mittheilung, sondern auch die Fassung bestimmter Begriffe, und also deutliches Denken, nicht genössen. Die sichtbaren Zeichen des l'Epée, oder seines Wiener Lehrlings, den Nicolai beschreibt, sind viel unvollkommener, da sie nicht so bestimmt unterscheiden können. Z.B. Zusammen oder bey einander, verbunden, geknüpft, geleimt, gekleistert, genagelt, gefügt, u.s.w. Wenn der Taubstumme, nachdem ihm die Sprache beygebracht worden, uns etwas von seiner vormaligen Denkungsart erzählen könte – man sagt aber, daß sie selbst nicht einmal deutliche Erinnerung ihrer vorigen Handlungen übrig behalten – so glaube ich, sie würde sich der thierischen ziemlich nähern – meist individuelle Vorstellungen – wiewohl das Vergleichungsvermö gen, als das Eigene der Vernunftkraft, schon heimlich strebet – und unmittelbare Verbindung von Folgen, Beziehungen u. dgl.


Seite 44.

ohne etwas Fortdauerndes – nicht denkbar) Ich habe einmal flüchtig etwas im Museo über das Ich angesehen, welches ich zu weiterm Nachdenken versparet und nachher versäumt habe. So viel ich davon faßte und mich erinnere, wolte der Verfasser Zweifel gegen die Versicherung unserer Fortdauer auf folgende Weise erregen. – Unser Bewußtseyn der Personalität, oder der Fortdauer, beruhet nur auf die Erinnerung, oder vermeinte Erinnerung des vorher empfundenen. Wenn dies Gedächtniß ausgelöscht ist, so überzeugen wir uns nicht, dasselbe Wesen zu seyn, welches in jenem Zustande existirt, jene Abänderung erfahren hat: wenn eine andere Ideenreihe durch Verrückung in uns entstehet, so glaubt der Mensch ein andres Wesen, ein König oder ein Thier, ja wohl gar ein lebloses Ding, ein Gerstenkorn u.s.w. zu seyn. Nun setze man umgekehrt ein anderes denkendes Wesen in den Ideenkasten des vorigen, der ihm seine Bilder vorstellt; so wird er glauben, eben der zu seyn, der jenes erfahren hat und sich dessen nun erinnert. Alle Theile des Ideenkastens können auch mittlerweile anders untergeschoben, und folglich alles verändert seyn: wenn es nur allmählig so geschehen ist, daß ohngefähr dieselbe Ordnung bleibt, oder dasselbe Bild, wie im fliessenden Wasser, zurückgeworfen wird, so wird die Würkung einerley bleiben. Demnach könte auch das eingebildete Bewustseyn eines in uns[161] fortdauernden Wesens, welches das bleibende Subject der Abänderungen wäre, Täuschung seyn! – Ich wüste hierauf nicht zu antworten, wenn ich nicht glaubte, die Unmöglichkeit gezeigt zu haben, daß fortdaurende Eindrücke, oder dgl. Veränderungen in zusammengesetzten auseinander gelegenen Theilen die Erscheinungen des Gedächtnisses darstellen könten, da jene nothwendig individuel, örtlich und unzählig gehäuft seyn müssen, dieses aber offenbar uns ein Abstractum des Gesehenen oder Gehörten zurückruft, u.s.w.


Man erlaube mir, zu dieser Anmerkung meines Freundes einige Worte hinzuzufügen, um sie mir selbst besser ins Licht zu setzen. Ich verspreche mir überhaupt nicht viel Aufschluß von Hypothesen, die so sehr ins Abentheuerliche gehen; da man offenbar unmögliche Dinge, als möglich voraussetzet, um zu untersuchen, was der Erfolg seyn würde. Sie dienen meines Erachtens mehr zur Belustigung, allenfalls zur Uebung des Scharfsinns oder der Erfindungskraft, als zur Entdeckung der Wahrheit. Was würde der Erfolg seyn, wenn wir den Kopf eines Löwen auf den Rumpf eines Hasen setzen könten; wenn die Erde plötzlich leichter, als die Luft werden sollte; wenn wir einer Bildsäule nach Belieben Leben und Empfindung mittheilen, wenn wir das ganze Nervengebäude aus einem Körper herausziehen, und in einen andern gleichfalls entnervten Körper einpflanzen könten? – So etwas aus einer Feenwelt scheint mir die Hypothese des Museums zu verlangen.

Freylich wohl! wenn die Seele, wie einige Weltweise wollen, vor ihrem Kasten dastehet, und weiter nichts zu thun, als blos die Zeichen und Eindrücke abzulesen hat, die sie allda findet; so kan es ihr gleichviel seyn, vor welchen Schrift- oder Zeichenkasten sie gestellt werde. Sie kan also gar füglich von einem an den andern versetzt werden, und ihr Geschäft ohne Schwierigkeit weiter treiben; so wie etwa ein Schriftsetzer mit gleicher Fertigkeit hier die Schriften eines Reimarus, dort eines Schwedenborgs absetzet, wenn nur die Handschrift gleich leserlich ist. Aber so ist es, wie mich dünkt, nicht mit der Seele der Lebendigen beschaffen. Sie hat nicht blos abzusetzen; sondern muß auch, so zu sagen, übersetzen; aus dem Idiom des Körpers in ihre geistige Sprache übertragen, erklären und auslegen. Sie muß also mit allen Redensarten und Wendungen ihrer Urschrift sehr bekannt seyn, muß mit dem Urheber derselben, den sie ihren[162] Körper nennet, gleichsam zugleich erzeugt, er nährt, erzogen und unterrichtet seyn, wenn sie ihn recht verstehen und treulich übersetzen will. In einem neuen Seelenkasten ist sie, wie nicht zu Hause; wie unter einem fremden Volke: sie verstehet nicht, und wird nicht verstanden.

Wenn die Allmacht mit diesem Körper, den ich itzt den meinigen nenne, eine andere Seele verbände, fragt man, wie würden sich die Neuverlobten verhalten?

Ich antworte zuförderst auf den ersten Antrag, wie jener geitzige Vormund des komischen Dichters auf den Antrag seines verliebten Mündels: was bringt sie mit? – So ganz blos kan sie ja nicht seyn, die neue Seele, die meinem Körper werden soll; sie muß irgendwo schon etwas erworben haben, oder sonst etwas zur Mitgabe bekommen. Leer von allen Begriffen würde sie sich nicht zu diesem neuen Körper schicken; würde sie seine Sprache nicht verstehen, und auch nicht das mindeste auf ihn vermögen; und eben so wenig würde zwischen ihnen Verbindung Statt haben, wenn sie nicht vollkommen der Seele gliche, die itzt in meinem Körper wohnet. Nur diese stimmet in allen ihren Merkmalen mit meinem Körper auf das genaueste überein, und ohne die genaueste Harmonie läßt sich zwischen Leib und Seele keine Verbindung denken. – Wenn der Naturforscher irgend eine unnatürliche Verbindung veranstaltet: so kan er zuweilen doch wenigstens die Natur zwingen, eine Misgestalt, eine Zwittergattung, an die Stelle eines ihrer vollkommenen Werke hervorzubringen. Mit Seele und Körper aber, die nicht für einander geschaffen sind, ist schlechterdings nichts anzufangen. Sie werden sich niemals paaren oder begatten, und die Verbindung, die von der Allmacht zwischen ihnen gestiftet werden soll, ist ein leeres Wort.

So lange also dieser mein Körper derselbe bleibt, kan ihm kein Geist eingehaucht werden, der anders beschaffen seyn soll, als der meinige itzt wirklich ist. Die Allmacht müßte, um diese Verbindung wirklich zu machen, der neuen Seele zu gefallen, auch meinen Körper nach ihrem Erfordernisse umbilden und ihr gleichsam anpassen. Geschiehet aber dieses, so entstehet ein andrer Mensch, ein anderer Körper und eine andere Seele; nicht mehr das vorige Ich, auch nicht mehr das vorige Mein, und dieser neue Mensch wird auch nicht in dieselbe Verbindung des Raumes und der Zeit passen, in welcher ich mich befinde; denn in dieser Verbindung habe nur ich, als zum Besten gehörig,[163] mein wo und wenn gefunden.

Setzen wir aber, daß die neue Seele derjenigen vollkommen gleich komme, die itzt in mir wohnet, und also eben so gut, als diese mit meinem Körper übereinstimme; so gehet die Verbindung zwar gut von Statten; dahingegen ist es auch keine andere Seele, die mir zugetheilt wird; sie ist von meiner jetzigen Seele nicht zu unterscheiden; was nicht zu unterscheiden ist, kan auch wirklich und in der That nicht unterschieden seyn. Es ist und bleibt also immer noch dieselbe Seele, die wir blos mit Worten eine andere genennet haben. Denn daß die Allmacht sie neuer Dinges erschaffen und hervorbringen soll, dieses würde die Identität nicht aufheben. Muß die Allmacht doch ohnehin die zufälligen Wesen unaufhörlich hervorbringen, wenn sie fortdauren sollen, ohne daß ihre Identität darunter leide, oder durch die fortgesetzte Schöpfung (wie die Scholastiker die Erhaltung der Dinge nennen) aufgehoben werde.


Seite 47.

Verrückung – Grunde) Unsere neuen Mystiker nennen es – sich der Sinnlichkeit entziehen: in der Volkssprache sagte man sonst sehr gut – von Sinnen kommen – Dies ist übrigens eine arge Instanz gegen die Versicherung der Wahrheit des Empfundenen, wenn uns nämlich die innern Sinne trügen. Noch neulich starb hier ein Mann, der durch viel verkehrtes Studiren dahin gekommen war, daß er oft Stimmen aus der Wand zu hören glaubte, die ihm z. E. vorsagten, was er eben gelesen hatte, oder sich sonst mit ihm unterhielten – Was ist nun hierbey für Rath, oder welche Probe wäre dagegen anzustellen? Die Seelenkräfte setzen die innern Werkzeuge der Vorstellungen in eben die Bewegung, wie es sonst von aussen geschiehet, und nun, da sie doch nur ihr eigen Werk wahrnimmt, schreibt sie es dem gewohnten äussern Eindrucke zu. Es bleibt nichts als die Untersuchung der Uebereinstimmung aller äussern Umstände übrig. Dadurch fände ein solcher Mensch zwar, daß er nicht im Traume sey, da alles ausser ihm sonst sich in gehöriger Ordnung darstellet: daß aber doch diese besondere Würkung seiner Vorstellung nicht mit den übrigen Naturwürkungen übereinstimme, und also der Unrichtigkeit verdächtig sey. – Das Schlimmste ist, daß der Kranke nicht geneigt, oder nicht fähig ist, sich auf diese Probe einzulassen.

Ich muß hier noch erinnern, daß auch beym Traume die innern oder sich auf uns beziehenden Merkmale der Uebereinstimmung, die Vergleichung[164] mehrerer Sinne, das Zeugniß anderer, u.s.f. nicht zureichend sind, die Täuschung zu heben: denn, wir meinen auch zu fühlen, was wir sehen und von andern dasselbe zu hören. – Ist denn mein Freund würklich noch am Leben? – Allerdings! sagen alle, die im Traume gegenwärtig sind – da komt er her – ich laufe auf ihn zu – ich umarme ihn u.s.w. – Wenn wir aber die äussern Umstände unter sich vergleichen, so finden wir Verschiedenheit genug mit den Vorstellungen, die wir im Wachen haben. Dort stimmt alles, was wir uns ausser uns zu seyn vorstellen, wenig zusammen, Zeit, Ort, Masse der Kraft zur eingebildeten Würkung u.s.w. Hier bleibt alles übereinstimmend: wir finden heute wie gestern Haus, Gegend, Menschen, wieder; nichts blos nach unserer Gedankenreihe; nichts erscheint ohne äussere Ursache: nichts übersteigt die Kraft der Ursache u.s.f. Da nun verschiedene Erscheinungen auch verschiedenen Grund haben müssen, so können wir diese Erfahrung von dem offenbaren Unterschiede der Vorstellungen im Traume und im Wachen auch gar wohl zum Beweise anführen, daß letztere nicht, wie jene, blos subjective Veränderungen unsers Denkens sind, sondern einen Grund ausser uns haben müssen. – Sollte aber diese Verschiedenheit nicht auch gegen die Lehrmeinung zeugen, daß ein jeder seine Vorstellungen eigentlich nur aus sich selbst entwickele, ohne daß in der That eins auf das andere würke, da doch die, welche wir also aus uns selbst entspinnen, so ganz anders zusammenhängen und beschaffen sind?


Seite 54.

Darstellung der Gegend annehmen wollen) Die Vorstellung der Perspective erläutert den Grund des Wahren bey der verschiedenen Einbildung sehr wohl Es sey mir erlaubt, ein Beispiel dazu zu geben, mit welchem ich mir die Sache anschaulich gemacht habe –


Anmerkungen und Zusätze


Die vierseitige Pyramide A schwebe in der Luft, so daß sie von allen Seiten gleich erleuchtet ist, und also dem Auge nicht die Vermuthung eines körperlichen Umfanges darbeut, und nun werde sie aus verschiedenen Standpunkten betrachtet. Der eine sieht sie gerade von unten in C und sagt: es ist ein bloßes Viereck; der andere, der sie grade von einer Seite in B sieht, sagt: es[165] ist ja ein Dreieck; (gleichseitig oder verkürzt, nach dem es mehr senkrecht oder von der Spitze zu betrachtet wird) ein Dritter sieht zwo Seiten D, es sind zwey rechtwinklich zusammengefügte Dreyecke – Nein: nach E vielmehr zwey ungleiche Dreiecke – nach F ein Dreieck mit angehängtem Trapezio – nach G ein durchkreuztes Viereck – nach H ein längliches Viereck, in drei Dreiecke abgetheilt – nach I drey ungleiche Dreiecke. Alle diese und noch mehr Abänderungen lassen sich perspectivisch vorstellen und haben also ihre eigene Wahrheit: nur der aber, welcher dieses alles vergleicht und in der ersten Figur die Uebereinstimmung findet, kann den würklichen Grund der Erscheinungen errathen. Es beweisen also die verschiedenen Vorstellungen keinesweges, daß nicht ein gemeinschaftlicher objectiver wahrer Grund zu allen vorhanden sey. – So weit, mein Freund, –


Seite 60.

Die Fragen verdienen in der Logik eine besondere Erwegung; so wie sie in der Sprache auf eine besondere Weise ausgedrückt zu werden pflegen. Harris hat in seinem Hermes, oder philosophischer Betrachtung über die allgemeine Sprachlehre, ihrer erwehnt, und folgendes davon bemerkt:

»So oft eine Frage einfach und bestimmt ist, spricht er, kan die Antwort meistens in denselben Worten geschehen, indem sie in einen bejahenden oder verneinenden Satz verwandelt werden, je nachdem die Wahrheit auf der einen, oder auf der andern Seite anzutreffen ist. Zum Beyspiel – Sind diese Verse Homers? – Antw. Diese Verse sind Homers. Sind diese Verse Virgils? – Antw. Diese Verse sind nicht Virgils. Und hier haben die Spracherfinder, um der Kürze willen, zwey Partikeln angegeben, wodurch alle dergleichen Antworten ausgedrückt werden können; Ja, für alle bejahende; Nein, für alle verneinende Antworten.

Ist aber die Frage vielfach, als z.B. – Sind diese Verse Homers, oder Virgils? – oder ist sie gar unbestimmt, wenn nehmlich überhaupt gefragt wird – Wessen sind diese Verse? – so kan die Antwort auf die vorhin angeführte Weise nicht erfolgen. Die Ursache hiervon ist, weil keine andere Frage durch ein bloßes Ja oder ein bloßes Nein beantwortet werden kan, als eine solche, die selbst so einfach ist, daß sie von zween möglichen Antworten nur eine zuläßt.[166] Nun kan jede vielfache Frage, wo nicht auf mehrere, doch wenigstens auf viererley Art beantwortet werden, davon zwey bejahend und zwey verneinend sind. Die Ursache ist, weil eine vielfache Frage wenigstens aus zwoen einfachen bestehen muß, deren jede besonders bejahet oder verneinet werden kan. Zum Beyspiel – Sind die Verse Homers, oder Virgils? (1) Sie sind Homers. – (2) Sie sind nicht Homers. (3) Sie sind Virgils. – (4) Sie sind nicht Virgils. – Man kan noch hinzuthun, (5) Sie sind von keinem von beiden. Die unbestimmte Frage gehet noch weiter; diese kan auf unendlich viel bejahende und unendlich viel verneinende Weise beantwortet werden. Wenn z.B. gefragt wird – Wessen sind diese Verse? so kan bejahend geantwortet werden – Sie sind Virgils, Sie sind Horazens. Sie sind Ovids, u.s.w. – Oder verneinend – Sie sind nicht Virgils. Sie sind nicht Horazens. Sie sind nicht Ovids, und so fort ins Unendliche. Wie können wir hier durch ein bloßes Ja oder ein bloßes Nein das Besondere zu erkennen geben, welches unter so vielen Möglichen gemeint sey? Hier müßte also die Antwort durchaus in einem ganzen Satze bestehen. Allein die Gewohnheit hat auch hier die Antwort, um der Kürze willen, in ein einziges, wesentliches, charakteristisches Wort zusammen gezogen, und den Ueberrest von sich selbst verstehen lassen. So wenn wir gefragt werden – Wie viel rechte Winkel enthalten alle Winkel eines Dreyecks? – antworten wir mit der einzigen Sylbe, zwey; ohne Abkürzung würde die Antwort seyn müssen – Alle Winkel eines Dreyecks enthalten zwey rechte Winkel. Die Alten haben diesen verschiedenen Arten von Fragen auch zwey verschiedene Namen gegeben. Die Einfachen nennten sie Erôtêma, Interrogatio: die vielfachen, Pysma. Percontatio.« So weit Harris.

Unrichtig sind diese Unterscheidungen zwar nicht; allein sie scheinen nicht auf den Grund zu gehen, und der Sache nicht Licht genug zu geben. Eine deutliche Worterklärung wird uns helfen, die Begriffe besser aus einander setzen und von diesen Bemerkungen des englischen Schriftstellers logischen Grund angeben zu können. Also: was ist eine Frage?

Es ist offenbar, daß jeder Fragende etwas zu erfahren verlanget, wodurch ein mangelhafter Satz ergänzt und vollständig gemacht wird. Die Antwort ersetzt diesen Mangel und verwandelt also einen gegebenen unvollständigen, in einen vollständigen Satz.[167]

Zum Beispiel – – Wer ist der Verfasser der Iliade? – Das Fragewörtchen Wer stehet hier an der Stelle des unbekannten Subjekts. Die Antwort nennet das Subjekt, Homer; und nun ist der Satz vollständig: Homer ist der Verf. der Iliade. – Was ist die Iliade? – Das Wörtchen Was stehet an der Stelle des unbekannten Prädikats. Die Antwort nennet das Prädikat – Ein Heldengedicht Homers, und ergänzt dadurch den Satz – Die Iliade ist ein Heldengedicht Homers. Es ist also nicht nöthig, mit dem Harris eine Verkürzung anzunehmen. Der Antwortende braucht bloß denjenigen Theil des Satzes anzugeben, der dem Fragenden mangelt. Diesen unbekannten Theil drückt der Fragende durch das Fragewort aus, wie etwa in der Algebra eine unbekannte Größe durch X, Y oder Z angedeutet wird. Der Antwortende zeigt den Werth, der an die Stelle des Zeichens gesetzt werden muß, um den Satz vollständig und bestimmt zu machen.

Der Casus des fragenden Fürworts giebt den Theil des Satzes an, der zur Vollständigkeit fehlt. Der Nominal. Wer? was? bedeutet einen Haupttheil des Satzes, Subjekt oder Prädikat, wie wir in den angeführten Beispielen gesehen. Der Akkus. Wen? was? zeiget an, daß zur Vollständigkeit des Satzes das Objekt fehlet. Wen hat Homer zum Helden der Ilias genommen? – Antw. den Achill. Der Ablat. bedeutet den Bestimmungspunkt woher? so wie der Dativ den Bestimmungspunkt, wohin? und der Genitiv das Verhältniß, in welchem Subjekt oder Prädikat mit einem andern Substantiv stehet. – Z.B. Wessen Heldengedicht ist die Ilias? Antw. Homers. Der Satz, der die Frage angab, war – – Die Ilias ist ein Heldengedicht des X. Subjekt und Prädikat war nehmlich bestimmt und gegeben. Es fehlte aber das Substant., mit welchem das Prädikat in dem bestimmten Verhältnisse stehet. Die Frage drücket dieses durch ein bloßes Zeichen, oder durch das Pronomen interr. im Genitiv aus; Wessen? – Die Antwort erfolgt in demselben Casu: des Homers, und nunmehr ist der Satz vollständig – Die Ilias ist ein Heldengedicht Homers.

In allen diesen Fällen blieb in der Frage ein Haupttheil des Satzes, Subjekt oder Prädikat, entweder völlig unbekannt, oder in irgend einer Betrachtung unbestimmt, wodurch der Satz noch unvollständig ausgedrückt werden mußte. Die Antwort, welche diesen Mangel ersetzen sollte, konnte also so vielfach ausfallen, als mancherley die[168] Gegenstände waren, zwischen welchen der Fragende den Zweifel schweben ließ. Gab er den fehlenden Theil, oder die ausgelassene Bestimmung als völlig unbekannt an; so waren der möglichen Antworten unendlich viele. Z.B. – Wer hat diese Verse gemacht? – So viel Namen möglich sind: so viel Antworten können hier gegeben werden. Hat aber der Fragende den Zweifel auf eine bestimmte Anzahl von Gegenständen eingeschränkt; so giebt es auch keine größere Anzahl von Antworten; sondern eben so viel bejahende und eben so viel verneinende Antworten, als Gegenstände, auf welche die Frage den Zweifel eingeschränkt hat. – Sind die Verse vom Horatz, Virgil oder Ovid? – Die Frage läßt hier eine Bestimmung des Prädikats nicht völlig unbekant; sondern schränkt den Zweifel auf drey Personen ein, und die Antwort kan auf sechserley Art ausfallen, davon drey bejahend und drey verneinend sind. Harris thut noch die Antwort hinzu: – Sie sind von keinem von diesen. Allein mich dünkt, dieses ist nicht so wohl eine Antwort, als eine Erklärung, daß die Frage selbst ungereimt oder unschicklich sey; indem sie den Zweifel näher einschränkte, als der Wahrheit nach geschehen konnte. Sie hat einen von dreyen zum Urheber der Verse angegeben, und im Grunde ist es keiner derselben.

Dieses ist also diejenige Gattung von Fragen, welche die Alten Erôtêma (Interrogatio) nennten. Sie ist nicht, wie Harris meint, zusammengesetzt, oder vielfach; sondern an und für sich sehr einfach, und die Vielheit der Antworten liegt in der Natur der Begriffe. Sie besteht in dem Ausdrucke eines Satzes, dem zur Vollständigkeit ein Haupttheil, Subjekt oder Prädikat, entweder ganz, oder in einer von seinen Bestimmungen fehlet; nebest dem Verlangen, diesen Abgang durch die Antwort zu ergänzen.

Wenn aber die Haupttheile des Satzes gegeben und bestimmt sind, und blos der Zweifel in der Qualität des Satzes liegt; der Fragende nehmlich will wissen, ob der Satz zu bejahen, oder zu verneinen sey; so sind allerdings nur zwo Antworten möglich, eine bejahende und eine verneinende. Die Antwort kan also, ohne Kunstgriff der Spracherfinder, wie Harris meinet, ohne alle Verkürzung, in dem Redetheilchen bestehen, das in der Frage zweifelhaft blieb, in der bloßen Bejahung oder bloßen Verneinung. – z.B. – Sind diese Verse Homers? – Hast du den weißen Bären gesehen? Subjekt und Prädikat sind hier angegeben und bestimt; blos die Beschaffenheit[169] des Bindeworts blieb zweifelhaft, und daher kan die Antwort auch nicht anders, als diese Beschaffenheit angeben; bejahen oder verneinen.

Diese Gattung von Fragen nennten die Alten Pysma, Percontatio, oder wie man im Deutschen etwa sagen könnte, Forschen. Sokrates bediente sich derselben, wenn er seine Schüler ausholen und auf die Wahrheit führen wollte. Er bestimmte allezeit Subjekt und Prädikat seines Wahrheitsatzes so genau, als möglich, und brachte die Frage dahin zurück, daß der Schüler nur Ja oder Nein zu antworten hatte. Auch vor Gericht, beym Zeugenverhör, sehr oft auch bey Inquisition der Verbrecher, pflegt man sich dieser Methode zu bedienen; die Fragen in ihre einfachsten Theile aufzulösen, und alle Stücke des Satzes, bis auf die Beschaffenheit desselben, deutlich anzugeben; so daß der Antwortende blos zu bejahen oder zu verneinen hat.

Diese Subtilitäten, welche Laurenz Sterne durch sein Beyspiel vom weißen Bären so lächerlich gemacht hat, führen gleichwohl zu nützlichen Folgen. Alle Fragen müssen beantwortlich seyn; müssen unvollständige Sätze enthalten, die durch eine mögliche Antwort in vollständige, verständliche und denkbare Sätze verwandelt werden können. Sobald erweislich ist, daß der Satz, welchen die Frage ergänzt haben will, auf keine Weise zu ergänzen sey, daß er in der verlangten Vollständigkeit an und für sich nicht gedacht werden könne; so muß die Frage selbst als unstatthaft verworfen werden. Mich dünkt, daß eine Menge von Fragen, welche von den Weltweisen sehr mühsam untersucht zu werden pflegen, zu dieser Klasse gehören. Sie fordern Vollständigkeit eines Satzes, die an und für sich nicht gegeben werden kann. Sie suchen so etwas, das nicht nur ausser dem Erkenntnißkreise des Menschen, sondern außerhalb aller Erkenntniß überhaupt fallen muß. In dem Texte, auf welchen diese Note anweiset, befinden sich einige Beyspiele von Fragen dieser Art, die mir unstatthaft scheinen. Man erlaube mir, hier noch einige Instanzen anzuführen.


Erste Instanz.

Was sind die Dinge an und für sich, außer allen Empfindungen, Vorstellungen und Begriffen? Diese Frage gehört, wie ich glaube, zu der Klasse der unbeantwortlichen Fragen. Der unvollständige Satz, den sie enthält, ist: – Die Dinge ausserhalb aller Empfindungen,[170] Vorstellungen und Begriffe sind an und für sich = X. Dieser Satz muß, wenn die Frage gelten soll, sich vollständiger machen, das Unbekannte in demselben muß sich in etwas Bekanntes, das X in A verwandeln lassen, und der Satz dadurch in seiner Vollständigkeit denkbar werden. Setzet also: Die Dinge ausserhalb aller Empfindungen, Vorstellungen und Begriffe sind = A. Nun giebt A in diesem Falle offenbar nicht mehr zu denken, als X; denn in so weit das A etwa gedacht, empfunden, oder vorgestellt werden kan, thut es der Frage kein Genüge. Der für unvollständig ausgegebene Satz kan also durch keine mögliche Antwort vollständig gemacht werden. Die Frage ist an und für sich selbst unbeantwortlich.


Zweite Instanz.

Was ist das Substratum aller Accidenzen, die von einer Substanz zu erkennen sind? Auch diese Frage, über welche sich Locke so weitläufig herausgelassen, ist, wie mich dünkt, aus dem nehmlichen Grunde unbeantwortlich. Denn setzet, dieses gesuchte Substratum sey A. In so weit A etwas Denkbares, Begreifliches oder Vorzustellendes bedeutet; gehöret es zu den Accidenzen und thut der Frage kein Genüge. Es ist also keine Antwort möglich, in welcher dieses Substratum angegeben werden soll.


Dritte Instanz.

Hat dieses gesammte Weltall eine örtliche Bewegung? Eine Frage, die Newton aufgeworfen. Kann dieses Weltall von seiner Stelle fortrücken und im leren Raume seinen Ort verändern? – Wenn diese Frage beantwortlich seyn soll, so muß der Satz: dieses Weltall hat seine Stelle verändert, von dem Satze: dieses Weltall hat sie nicht verändert, verschieden seyn und von irgend einem denkenden Wesen unterschieden werden können. Nun ist dieses nach der Voraussetzung unmöglich; denn im unendlichen Leeren giebt es schlechterdings keine Merkmale, wodurch die Theile, oder die Verschiedenheit der Orte von irgend einem denkenden Wesen unterschieden werden könnten. Die Frage ist also von Leibnitzen mit Recht als unbeantwortlich verworfen worden. Eine ähnliche Beschaffenheit hat es mit der Frage in Absicht auf die leere Zeit. Konnte diese Reihe der Dinge, so wie sie jetzt würklich geworden, nicht früher entstehen? – Die Antwort fällt aus eben dem Grunde ins Unmögliche.
[171]


Vierte Instanz.

Ich halte dafür, die bekannte Untersuchung der Physiologen über des Vehikulum unserer sinnlichen Enmpfindungen sey derselben Bedenklichkeit unterworfen, führe zuletzt auf eine Frage, die an und für sich selbst unbeantwortlich ist. Was ist das Vehikulum, fragt man, wodurch die sinnlichen Beschaffenheiten der Gegenstände ausgeführet werden? Es ist eine flüssige Materie, sagen einige; es sind elastische Fibren, antworten andre: bald soll es eine feine Materie, wie Aether seyn; bald der elektrischen Materie gleichen: alle kommen darin überein, daß dieses Vehikulum Materie sey. Nun ist die Materie nicht anders, als durch sinnliche Beschaffenheit (qualitates sensibiles) zu erkennen. Was wir von derselben wissen und erfahren können, bestehet in den sinnlichen Empfindungen, die sie uns gewähret, und in den Merkmalen, die wir davon abgesondert haben. Wir wollen also das Vehikulum aller sinnlichen Beschaffenheiten durch sinnliche Beschaffenheiten selbst erkennen. Wir wollen das Wesen erkennen, welches uns diese sinnliche Beschaffenheiten zuführet, und gestehen gleichwohl, daß dieses Wesen nichts anders, als durch dergleichen sinnliche Beschaffenheiten von uns zu erkennen sey. – Ich traue mir selber nicht, wenn ich in dieser Untersuchung einen so fehlerhaften Zirkel zu finden glaube. Es haben sich so viele scharfsinnige Köpfe mit derselben abgegeben, daß ich immer noch befürchte, die Frage selbst nicht gehörig eingesehen zu haben. Ich werde es einem jeden Dank wissen, der sich die Mühe giebt, mich eines bessern zu belehren, und diese berühmte Streitfrage ins gehörige Licht zu setzen.


Fünfte Instanz.

Ein bemerkenswerthes Beyspiel dieser Art ist, wie es mir scheint, der von einigen Weltweisen erregte Zweifel über die Fortdauer einer Substanz. Welches Merkzeichen, fragen sie, kann davon gegeben werden, daß eine Substanz in aufeinander folgenden Augenblicken noch dieselbe geblieben sey? Selbst bey einem geistigen Wesen, sprechen sie, kan hiervon keine Sicherheit erhalten werden; denn das Bewußtseyn und die Erinnerung des vorigen Zustandes giebt hiervon keine Gewißheit. Immer noch bleibt dieses Bewußtseyn, diese Erinnerung etwas Gegenwärtiges, das dem Geist itzt beywohnet, und würde z.B. in einer untergeschobenen Substanz ebenso wohl statt haben, als in einer fordauernden. Sie kan also kein Kriterium[172] seyn, jene von dieser zu unterscheiden.

Ich antworte hierauf: eben deswegen, weil ein solches Kriterium nicht gefunden werden kan; so kann es auch nicht gesucht werden. Es ist widersinnig, Dinge unterscheiden zu wollen, davon man überzeugt ist, daß sie an und für sich nicht unterschieden werden können. Wenn alle Merkmale und Kennzeichen der untergeschobenen Substanz vollkommen so beschaffen sind, als wenn die Substanz fortgedauert hätte; so ist sie von einer fortdauernden nicht unterschieden; so würde das vollkommenste Wesen selbst sie für einerley halten müssen; das heißt, sie würden einerley seyn. Die Substanz würde dieselbe geblieben, und nicht verwechselt worden seyn. Was nicht zu unterscheiden ist, muß auch in der That nicht unterschieden seyn. Was nicht erkannt werden kann, das ist auch nicht. Das Gesuchte liegt hier ausserhalb des Erkentnißkreises nicht nur des eingeschränkten Menschen, sondern des Erkenntnißkreises überhaupt, und fällt ins Ungereimte.


Seite 131.

Noch dringen mir die Worte durch die Seele, deren sich mein unvergeßlicher Freund in dem letzten Handschreiben bediente, das mir ein Reisender von ihm überbrachte. Seit einigen Jahren hatte weder ich noch unser beiderseitiger Freund Nicolai Schreiben von ihm erhalten, und er war uns einige Antworten schuldig. Dieses befremdete mich nun zwar nicht; denn er war, wie seinen Freunden bekannt ist, nie der rüstigste Briefschreiber, auch eben im Beantworten nicht pünktlich, wenn es bloß um Freundschaftsversicherung, ohne weitem Inhalt, zu thun war. Indessen öfnete ich doch desto begieriger das Briefchen, das mir ein Unbekanter überreichte. Nun hatte sich L., so lange ich ihn kannte, in so verschiedenen äussern Umständen und Lagen ich ihn kannte, nie über Undank seiner Zeitgenossen beschwehrt; nie beklagt, daß ihm nicht Gerechtigkeit widerführe, daß seine Verdienste nicht belohnt würden, und dergleichen Beschwerden, die so mancher mit weit geringerm Rechte von sich hören läßt. Die Worte Ich und Mein war ich gewohnt, aus seinem Munde so selten, als möglich zu vernehmen. Auch waren seine Briefe allzeit lebhaft, gedankenreich und von gediegenem Inhalte. – Alle Arten von Laune war ich an ihm gewohnt; nur niemals Niedergeschlagenheit oder Mismuth. Er war allezeit der tröstende, nie der trostsuchende Freund. Und nun – ich kann die widrige Empfindung nicht[173] beschreiben, die ich haue, als mir folgende Zeilen einen ganz andern Mann zu erkennen gaben, einen gebeugten, abgehärmten, endlich unterliegenden Kämpfer; einen gleichsam müdegejagten, verschmachtenden Hirsch, der endlich hinsinkt, und sein edles Geweih muthlos in den Staub legt:

»Liebster Freund,

Der Reisende, den Sie mir vor einiger Zeit zuschickten, war ein neugieriger Reisender. Der, mit dem ich Ihnen itzt antworte, ist ein emigrirender. Diese Klasse von Reisenden findet sich unter Yoriks Klassen nun zwar nicht; und unter diesen wäre nur der unglückliche und unschuldige Reisende, der hier allenfalls paßte. Doch warum nicht lieber eine neue Klasse gemacht, als sich mit einer beholfen, die eine so unschickliche Benennung hat? Denn es ist nicht wahr, daß der Unglückliche ganz unschuldig ist. An Klugheit hat er es wohl immer fehlen lassen.

Eigentlich heißt er ****, dieser Emigrant; und daß ihm unsere Leute, auf Verhetzung der Ihrigen, sehr häßlich mitgespielt haben, das kann ich ihm bezeugen. Er will von Ihnen nichts, lieber Moses, als daß Sie ihm den kürzesten und sichersten Weg nach dem europäischen Lande vorschlagen, wo es weder Christen noch Juden giebt. Ich verliere ihn ungern; aber sobald er glücklich da angelangt ist, bin ich der erste, der ihm folgt.

An dem Briefchen, das mir D. Flies damals von Ihnen mitbrachte, kaue und nutsche ich noch. Das saftigste Wort ist hier das edelste. Und wahrlich, lieber Freund, ich brauche so ein Briefchen von Zeit zu Zeit sehr nöthig, wenn ich nicht ganz mißmüthig werden soll. Ich glaube nicht, daß Sie mich als einen Menschen kennen, der nach Lobe heißhungrig ist. Aber die Kälte, mit der die Welt gewissen Leuten zu bezeugen pflegt, daß sie ihr auch gar nichts recht machen, ist, wenn nicht tödtend, doch erstarrend. Daß Ihnen nicht alles gefallen, was ich seit einiger Zeit geschrieben, das wundert mich gar nicht. Ihnen hätte gar nichts gefallen müssen; denn für Sie war nichts geschrieben. Höchstens hat Sie die Zurückerinnerung an unsre beßern Tage noch etwa bey der und Jener Stelle täuschen können. Auch ich war damals ein gesundes schlankes Bäumchen; und bin itzt ein so fauler knorrichter Stamm! Ach, lieber Freund! diese Scene ist aus! Gern möchte ich Sie freylich noch einmal sprechen!«

Wolfenbüttel, den 19. Decbr. 1780.[174]

Gern hätte ich dir diesen Trost gegönnt, liebe Seele! Gern wollte ich mich von meinen Geschäften und von meiner Familie losreißen, zu dir hineilen, und dich noch einmal sprechen. Aber leider! machte ich es, wie wir es bey so manchem guten Beginnen zu machen pflegen. Ich verschob und verweilte – bis es zu spät war. Ach! es waren die letzten Worte, die ich von ihm vernahm![175]

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 3.2, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt].
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