IV. Warheit und Täuschung.

[35] Als ich den Laubengang hinaufkam, schient ihr mir, meine Lieben! in einem lebhaften Streite begriffen zu seyn. War der Innhalt desselben etwa die Eröffnung der Scheide, oder sonst ein Thema dieser Art, das uns vor jetzt gleichgültig seyn kann, oder hatte er einige Beziehung auf unsre gewöhnliche Unterhaltungen in den Morgenstunden?

Sie wissen, antwortete J., daß wir um diese Zeit, wie Pope sagt, dem Ehrgeize und dem Stolze der Fürsten ihre Kleinigkeiten lassen, und jeden Tag mit solchen Gedanken beginnen, die uns näher angehen. – So spricht ein englischer Dichter, erwiederte ich. Ein Wiener dürfte vielleicht in seiner Dichtersprache sagen: die Rede ist hier nicht von Ehrgeiz oder Habsucht der Fürsten; sondern von der Befreyung einer Flußgöttinn, der in den vorigen Jahrhunderten der Aberglaube die Augen verbunden und Merkur die Hände gefesselt hatte, und die itzt von der Staatskunst, mit Hülfe der Eris oder Belona wieder in Freiheit gesetzt werden soll. – Ihm sey dieses vergönnt, sprach er. Aber wir, die wir keine Wiener sind, weihen unsere Morgenandacht, in einer ähnlichen Dichtersprache, jener himmlischen Gottheit, die auch auf Erden ihren Tempel haben soll; obgleich die wenigsten Sterblichen den Steig zu finden wissen, der zu ihm hinaufführt. Die Fürsten sollen eigentlich um ihrentwillen nie ein Schwerdt gezückt haben; wiewohl sie zu manchen blutigen Auftritten hat den Vorwand hergeben müssen. Weder der Eris noch der Bellona ist es je erlaubt, in den Tempel selbst zu kommen. Jene aber wirft sich zuweilen zur Wegweiserin auf, und es soll ihr würklich nicht selten gelingen, die Freunde der Göttin bis an die äußerste Pforte des Tempels zu bringen. Aber nicht allezeit; es kömmt darauf an, wie man sagt, welchem Winke sie selbst folgt. Ist es der himmlische Amor, der vor ihr her tändelt, und ihr die Spur zeigt; so führt sie würklich zum Tempel hin, und zieht sich von der Pforte bescheiden zurück. Trabt aber der Ehrgeitz vor ihr her, so erreget er durch seinen Ungestüm eine Wolke von Staub, die die ganze Aussicht verdunkelt; und man ist in Gefahr, dicht vor der Pforte des Tempels, ihr den Rücken zuzuwenden. Ja wenn diese auch geöffnet[35] würde, so schlüpft der Ehrgeitz unvermerkt mit hinein, um den ihm folgenden Sterblichen durch einen Umweg wieder hinaus zu führen, und der Eris wieder in die Hände zu liefern.

Du hast mit meinem Kalbe gepflügt, antwortete ich; daher kann ich leicht dein Räthsel finden, mein Sohn! Die Wahrheit war der Innhalt eures Streits; und ich hoffe, diesesmal soll die Eris dem Winke jenes Amors folgen, dem die Morgenstunden geheiligt sind. Und um der Allegorie ein Ende zu machen; ging es etwa die Erklärung an, die ich euch gestern von der Wahrheit zu geben wagte? Eben diese, erwiederte er. Es schien einigen von uns, als wenn die Merkmahle, die Sie von der Wahrheit angaben, nicht immer hinreichend wären, sie vom Betruge der Sinnen zu unterscheiden. Sagten Sie nicht, eine Erkenntniß sey Wahrheit, in so weit sie aus der positiven Kraft unsrer Seele folgt; in so weit sie aber durch die Einschränkung dieser Kraft eine Abänderung leidet, werde sie zur Unwahrheit? – Richtig! – Diese Unwahrheit, setzten Sie hinzu, werde Irrthum genannt, wenn sie eine Folge des Verstandes und der Vernunft ist; fließe sie aber aus den Schranken des Sinnenvermögens, so werde sie Sinnenbetrug oder Täuschung genannt. War es nicht also? – Allerdings. – Nun sagen Sie selbst, lieber S., durch welche Instanz Sie wider diese Erklärung einen Zweifel zu erregen gewußt haben.

S. Ich sahe hier im Wasser das Bild meines Freundes; wende mich zur Rechten, und sehe ihn würklich neben mir stehen. Eben derselbe Sinn, der mir hier den Schein zu erkennen gegeben, zeigt mir da die Wahrheit. Wir können nicht sagen, daß in dem einen Falle die positive Kraft, und in dem andern Fall die Einschränkung derselben, die Erscheinung hervorgebracht habe. Der Sinn sowohl, als das Organ des Gesichts, thaten in beiden Fällen ihre Pflicht, und verrichteten das, was sie zu verrichten bestimmt sind. Woran liegt es also, daß ich demungeachtet jenes für Schein, dieses für Wahrheit halten muß? – Eine andre Instanz! Ist es nicht vermöge der positiven Kraft unsers Gesichts, und nach den wahren Gesetzen der Optik, daß ich in jenen Wolken dort einen Regenbogen glänzen sehe? Gleichwohl ist der Regenbogen, wie wir wissen, bloßer Schein; keine Würklichkeit, keine Wahrheit. Wenn aber das Criterium, das Sie von der Wahrheit angegeben, entscheidend seyn soll; so müßte es sich auf alle diese, und dergleichen Fälle, mit Nutzen anbringen[36] lassen. Freylich! erwiederte ich. Ein Probierstein der uns in die Hände gegeben wird, muß hinreichen, in allen Fällen das Aechte vom Falschen zu unterscheiden, wenn wir uns mit Sicherheit darauf verlassen sollen. – Und ihr, meine Freunde! die ihr die Anklage vernommen, welche S. wider meine Erklärung vorbrachte; wußtet ihr etwas zu ihrer Vertheidigung zu sagen, oder überließt ihr sie ihrem Schicksal?

Und W. ergriff das Wort: So völlig haben wir sie noch nicht aus dem Felde schlagen lassen. Es schien uns, als wenn Sie selbst in Ihrem Vortrage ähnliche Beobachtungen angeführt, und mit Anwendung auf Ihr Criterium erläutert hätten. Indessen wünschten wir die nähere Aufklärung der von S. erregten Zweifel aus Ihrem Munde zu hören. Lassen Sie, wenn es Ihnen so gefällt, dieses den ersten Gegenstand unsrer heutigen Unterhaltung seyn! – Gerne! sprach ich; und eben dieses wird der schicklichste Eingang zu der Materie seyn, die ich heute vorzutragen habe.

Du sagtest, mein Sohn! der Sinn des Gesichts verfahre nach denselben Gesetzen der Optik, und gebe dir gleichwohl hier ein bloßes Bild deines Freundes, dort aber ihn wirklich zu erkennen. Beides sey also Würkung der positiven Sinneskraft, und gleichwohl sey nicht beides Wahrheit. War es nicht dieses, was dir meinen Satz verdächtig machte? – Eben dieses! – Du weißt, wie die Sachwalter einen Angeklagten zu rechtfertigen pflegen. Sie läugnen die Thatsache, oder schieben die Schuld auf einen andern. Ich werde das Letztere ergreifen. Ich behaupte, der Sinn des Gesichts sey an der Täuschung nicht Schuld, und sage vielmehr, so viel an ihm liegt, in beiden Fällen die reine Wahrheit aus. Als Erscheinung dieses Sinnes, hat das Bild, das du hier im Wasser siehest, nicht weniger Wahrheit, als jenes. Beides sind Würkungen der positiven Sinneskraft, und können, nach meinem Begriffe, weder trügen noch täuschen. – Wer soll denn aber sonst an der Bethörung Schuld seyn? fragte er. Wenn beide Gesichtsbilder die Wahrheit aussagen: wie geht es denn zu, daß mir jenes Bild meinen Freund da zeigt, wo er nicht ist; indeß mir dieses hier, ihn da zu erkennen giebt, wo er würklich vorhanden ist. – Vorhanden ist, antwortete ich. Hier also lieget der Knoten. Was verstehst du unter würklich seyn, vorhanden seyn? Er schien ein wenig nachzudenken, und sprach endlich: Wenn Sie mich nicht fragen, antwortete jener auf eine ähnliche Frage,[37] so weiß ich es. – Auch dringe ich vor der Hand, erwiderte ich, nicht auf eine schulgerechte Erklärung. Ich will nur die Merkmale wissen, an welchen du erkennest, daß dieses Bild hier ein täuschendes; jenes aber, ein würkliches Bild deines Freundes sey. Erkennest du dieses nicht etwa daran: daß die bekannte Stimme deines Freundes nicht aus dem Wasser, sondern hier von der Seite zu dir komme; daß du die Hände hier zur Rechten ausstrecken müssest, wenn du deinen Freund umarmen, oder etwas aus seiner Hand empfangen willst? Sind es nicht diese und dergleichen Kennzeichen, an welchen du Schein vom Daseyn, bloßen Schein von würklicher Substanz unterscheidest? – Dieses ward zugegeben, und ich fuhr fort: Der Sinn des Gesichts war also an der Täuschung nicht Schuld. Ein Nachurtheil der Seele war es, das dich hintergangen hat. Du erwartetest von jedem Bilde des Gesichts auch die Erscheinung des Gehörs und des Gefühls, die sehr oft mit denselben verbunden sind; und die Erwartung traf diesesmal nicht ein. Der Grund dieser Erwartung war, wie wir gesehn, eine unvollständige Induction, ein Schluß von Vielem auf Alles, von Oft auf Immer; und wenn dieser Schluß trügt; so ist es offenbar eine Würkung unsrer Schwachheit, des Mangels und der Einschränkung unserer Erkenntnißkräfte.

Dieselbe Bewandniß hat es mit dem Regenbogen, als der zweyten Instanz, die du anführtest. Der starke Glanz der Farben, mit welchen er strahlet, läßt dich einen festen Gegenstand erwarten, auf welchen die Farben aufgetragen sind; und die Theorie sowohl als die Erfahrung überführen dich, daß sie blos in dem feuchten Dunst, aus welchem die Wolken bestehen, hin und herschweben; und mit jeder andern Stellung, die du annimmst, auch ihren Ort verändern. Auch hier ist es nicht das Gesicht, in so weit es eine Würkung deiner positiven Erkenntniskraft ist, das dich täuschet. Die Gewohnheit und die Erwartung des Aehnlichen hat dich hintergangen, und du verließest dich auf eine Schlußart, die nicht in allen Fällen bündig ist. Immer bleibt also die Wahrheit eine Folge der positiven Erkenntnißkraft; die Unwahrheit hingegen eine Folge des Unvermögens, das mit derselben verbunden ist.

Und nun zur Beantwortung unsrer zweyten Frage, die ich für diesen Morgen, zum Vorwurf unsrer Unterhaltung bestimmt hatte. Mit welchem Grade der Gewißheit können wir uns von der Wahrheit versichern? Wo ist der Probierstein, an welchem wir prüfen[38] können, ob eine Erkenntniß, die wir besitzen oder zu besitzen glauben, eine Folge der Denkungskraft, oder ihrer Einschränkung sey?

Ich komme auf meine dreyfache Eintheilung unsrer Erkenntnisse zurück, die euch noch beywohnen wird. Sinnliche Erkenntniß, Vernunfterkenntniß und Erkenntniß des außer uns Würklichen, oder Naturerkenntniß. – Alle unmittelbare sinnliche Erkenntniß, oder wie sie andre nennen, alle anschauende Erkenntniß, es sey Empfindung der äußern, oder Wahrnehmung der innern Sinne, führen die höchste Ueberzeugung mit sich. Als Vorstellungen in der Seele betrachtet, findet weder Irrthum noch Täuschung bey ihnen statt. Wenn ich höre und sehe und fühle, so leidet es weiter keinen Zweifel, daß ich würklich höre und sehe und fühle. So auch, wenn ich Lust und Unlust empfinde, hoffe, fürchte, Mitleiden habe, liebe, hasse u.s.w. Irrthum findet bey ihnen nicht statt; denn dieser folgt, wie wir gesehen, aus einem unrichtigen Gebrauch der höhern Seelenkräfte, welche blos bey der Vernunft und Naturerkenntniß mitwürken und Dienste thun müssen. Die unmittelbare, anschauende Erkenntniß bedarf weder der Vernunft noch des Verstandes, und kann also durch keinen unrichtigen Gebrauch derselben gemisleitet werden. Und die Täuschung oder der Sinnenbetrug? Wir haben gesehen, daß auch diese nur alsdann hintergehen können, wenn wir auf Gegenstände außer uns schließen; wenn unsre Erkenntniß nicht blos Vorstellung, sondern auch Darstellung seyn soll. In diesem Falle treten bey der sinnlichen Erkenntniß dieselben Schlußfehler ein, welche bey der vernünftigen Erkenntniß statt haben, und leiten zuweilen auf irrige Folgen. So wie sie bey dieser Irrthum erzeugen; so erzeugen sie bey jener, durch die Gewohnheit, Täuschung und Sinnenbetrug. So lange wir aber bey der sinnlichen Erkenntniß stehen bleiben, so lange wir diese noch nicht als Darstellung, sondern blos als Vorstellung betrachten; leidet sie weder Zweifel noch Ungewißheit, und hat den höchsten Grad der Augenscheinlichkeit für sich.

Was nach den Regeln des Denkbaren aus diesen ersten Grundbegriffen geschlossen wird; mit andern Worten: was nach dem Satze des Widerspruchs aus der unmittelbaren, anschauenden Erkenntniß folgt, ist in eben dem Grade über alle Zweifel hinweg. Der Satz des Widerspruchs ist eine Bedingung, ohne welche das Denken überall nicht statt hat. Wir müssen also alles Denken, alles Untersuchen[39] aufgeben, wenn wir nicht die nothwendige Bedingung des Denkens gelten lassen, und uns zu allen Folgen verstehen wollen, auf die wir vermittelst derselben geführt werden. Irrthümer können zwar hier mit einschleichen, aber nur als Rechnungsfehler; in so weit wir etwa von den Gesetzen des Denkbaren unrichtigen Gebrauch machen. In der gemeinen Rechenkunst können wir, durch unrichtige Anwendung der untrüglichsten Regeln, auf irrige Resultate kommen, wie einem jeden von uns bekannt ist. Die praktische Beantwortung einer jeden Frage bedarf daher sowohl der Probe, als des Beweises. Der Beweis zeigt eigentlich an, wie das Resultat herauskommen müsse, wenn nach Vorschrift der Auflösung verfahren wird. Die Probe hingegen soll in jedem vorliegenden Falle zeigen, ob das auch würklich geschehen sey, was nach den Erfordernissen des Beweises hätte geschehen müssen. Der Beweis kann, wie in der gemeinen Rechenkunst offenbar der Fall ist, den höchsten Grad der Ueberzeugung mit sich führen; aber alle Proben sind unzulänglich, uns den Zweifel zu benehmen, daß wir richtig verfahren haben. Dieselbe Bewandniß hat es mit allen streng erweisenden Wissenschaften, denen man den höchsten Grad der Evidenz zuschreibt; mit der Mathematik nehmlich, und mit der Logik. Die Regeln des Denkens, auf welche sie sich gründen, und die Schlußformen, durch welche Wahrheit von Wahrheit hergeleitet wird, sind von der augenscheinlichsten Gewißheit. Ob aber diese Regeln, diese Schlußformen, auch richtig angewendet worden sind; hiezu gehören Proben, in deren Ermangelung noch immer ein kleiner Grad der Ungewißheit zurück bleibt. Die Theorie ist über allen Zweifel hinweg; aber in der Anwendung können viel Rechnungsfehler einschleichen und Irrthümer zeugen.

Die Gewisheit der unmittelbaren sinnlichen Erkenntniß erstreckt sich auch auf das Gebiet der Schönheit und der sittlichen Empfindungen. Auch hier hat der Geschmak eine Art von Unfehlbarkeit. Wo ihr Schönheit empfindet, da muß Schönheit anzutreffen seyn; und ein Gedanke oder eine Handlung, die eure Seele erhebet und sie gleichsam ihren eigenen Werth empfinden läßt, muß in der That erhaben seyn. Da der Geschmack und das sittliche Gefühl keine Vernunfterkenntnisse sind, so findet Irrthum oder Fehlschluß bei ihnen nicht statt. Und Täuschung? Wir haben gesehen, daß diese nur da zu besorgen ist, wo die Seele gleichsam aus sich herausgehet, und[40] von ihrer Erkenntniß auf das Object schließet; nur da, wo Vorstellung von Darstellung unterschieden ist. So lange sie sich aber auf ihre innere Empfindungen, als Empfindungen einschränkt; so lange ist jeder Schein Wahrheit, und ich glaube zu empfinden eben so viel, als ich empfinde. Der verkehrteste Geschmack also, kann hierinn weder trügen noch täuschen, so lange wir bey der subjectiven Empfindung stehen bleiben. Falschheit findet auch hier nur bey der Beurtheilung statt, wo eine Art von Rechnungsfehler mit unterlaufen, und auf Irrwege führen kann. Der richtige Geschmack nehmlich erwäget alle Theile eines Gedanken oder Gegenstandes, vergleichet Haupt- und Nebenbegriff, setzt jedes in sein gehöriges Licht, berechnet Schönheit gegen Fehler, und fällt sein Urtheil nach dem Eindruck des Ganzen. Der fehlerhafte Geschmack hingegen vertheilet Licht und Schatten nach einem unrichtigen Ebenmaße, hält sich an einen Nebenbegriff fest, übersieht, was nicht übersehen werden soll, und urtheilet nach einer unrichtigen Schätzung von dem Wehrte des Ganzen, nach einem seiner Theile. Seine Empfindung hat evidente Wahrheit, aber seine Beurtheilung täuscht.

Helvetius sucht, in einer von seinen nachgelaßnen Schriften, den misverstandnen Satz zu behaupten: daß alle menschliche Erkenntniß aus sinnlichen Empfindungen entspringe. Wie er dieses blos auf die Würkung der äußern Sinne einschränkt, und die ganze Masse unsrer Begriffe aus einem Spiel der Fibern im Gehirn erklären will; so glaubt er, der Seele alle allgemeine Begriffe absprechen zu müssen. Alles ist im Gehirn sinnlicher Eindruck; und um die Schwierigkeit zu heben, die ihm die Sprache macht, in welcher alle Wörter allgemeine Begriffe bedeuten, sagt er: die Sprache sey blos Zeichenerkenntniß; so wie in der Algebra z.B. die Zeichen oder in der gemeinen Rechenkunst die Zahlen nichts anschauendes mit sich führen, und blos als Symbolen, durch Versetzung und Vergleichung, auf richtige Schlußsätze führen können, eben also können die Wörter als leere Zeichen und Symbolen, in der Sprache ein Hülfsmittel zum Denken werden und einen vernünftigen Diskurs bilden. So wie wir uns dort mit der Ueberzeugung begnügen, daß wir jedem Zeichen, sobald wir wollen, einen bestimmten Wehrt unterlegen können, und daß das Resultat von dem bestimmten Wehrte eben so richtig folgen werde, als der Calcul es von den Zeichen herausgebracht hat: auf eine ähnliche Weise, meint er, begnügten wir uns[41] beym Gebrauch der Sprache mit der Versicherung, daß wir einem jeden Worte, einen sinnlichen Eindruck von einer gewissen Gattung unterlegen können, ohne in der That etwas mehr als ein leeres Zeichen dabey zu denken, oder uns vorzustellen. Wir rechnen blos darauf, daß die sinnlichen Eindrücke unter sich in denselben Verhältnissen stehen, in welche wir die Worte, oder Zeichen derselben, gebracht haben; denken aber voritzt blos den sinnlichen Eindruck, den die Worte als Zeichen machen. – Mithin wäre nach dieser Hypothese, die ganze Sprache des Menschen, eine bloße Sammlung von leeren, algebraischen Zeichen, die wir nach gewissen Regeln versetzen und verbinden.

Mich dünkt, wenn diese Hypothese wahr wäre; so würden wir durch die Sprache zwar Vernunftschlüsse machen, aber keine Empfindungen erregen können. Bloße symbolische Erkenntniß, wie die in der Rechenkunst und Algebra, läßt das Gemüth unbewegt; kann weder Liebe noch Haß, weder Furcht noch Mitleiden, überhaupt weder Lust noch Unlust erzeugen. Wir würden bey der Vorstellung des vortreflichsten Schauspielers, bey Lesung eines Gedichts oder einer Rede, so kalt und gleichgültig bleiben, als wir bey einer algebraischen Rechnung sind. Wie geht es aber zu, daß wir durch die Sprache gleichwohl die größten Würkungen dieser Art hervorbringen können? Empfindungen können nicht trügen. Wo Empfindung ist, da schließen wir mit der größten Sicherheit, auf anschauende, unmittelbare Erkenntniß. Unsre allgemeine Notionen, und die Wörter, die sie vorstellen, müssen also nicht blos in Zeichenerkenntniß bestehen; es muß ihnen etwas anschauendes, etwas unmittelbar erkanntes anhängen, wodurch sie das Gemüth zur Theilnehmung erwekken und Empfindung von Lust und Unlust erregen können.[42]

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 3.2, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt], S. 35-43.
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