I. Was ist Wahrheit?

[9] Indem wir ausgehen, um Wahrheit zu suchen, meine Lieben! so nehmen wir an, daß Wahrheit zu finden sey, und daß es sichere Merkmale gebe, sie von Unwahrheit zu unterscheiden. Wir haben uns also vorläufig die Fragen zu beantworten: 1) Was ist Wahrheit? 2) An welchen Merkmalen wollen wir sie erkennen und von Schein und Irrthum unterscheiden?

Wer nicht anders spricht, als er denkt, der redet die Wahrheit. Wahrheit im Reden ist also Uebereinstimmung zwischen Worten und Gedanken, zwischen Zeichen und bezeichneter Sache. Da sich unsre Gedanken zu ihren Gegenständen gewissermaaßen eben so verhalten, wie Zeichen zum Bezeichneten; so haben einige diese Erklärung allgemein machen, und das Wesen der Wahrheit in die Uebereinstimmung zwischen Worten, Begriff und Sachen setzen wollen. Alle mögliche und würkliche Dinge, haben sie gesagt, sind gleichsam die Urbilder; unsre Begriffe und Gedanken die Abbildungen derselben; und die Worte wie die Schattenrisse der Gedanken. Wenn die Abbildung nichts mehr und nichts weniger enthält, als dem Vorbilde zukömmt, und der Schattenriß richtig andeutet, was in der Abbildung enthalten ist, so ist zwischen allen dreyen die vollständigste Uebereinstimmung, und diese nennen wir Wahrheit.

Ist schon diese Erklärung nicht unrichtig, so scheint sie doch nicht fruchtbar zu seyn. Wenn Wahrheit Uebereinstimmung ist; so ist Unwahrheit, Mißstimmung. Also ist Unwahrheit in Gedanken, Mißhelligkeit der Gedanken unter sich, oder mit ihren Urbildern, mit den Gegenständen, denen sie zukommen. Nun giebt es kein Mittel, die Gedanken mit ihren Gegenständen, d.i. die Nachbilder mit ihren Urbildern zu vergleichen. Wir haben blos die Nachbilder vor uns, und können einzig und allein vermittelst derselben von den Urbildern urtheilen. Wer sagt uns, ob diese Nachbilder treu sind, ob sie nicht mehr oder weniger enthalten, als ihren Urbildern in der That zukömmt, ob es überall Urbilder giebt, denen sie gleichen? Man sieht also, daß uns von dieser Seite wenigstens keine Merkmale angegeben werden, die Wahrheit zu erkennen und von Unwahrheit zu unterscheiden: lasset uns einen andren Weg versuchen.[10]

In Absicht auf die Wahrheit im Sprechen, können wir es bei der vorigen Erklärung bewenden lassen. Wir haben es in unsrer Gewalt, die Worte mit den Gedanken zu vergleichen und zu sehen, in wie weit sie übereinstimmen. Die Gedanken selbst können von zwey verschiedenen Seiten betrachtet werden. Sie gehen entweder das Denkbare und nicht Denkbare, oder das Würkliche und nicht Würkliche an. Zuerst also von den Gedanken, in so weit sie denkbar oder nicht denkbar sind. Diese zerfallen abermals in 1) Begriffe, 2) Urtheile, 3) Schlüsse. Die Begriffe sind wahr, wenn sie Merkmale enthalten, die sich einander nicht aufheben, die also zugleich denkbar sind. Der Begriff eines Zirkels ist wahr; denn die Merkmale, die davon angegeben werden sind einander nicht widersprechend. So ist der Begriff des Zweifels z.B. ein wahrer Begriff, in so weit einem eingeschränkten Wesen die Wahrheitsgründe fehlen können, einen Satz mehr zu bejahen als zu verneinen. Der Begriff von der Gerechtigkeit, ja von der allervollkommensten Gerechtigkeit, ist ein wahrer Begriff; in so weit alle Merkmale, die in demselben zusammengenommen werden, sich einander nicht aufheben und also zugleich denkbar sind. Die allergrößeste Geschwindigkeit aber ist ein falscher Begriff; denn der allergrößeste Raum und die allerkleinste Zeit, die hier zusammengenommen werden, lassen weder einzeln, noch in der Verbindung, sich denken. Eben also sind die Begriffe von der allerhöchsten Ungerechtigkeit, von einer absoluten Tiefe oder Höhe, von einer Begierde nach dem Bösen als Bösem u. dgl. m. falsche Begriffe; indem wir einsehn können, daß in den Worten Merkmale zusammengenommen werden, die sich in den Begriffen widersprechen, und also zusammen nicht denkbar sind.

In den Urtheilen werden blos von dem Subjecte die Merkmale einzeln ausgesagt, die in dem Totalbegriff desselben enthalten sind. Urtheile also sind wahr, wenn sie von den Begriffen der Subjecte keine andre Merkmale aussagen, als die in denselben statt finden. Wahrheit in Urtheilen sowohl als in Begriffen kann also abermals in die Uebereinstimmung der Merkmale gesetzt werden, die in einem Begriff zusammengedacht und einzeln von ihm ausgesagt werden.

Alle Vernunftschlüsse gründen sich auf eine richtige Zergliederung der Begriffe. Man kann sich den gesammten Innbegriff der menschlichen Erkenntniß unter dem Bilde eines Baumes vorstellen. Die[11] äussern Spitzen desselben kommen in Sprößlingen zusammen, diese vereinigen sich in Zweigen, die Zweige in Aesten, und die Aeste treffen endlich in einen Stamm zusammen. Man setze, daß die Fasern des Stammes durch alle Aeste, Zweige und Sprößlinge, so wie die Fasern der Aeste und Zweige durch alle Unterabtheilungen durchlaufen; daß sie aber bey jeder niedern Abtheilung solche Fasern aufnehmen, die sie in ihrer Abstammung nicht gehabt; so hat man ein sehr treffendes Bild von der Verwandschaft unsrer Begriffe. Alle einzelne Dinge kommen in verschiedene Arten, die Arten in Geschlechter, die Geschlechter in Classen zusammen, und die Classen vereinigen sich zuletzt in einem einzigen Stammbegriff, dessen Merkmale sie alle durchlaufen. Was von einem höhern Begriffe ausgesagt wird, muß auch allen niedrigem Begriffen zukommen; was aber von niedrigem Begriffen, als ihnen eigenthümlich, behauptet wird, kann nur einer Abtheilung des höhern Begriffs, nicht allen, mit gleichem Rechte zugeschrieben werden. Hierauf beruhet alle Bündigkeit unsrer Vernunftschlüße. Die Merkmale des Stammes kommen auch allen Aesten, die Merkmale der Aeste allen Zweigen zu, die aus ihnen entspringen: und so fort bis auf die äußersten Spitzen oder die einzelnen Dinge. Rückwärts hingegen können die eigenthümlichen Merkmale der Zweige nur einer Abtheilung des Astes; so wie die eigenthümlichen Merkmale des Astes nur einem Theile des allgemeinen Stammes zugeschrieben werden.

Die Wahrheit der Vernunftschlüsse bestehet also nicht weniger in der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, gewisse Begriffe und Merkmale in Gedanken zu vereinigen. In so weit also unsre Gedanken als denkbar oder nicht denkbar betrachtet werden, bestehet ihre Wahrheit in der Uebereinstimmung der Merkmale unter sich und mit den Folgen, die daraus gezogen werden. Alle menschliche Erkenntnisse, die, so wie die Mathematik und Logik, blos das Denkbare und nicht Denkbare angehen, erhalten also ihre Gewißheit durch den Satz des Widerspruches, der den höchsten Grad der Evidenz mit sich führet. In den strengen Beweisarten zergliedern wir blos die Begriffe, verfolgen die Merkmale des Stammes, durch alle Aeste und Zweige, vergleichen die gemeinschaftlichen mit den eigenthümlichen Merkmalen, und überzeugen uns dadurch von ihrer Denkbarkeit oder Nicht Denkbarkeit.

Alle Erkenntniß dieser Art, in so weit sie das Denkbare und Nicht[12] Denkbare angehet, ist eine Folge von dem richtigen Gebrauch der Vernunft. Nur Mangel der Vernunft oder unrichtiger Gebrauch derselben kann uns auf Unwahrheit verleiten und das Denkbare mit dem Undenkbaren verwechseln lassen. Ferner haben die Wahrheiten, die zu dieser Gattung gehören, das gemeinschaftliche Kennzeichen, daß sie nothwendig und unveränderlich sind, und also von keiner Zeit abhängen. Bey ihnen läßt sich weder ein war, noch ein wird seyn anbringen. Alles ist, oder ist nicht. Begriffe, die sich mit einander vertragen, hören es nie auf zu thun; und die sich einander fliehen, sind nimmermehr in Verbindung zu bringen.

So nothwendig und unveränderlich aber diese Wahrheiten auch an und für sich selbst sind; so werden wir doch gewahr, daß sie uns nicht immer mit gleicher Lebhaftigkeit beywohnen. Ihre Anwesenheit in uns ist an die Zeit gebunden, ist der Veränderung unterworfen. Wir hatten die Begriffe nicht, sie entstunden, und es kömmt eine Zeit, in welcher sie vielleicht wieder verschwinden können. Sie sind Abänderungen unsers denkenden Wesens, denen als solche eine ideale Würklichkeit zugeschrieben werden kann. Sie sind aber, so wie wir selbst, das Subject dieser Abänderung, nicht nothwendige, sondern zufällige und veränderliche Wesen; sie sind nothwendig denkbar, werden aber nicht von uns nothwendig gedacht; so wie wir selbst unveränderlich denkbare, aber nicht unveränderliche würkliche Wesen sind. Die Sphäre des Würklichen ist also enger eingeschränkt als die Sphäre des Denkbaren; alles Würkliche muß denkbar seyn, aber sehr vieles wird gedacht werden können, dem nie eine Würklichkeit zukommen wird. Die Quelle des Würklichen ist also nicht der Satz des Widerspruches; nicht alles, was sich nicht widerspricht und also denkbar ist, hat deswegen gegründeten Anspruch auf die Würklichkeit; und wir haben einen andern Grundsatz aufzusuchen, der die Gränzlinie des Würklichen und nicht Würklichen mit eben der Bestimmtheit angebe, mit welcher der Satz des Widerspruches das Denkbare vom Nicht Denkbaren unterscheidet.

Lasset uns sehen, wie wir zur Idee des Würklichen gelangen, und mit welchem Grunde wir von manchen Dingen überführt sind oder überführt zu seyn glauben, daß sie Würklichkeit haben. Der Mensch ist sich selbst die erste Quelle seines Wissens; er muß also von sich selbst ausgehen, wenn er sich von dem, was er weiß, und was er nicht[13] weiß, Rechenschaft geben will.

Das erste, von dessen Würklichkeit ich überführt bin, sind meine Gedanken und Vorstellungen. Ich schreibe ihnen eine ideale Würklichkeit zu, in so weit sie meinem Innern beywohnen, und als Abänderungen meines Denkvermögens von mir wahrgenommen werden. Jede Abänderung setzet etwas zum voraus, das abgeändert wird. Ich selbst also, das Subject dieser Abänderung, habe eine Würklichkeit, die nicht blos ideal, sondern real ist. Ich bin nicht blos Modification; sondern das modificirte Ding selbst: nicht blos Gedanken, sondern ein denkendes Wesen, dessen Zustand durch Gedanken und Vorstellungen abgeändert wird. Wir haben hier also die Quelle eines zwiefachen Daseyns, oder Würklichkeit: die Würklichkeit der Vorstellungen, und die Würklichkeit des vorstellenden Dinges; Abänderungen, und Vorwurf der Abänderungen; und von beyden glauben wir wenigstens hinlänglich überführt zu seyn.

So wie ich selbst nicht blos ein abwechselnder Gedanke, sondern ein denkendes Wesen bin, das Fortdauer hat; so läßt sich auch von verschiedenen Vorstellungen denken, daß sie nicht blos Vorstellungen in uns oder Abänderungen unsres Denkvermögens sind; sondern auch äußerlichen, von uns unterschiednen Dingen, als ihrem Vorwurfe, zukommen. So wie das denkende Wesen, wie wir gesehn, nicht blos Gedanken ist, sondern seine eigne Bestandheit und reales Daseyn hat, eben also kann das Gedachte eine Würklichkeit haben, die für sich bestehet, und nicht blos ideal ist. Es sind mehrere Dinge denkbar, die, so wie ich, ihre fortdauernde Würklichkeit haben, und deren Abbild in uns zum Theil anwesend ist, zum Theil auch vielleicht nicht anwesend seyn kann. Wir hätten also dreyerley zu betrachten: 1) den Gedanken, dessen Würklichkeit wir eine ideale Würklichkeit genannt haben, der bloß Abwechselung ist; 2) das Denkende oder die fortdauernde Substanz, bey welcher die Abwechselung geschieht, und der schon eine reale Würklichkeit zugeschrieben werden muß; und endlich 3) das Gedachte, oder den Vorwurf der Gedanken, dem wir in vielen Fällen geneigt sind, so wie uns selbst, ein reales Daseyn zuzuschreiben. Aber wie werden wir überführt, daß diese Dinge außer uns auch würkliches Daseyn haben, und etwas mehr sind, als bloße Gedanken in uns? So sehr unsere Natur uns auch zwinget, von manchen dieses mit Zuverläßigkeit anzunehmen, so möchten wir doch gerne den Grund wissen, aus[14] welchem wir in Ansehung derselben über alle Zweifel weg sind.

Zuvörderst die Sinne und ihre mannichfaltige Erscheinungen. Wir sind geneigt, dasjenige außer uns für wirklich zu halten, was auf unsre Sinne einen Eindruck macht; wir werden aber auch gewahr, daß die Sinne zuweilen trügen. Sie verführen uns zuweilen ein Subject der Erscheinung gegenwärtig zu glauben, und wir werden nachher gewahr, daß diese Erscheinungen blos Vorstellungen in uns gewesen sind, und keinen Vorwurf außer uns gehabt haben. Es waren Einbildungen, Träume, Täuschungen, denen blos eine ideale Würklichkeit zukömmt, deren Vorwurf aber vor itzt wenigstens außer uns nirgend anzutreffen ist.

Um uns diesen Zweifel zu benehmen, schlagen wir gewöhnlicher Weise folgende Wege ein. Wir sehen zuvörderst auf die Uebereinstimmung verschiedner Sinne. Je mehrere Sinne uns das Daseyn eines gewissen Vorwurfs aussagen, desto sicherer glauben wir von seiner Würklichkeit zu seyn. Ich sehe das Bild einer Rose, greife hinzu und fühle, bringe sie zur Nase und rieche eben dasselbe, das ich in vielen Fällen, in Verbindung mit dem Anblik einer Rose, gefühlt und gerochen habe. Ich betrachte denselben Gegenstand in verschiedenen Entfernungen, in mancherley Lage, durch verschiedene Mittel, von welchen ich weiß, daß sie die sinnlichen Erscheinungen abändern. Ich betrachte die Gegenstände des Gesichts durch Wasser, durch Luft, durch vergrößernde oder verkleinernde Gläser: die Gegenstände des Gehörs, durch verstärkende oder schwächende Werkzeuge; die Gegenstände des Gefühls bringe ich an verschiedene Theile meines Körpers; und gebe auf die Eindrücke acht, die sie in aller dieser Verschiedenheit auf mich machen, unterscheide das Aehnliche von dem Unähnlichen in denselben. Ich erkundige mich nach den Eindrücken, welche dieselben Gegenstände auf andre Menschen machen, wenn sie in ihren Empfindungskreis kommen. Je mehr Uebereinstimmung sich in allem diesen befindet, desto mehr glauben wir von der äussern Würklichkeit versichert zu seyn. Je mehr Mishelligkeit, desto größer der Zweifel; oder vielmehr die Ueberredung, daß die sinnlichen Erscheinungen, deren wir uns bewußt, blos Gedanken in uns seyn und nichts außer uns zum Vorwurfe haben mögen.

Sind wir nun auf diese Weise von der objectiven Würklichkeit eines sinnlichen Gegenstandes überführt; so wenden wir auf denselben[15] alle Wahrheiten der Mathematik und Logik an, die uns bekannt sind. Wir eignen ihm zuvörderst alle die Prädicate zu, die dem Begriffe desselben, vermöge dieser unumstößlichen Wahrheiten zukommen müssen; so wie wir alle die Eigenschaften von ihm entfernen, die ihm vermöge des Grundsatzes des Widerspruches nicht zukommen können. Auf solche Weise bilden wir Wahrheitssätze, deren Subject die Evidenz der sinnlichen Erkenntniß für sich hat; deren Prädicate aber, vermöge der angewandten mathematischen und logischen Regeln, so und nicht anders mit ihnen denkbar sind. Von diesen Sätzen gehen wir zu Vernunftschlüssen fort; und so entstehn die Lehrgebäude der angewandten Mathematik und Logik in der Naturlehre. Ferner: Je öfter zwey sinnliche Erscheinungen der Zeit nach auf einander gefolgt sind, je öfter wir gesehen, daß auf die sinnliche Erscheinung A eine von ihr unterschiedne sinnliche Erscheinung B sich ereignet hat, mit desto mehrerem Grunde schließen wir auf die beständige Verbindung dieser Erscheinungen; und so oft wir die sinnliche Würklichkeit der Erscheinung A gewahr werden, so erwarten wir mit Ueberzeugung auch die Erscheinung B. Je öfter wir gesehen, daß ein Gegenstand, welcher dem Gesichte, Gefühle und Geschmacke nach, dem Brodte ähnlich war, auch dem Körper eine gesunde Nahrung zu geben pflegte; mit desto größerer Ueberzeugung erwarten wir diese Folge auch jetzt von den sinnlichen Gegenständen, die dem Brodte ähnlich sind, ob wir gleich diese Erfahrung von ihnen noch nicht gemacht haben. Je öfter wir wahrgenommen, daß ein Gegenstand, der die sichtbaren und fühlbaren Eigenschaften einer Rose hat, in der Nähe eine gewisse Empfindung des Geruchs, und beym Genüsse eine gewisse Empfindung des Geschmackes zu erzeugen pflegt; mit desto mehrerer Zuverläßigkeit erwarten wir diese Empfindungen des Geruchs und Geschmacks, von jeder Blume, die sich unsren Sinnen des Gesichts und des Gefühls als eine Rose darstellt. Hiedurch wird die Anzahl der Grund und Heischesätze, deren wir uns in der Naturlehre so wie im gemeinen Leben bedienen, ins Unendliche vermehrt. Wir schließen von der Würklichkeit einer Erscheinung, auf die Mitwürklichkeit aller übrigen sinnlichen Erscheinungen, die mit ihr verbunden zu seyn pflegen; nicht mit der unumstößlichen Gewißheit, die man mathematisch oder logisch nennen kann, sondern mit dem Grade der Ueberzeugung, die auf die Lehre von der Wahrscheinlichkeit gegründet ist[16] und Induction genennt wird. Den Grund von dieser Ueberzeugung, so wie den Grad von Evidenz, den sie gewähren kann, werden wir in der Folge näher betrachten. Ich begnüge mich für heute diese allgemeinen Wahrheitsbegriffe durch ein Beispiel zu erläutern. Ich genieße eine Speise, und sie gewähret meinem Gaumen den Geschmack des Salzes. Die Menschen, welche sie mitgenießen, verspüren dieselbe Empfindung: auch unserm Gesichte erscheint sie unter der Gestalt des gewöhnlichen Salzes: ich betrachte sie mikroscopisch, und ihre Theile haben die Bildung des Salzes: ich bringe sie in's Wasser, und sie löset sich auf, wie das Salz zu thun pfleget: und nun erwarte ich, daß sie in chymischen Untersuchungen auch dieselben Erscheinungen zeigen werde, die nach den Gesetzen dieser Kunst mit dem Salze verbunden sind; ich lasse es bey dieser vermuthlichen Erwartung nicht bewenden, ich untersuche einen Theil dieses Körpers vielmehr würklich durch chymische Processe. Wenn nun meine Erwartung eintritt, so schließe ich mit desto größerer Ueberzeugung auch auf die Würkung, die der Ueberrest dieses Gegenstandes in meinem Körper hervorbringen wird, nach der Menge der Erfahrungen, die mit ähnlichen Mitteln in ähnlichen menschlichen Körpern angestellt worden sind. Aus der Menge der Uebereinstimmungen, die ich erfahren habe, erwarte ich in ähnlichen Fällen auch ähnliche Uebereinstimmung; mit mehr oder weniger Evidenz, je größer oder kleiner die Menge der Fälle ist, in welcher ich Uebereinstimmung erfahren habe.[17]

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 3.2, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt], S. 9-18.
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