VI. Ideenverbindung. – Idealismus.

[50] Sind die Metaphysiker nicht, in der That, eine seltsame Art von Menschen? dürfte mancher sprechen. Sie versagen sich das Vergnügen des Morgenschlafs, unterbrechen vielleicht den schönsten Morgentraum, um sich hier unter einer Linde die wichtige Wahrheit einander zu entdecken, daß Schlafen nicht Wachen, und Wachen nicht Träumen sey. Eine Wahrheit, die jedem Kinde auf dem Schooße der Amme, so gut als ihnen bekannt ist. So lächerlich dieses auch seyn mag; so hat doch jedes Lächerliche, wie wir wissen, auch einen ernsthaften Gesichtspunkt, und es kömmt darauf an, von welcher Seite man es betrachten will. Gesunder Menschensinn und Vernunft fließen beide aus einer Quelle, sind eine und ebendieselbe Erkenntnißkraft. Nur geht diese langsam und, wie Fontenelle sagt, mit schwerfälligen Elephantenschritten, wo jener gleichsam wie geflügelt zum Ziele eilt. Es ist der Bemühung des Weltweisen nicht unwürdig, zu versuchen, in wie weit er die Aussprüche des Menschensinnes in Vernunfterkenntniß auflösen könne. Der Geometer entsieht sich nicht, nach der Strenge zu beweisen, daß die gerade Linie der kürzeste Weg zwischen zwey Punkten sey; ob ihm gleich der Cyniker mit Recht vorhält, daß dieses auch dem Hunde bekannt seyn müsse, der seinen Raub in gerader Linie zu ereilen sucht. Auch der thierische Sinn, antwortet jener, hat seinen Erkenntnißgrund, und wir wollen sehen, ob wir ihn in Vernunfterkenntniß auflösen können. Wir setzen also unsre gestrige Betrachtung fort, ohne das Lächerliche zu scheuen, das ihr anzuhängen scheinet. Das Wachen, in so weit es die Seele angeht, ist, wie wir gesehen, ein Zustand, in welchem die objective Verbindung der Begriffe, die Ordnung der Causalität oder der Naturgesetze, das stärkste Licht hat, und in der Seele gleichsam die Oberherrschaft führet. Sie weiset einer jeden subjectiven Ideenverbindung ihren Ort in Zelt und Raum an, und ertheilt ihnen den gehörigen Grad von Licht und Kraft; sie lenkt die Aufmerksamkeit, regiert die Bewegungswerkzeuge, und leitet selbst den Gang der Vernunft beym anhaltenden Nachdenken. Alle Würkungen der Seele befinden sich wie in einer wohlgestimmten Harmonie, so lange der Totaleindruck des Gegenwärtigen den Grundton angiebt, auf welchen sie sich stützen.[50]

Nun kann diese Harmonie und die nach derselben eingerichtete Oekonomie der Seelenverrichtungen zerrüttet und in Unordnung gebracht werden, wenn entweder die objective Ideenordnung zu schwach, oder die subjective verhältnißmäßig zu mächtig wird. Das Letztere geschieht in der Leidenschaft, Trunkenheit, Entzückung, oder im Wahnwitze. In allen diesen Zuständen haben gewisse Begriffe für die Seele einen so unwiderstehlichen Reitz, daß sie ihnen auf alle Abwege nachfolgt, dahin sie verleiten. Das Bewußtseyn des Gegenwärtigen, oder die Causalitätsordnung, hat immer noch Gewalt genug, die Aufmerksamkeit, so wie die Bewegungswerkzeuge je zuweilen nach Willkühr zu lenken; aber das Interesse für eine subjective Reihe der Begriffe reißt die Oberherrschaft zuweilen an sich, führt die Seele den Gang der subjectiven Ordnung, und giebt ihr Gedanken und Handlungen ein, die mit dem wirklichen Zustande der Dinge nicht übereinstimmen. So oft die sinnlichen Eindrücke mächtig genug werden, die Seele von ihrem Abwege zurück zu führen, erkennet die Vernunft zwar ihren Irrgang, und fasset in der Trunkenheit oder im Wahnwitze selbst den Vorsatz, ihn in der Folge zu vermeiden. Allein der Vorsatz ist nicht von Dauer. Sobald das Interesse wieder lebhaft wird, schwächt es den Eindruck des Gegenwärtigen, und stimmt ihn wieder herab zu seinem Unvermögen. Die Seele ist keiner vernünftigen Ueberlegung mehr fähig, und überläßt sich abermals der Führung ihrer schwärmerischen Ideenordnung.

Im Schlafe sind die sinnlichen Eindrücke geschwächt, aber verhältnißmäßig auch die Bilder der Imagination. Weder das Vergangene, noch das Gegenwärtige ist lebhaft genug, ein Bewußtseyn in der Seele hervorzubringen oder auf die Bewegungsorganen zu würken. Alles erscheint in einem sehr geschwächten Lichte, aber in derselben Harmonie von Licht und Schatten, Hell und Dunkel, Nähe und Entfernung; etwa wie eine Gegend in der Dämmerung, oder wie ein Gemälde, das mit einem durchsichtigen Flor überzogen ist. Die Beleuchtung ist gemildert, der Eindruck nicht überwältigend und hinreißend, aber immer noch derselbe und von ähnlicher Würkung. Wenn aber in diesem Zustand irgend ein Bild der Einbildungskraft, ein Begriff des Vergangenen, zufälligerweise etwas mehr Lebhaftigkeit erhält; so kann dadurch eine subjective Ideenreihe in der Seele erwachen, und mit Bewußtseyn verknüpft werden. Von keinem[51] stärkern. Bewußtseyn des Gegenwärtigen zurückgerufen, wird die Seele, nach dem Gesetze der Imagination oder nach Vorschrift des Interesse, von einer subjectiven Reihe der Begriffe in die andre übergehen; und Dinge der Würklichkeit nach für verknüpft halten, die unter sich in keiner Kausalitätsverbindung stehen. Der Streit dieser Erscheinung mit den Gesetzen der Natur wird sie zwar etwas aufmerksam machen, und zuweilen auf Zweifel bringen; allein zum vernünftigen Ueberlegen gehört, wie wir gesehn, unumgänglich, daß die Seele vom Eindrucke des Gegenwärtigen beherrscht werde. Kann sie aber ihrer subjectiven Ideenreihe folgen; so verschwindet der Vorsatz zu überlegen und nachzudenken in dem zweyten Augenblicke schon wieder: die Seele hat diese ganze Reihe schon verlassen und befindet sich nunmehr in einer ganz andern Verbindung der Dinge, in welcher weder von ihrer Ueberlegung noch von ihrem Vorsatze selbst, die mindeste Spur zu bemerken ist. Diesen Zustand der Seele nennen wir träumen. Auch das Träumen ist eine Art von Verrückung in eine andere Reihe der Dinge, als diejenige, die uns umgiebt. Nur daß im Traume die Vorstellungen überhaupt nicht Gewalt genug haben, auf die Bewegungsorgane zu würken. Es ist indessen möglich, daß im Schlafe die Bilder der Einbildungskraft so lebhaft werden, daß sie auf die Bewegungsorganen würken und freywillige Handlungen hervorbringen. Die sinnlichen Eindrücke können dabey ganz oder größtentheils geschwächt bleiben, wenigstens diejenige Lebhaftigkeit nicht erlangen, die zum völligen Erwachen erfordert wird, und daher den Träumen ein freyes Spiel lassen, die Organe in Bewegung zu setzen, und Dinge zu verrichten, die wir sonst nur im Wachen verrichten können. Dieser Zustand ist eine Krankheit, die man das Nachtwandeln nennet. Die freywilligen Verrichtungen, die in diesem Zustande geschehen, erfolgen vermöge der subjectiven Ideenverknüpfung. Von dem würklich Gegenwärtigen nehmen sie nur so viel mit, als unmittelbar zu ihrem Zwecke gehört. Der Nachtwandler wird die Gegenstände, die ihn unmittelbar berühren, oder zunächst im Wege sind, zu vermeiden suchen, oder aus dem Wege räumen; und dieses um so viel eher, wenn es Dinge sind, die er auch im Wachen, ohne Bewußtseyn, so zu behandeln gewohnt ist. Der Totaleindruck kann immer noch fehlen, durch welchen die Seele sich in der gegenwärtigen Welt gleichsam orientirt und zum völligen Erwachen gebracht wird.[52]

Das Nachdenken der Seele, haben wir gesehen, wird gestört, wenn ein Bild der Einbildungskraft lebhafter, oder das Interesse der Seele mächtiger wird, als ihr Vorsatz, die Meditation zu verfolgen. So oft aber dieses nicht geschieht, kann die Seele ihrem Vorsatze treu bleiben, und nach dem Gesetze der Vernunft ihre Meditation ununterbrochen fortsetzen. Man sieht, daß dieses auch sogar im Wahnwitze oder im Traume geschehen kann; so oft weder das Interesse, noch die Lebhaftigkeit einer bildlichen Vorstellung, mit dem Erfordernisse des vernünftigen Nachdenkens in Collision kömmt. Die Beyspiele sind nicht selten, daß Wahnwitzige, in Dingen, die keine Uebersicht des Gegenwärtigen erfordern, und blos den Gang der strengen Vernunft und des Nachdenkens fortgehen, oft sehr gut zurecht kommen und die sinnreichsten Meditationen oft mit Vernunft und Ordnung auszuarbeiten im Stande sind; und man hat sogar Erscheinungen von Träumenden, die einen Beweis im Traume ausgeführt haben, der ihnen vorher im Wachen nicht gelingen wollte. So fremde dieses auch scheinet, so läßt es sich doch einigermaßen begreiflich machen, wenn man auf den angegebenen Unterschied zwischen Träumen und Wachen Acht hat, und die eigentlichen Hindernisse in Betrachtung zieht, die dem vernünftigen Nachdenken im Traume sonst im Wege stehen.

Demokrit sagt nicht ohne Grund: Im Traume hat jeder von uns seine eigene Welt, und beym Erwachen gehen wir alle in eine gemeinschaftliche Welt über. Im Traume denkt ein jeder von uns sich eine andre Reihe der Dinge, als objectiv wahr; eine Reihe der Dinge, die wenigstens nicht so, wie wir sie uns vorstellen, würklich geworden; und die in der Ordnung, welche sie verbindet, blos subjectiven Regeln der Ideenverbindung folget. Es sind Bruchstücke, aus verschiedenen Systemen genommen, die zusammen kein Ganzes ausmachen. Alle objective Wahrheit, die sie enthalten, ist das Daseyn des Träumenden selbst, welches auch im Traume seine Evidenz hat, und über allen Zweifel hinweg ist. Alles Uebrige sind bloße Abänderungen dieses träumenden Wesens, und hat blos ein idealisches Daseyn, ohne äusserliches Object. Jeder gehet in seine eigene Welt über.

Die Vorstellungen des Wachenden hingegen sind Abbildungen der Dinge, die ausser uns würklich vorhanden sind, nach den Regeln der Ordnung, in welcher sie sich ausser uns würklich hervorbringen;[53] sie gehören alle zu einer gemeinschaftlichen Welt. Sie sind zwar nicht in allen Subjecten gleich; sondern nach der Lage desselben, und nach seinem Standorte, verschiedentlich abgeändert; aber diese Verschiedenheit selbst zeigt die Einheit und Identität des Gegenstandes, den sie darstellen. Sie gleichen verschiedenen Abbildungen einer Gegend, aus verschiedenen Gesichtspunkten aufgenommen. Sie müssen verschieden seyn, wenn sie wahr seyn sollen; aber blos das Aehnliche in denselben hat objective Wahrheit, das Unähnliche hingegen ist eine Folge der Perspective: wahr, in so weit es Abbildung ist, und falsch, wenn wir es als Darstellung der Gegend annehmen wollen.

Auf eine ähnliche Weise werden wir, in den Vorstellungen des Wachenden, das Wahre von der Täuschung zu unterscheiden haben. Was wir nur durch einen Sinn allein erkennen, hat blos die Vermuthung der Würklichkeit für sich, die sich auf die gewohnte Verbindung der sinnlichen Erscheinungen gründet. Diese kann trügen und vielleicht eine Folge der Perspective seyn, die wir ohne Grund in dem Gemälde für Darstellung halten. Je mehr Sinne, in verschiedenen Entfernungen, durch mannichfaltige Mittel betrachtet, in dieser Darstellung überein kommen; desto gewisser wird unsre Ueberführung von seinem wirklichen Daseyn. Der Grund unserer Vermuthung kann nicht mehr in der Eingeschränktheit eines einzigen Sinnes liegen; denn die Uebereinstimmung führt auf einen gemeinschaftlichen Grund. Aber noch bleibt der Zweifel zurück: ob nicht der eingeschränkte Erkenntnißkreis unserer Sinne überhaupt, diesen gemeinschaftlichen Grund enthalte, und also Täuschung veranlasse. Vielleicht ist die Lage, in welcher ich mich befinde, blos daran schuld, daß ich Dinge sehe und höre und fühle, und daher für würklich halte, die aber blos in mir selbst vorgehn und ausser mir kein Object haben.

Je mehr Menschen aber mit mir übereinstimmen, diese Dinge so zu finden, desto größer wird die Gewißheit, daß der Grund meines Glaubens nicht in meiner besondern Lage anzutreffen sey. Er muß entweder in der positiven Denkungskraft liegen, und also wahre Darstellung seyn; oder in den gemeinschaftlichen Schranken aller menschlichen Erkenntniß. Die Wahrscheinlichkeit des letzten Falles nimmt ab, wenn ich überführt werde, daß auch Thiere die Dinge so und nicht anders erkennen; jedes zwar nach seinem Standorte und[54] nach der Perspective, aus welchen es die Dinge ansieht; aber insgesammt doch auf eine solche Weise, daß sie die Identität des Objects zu erkennen geben, von welchem sie verschiedene Seiten dar stellen. Könnten wir überführt werden, daß auch höhere Wesen als wir, die Dinge mit der Abänderung, die ihrem Standorte zukömmt, so und nicht anders denken; so würde die Gewißheit, mit welcher wir das Daseyn der Dinge ausser uns erkennen, bis zur höchsten Evidenz heranwachsen. Wir würden eine fast vollständige Induction für uns haben, daß die Sicherheit, mit welcher wir das Daseyn der Dinge ausser uns annehmen, keine Folge unsers begränzten Gesichtskreises, keine Würkung unsrer Einschränkung sey; sondern sich auf das Positive unsrer Denkungskraft gründe, welches allen denkenden Wesen gemein ist. Dieses allein kann der gemeinschaftliche Grund der so ausgebreiteten Uebereinstimmung seyn, nach welchem so mannichfaltige Wesen, durch mannichfaltige Erkenntnißmittel, jedes nach seinem Standorte, immer dasselbe erkennen und für wahr halten. Ist aber die Erkenntniß des Würklichen eine Folge unsrer Denkungskraft, so wird an ihrer Wahrheit nicht zu zweifeln seyn; wenn anders das richtig ist, was wir vom Unterschiede der Wahrheit, des Irrthums und der Täuschung oben festgesetzt haben.

Wenn wir überführt seyn könnten, daß der allerhöchste Verstand sich die Dinge außer uns, als würkliche Objecte darstellte; so würde unsre Versicherung von ihrem Daseyn den höchsten Grad der Evidenz erlangt haben, und keinen fernem Zuwachs mehr leiden. Dieses ist keine bloße Speculation, auf die ich euch für die Langeweile führe. Wenn wir uns vom Daseyn eines höchsten Wesens und von seinen Eigenschaften überzeugt haben werden; so wird sich ein Weg zeigen, uns auch einigen Begriff von der Unendlichkeit seiner Erkenntniß zu machen; und von dieser mit mehrerer Wahrheit, vielleicht auf eine wissenschaftliche demonstrative Art, das Vorgeben der Idealisten zu widerlegen, und das würkliche Daseyn einer sinnlichen Welt außer uns unumstößlich zu beweisen. Vor der Hand aber und bevor dieses geschehen kann, schränken wir uns blos auf die Sätze ein, in welchen der Idealist mit uns übereinkömmt. Er gesteht ein, daß die Gedanken, die in ihm vorgehen, als Abänderungen seiner selbst, ihr idealisches Daseyn haben. Er kann folglich auch nicht leugnen, daß er selbst, als das Subject dieser Abänderungen, würklich vorhanden sey. Andre, von ihm verschiedene, so wie[55] er eingeschränkte Wesen, können so wie er ihr eigenes Daseyn haben, und außer ihm, so wie er selbst, würklich vorhanden seyn. Er leugnet auch ihr Daseyn nicht, wenn er nicht in die Ungereimtheit des Egoisten verfällt, der nur sich allein ein würkliches Daseyn zuschreibt. Ich werde in der Folge Gelegenheit haben euch zu sagen, warum ich diese Meynung schlechtweg eine Ungereimtheit nenne. Vor der Hand habe ich es blos mit dem Idealisten zu thun, der denkende Wesen außer sich zugiebt, und seiner Wenigkeit allein nicht den Vorzug anmaaßet, daß sie die einzige Substanz sey, die würklich geworden ist. In dem Inbegriffe seiner eigenen Kenntnisse sowohl, als der Erkenntniß andrer denkenden Wesen, unterscheidet der Idealist mit uns, die subjective Reihe der Dinge, die nur in ihm wahr ist, von der objectiven Reihe der Dinge, die allen denkenden Wesen nach ihrem Standorte und Gesichtspunkte gemeinschaftlich ist. Die Merkmaale, woran er diese im wachenden Zustand erkennet, sind ihm so wie uns unleugbar. Allein sagen diese Merkmaale auch Wahrheit aus? Giebt es würklich außer uns sinnliche Gegenstände, die den Grund enthalten, warum wir uns im wachenden Zustande die Reihe der objectiven Begriffe so und nicht anders denken? Der Inbegriff unsrer objectiven Ideen enthält auch leblose Substanzen, körperliche Wesen, die sich uns als außer uns befindlich darstellen. Hat diese Darstellung auch Wahrheit für sich? Nein! antwortet der Idealist, es ist Kurzsichtigkeit unsrer sinnlichen Erkenntniß, daß wir so denken; es ist Sinnentäuschung, davon der Grund in unserm Unvermögen anzutreffen ist. Meine bessere Vernunft überführt mich, daß keine Substanz körperlich seyn könne. Der Dualist hingegen glaubt, die Vernunft des Idealisten habe ihn durch Fehlschlüsse auf einen Irrthum verleitet; es gebe eben sowohl körperliche, als geistige Substanzen: jene zwar nicht völlig so, wie sie sich uns darstellen; denn die Schranken unsrer Erkenntniß haben manches in ihrer Vorstellung abgeändert. Indessen sey in den mannichfaltigen Abbildungen derselben nicht alles Perspective; nicht alles Folge unsrer Eingeschränktheit und unsers begränzten Gesichtspunktes. Das Uebereinstimmende in denselben führe vielmehr auf einen gemeinschaftlichen, außer uns befindlichen Grund der Uebereinstimmung, welches das Urbild derselben ist. Er gestehet zwar ein, daß seine Sinne zuweilen täuschen; aber nicht alles, was sie aussagen, hält er für bloße Täuschung. Er glaubt vielmehr,[56] vieles in denselben folge aus der positiven Denkungskraft seiner Seele, und sey also Wahrheit. Jener spricht: von einer Substanz die denken kann und gedacht wird, habe ich einen unmittelbaren Begriff in mir selbst, indem ich mein eigenes Daseyn erkenne. Daß andre Substanzen, die auch denken und gedacht werden, auch vorstellen und vorgestellt werden, neben mir seyn können und würklich sind; davon habe ich einen hinlänglichen Begriff. Was für einen Begriff aber mache ich mir von einer Substanz, die blos materielle Eigenschaften haben, blos gedacht werden soll, ohne selbst zu denken? Alles dieses, antwortet der Dualist, giebt eurer Vernunft noch keinen Grund, ihr Daseyn zu läugnen. So wie es vielmehr Substanzen giebt, welche denken und gedacht werden; so wie es, nach unsrer aller Geständniß und Glauben, eine einzige allerhöchste Substanz giebt, welche blos denkt, und von keinem andern Wesen in ihrer Unumschränktheit gedacht werden kann: eben also giebt es auch von der andern Seite außer uns befindliche Substanzen, die zu sinnlichen Empfindungen und Gedanken die Urbilder sind, ohne selbst Vorstellungen zu haben; materielle Wesen, die blos gedacht werden, aber nicht denken können. Was für Eigenschaften aber, fragt jener, legt ihr dieser Substanz bey? Sind nicht alle sinnlichen Eigenschaften, die ihr derselben zuschreibt, bloße Modificationen, die in euch selbst vorgehn? Ihr sagt, z.B. die Materie sey ausgedehnt und beweglich. Sind aber Ausdehnung und Bewegung etwas mehr, als sinnliche Begriffe, Abänderungen eurer Vorstellungskraft, deren ihr euch bewußt seyd; und wie könnt ihr diese gleichsam aus euch hinaustragen, und einem Urbilde zuschreiben, das außer euch befindlich seyn soll? – Wenn dieses die Schwierigkeit ist, erwiedert der Dualist, so liegt sie mehr in der Sprache, als in der Sache selbst. Wenn wir sagen, ein Ding sey ausgedehnt, sey beweglich; so haben diese Worte keine andre Bedeutung, als diese: ein Ding sey von der Beschaffenheit, daß es als ausgedehnt und beweglich gedacht werden müsse. A seyn, und als A gedacht werden, ist der Sprache, so wie dem Begriffe nach, ebendasselbe. Wenn wir also sagen: die Materie sey ausgedehnt, sey beweglich, sey undurchdringlich; so sagen wir freylich weiter nichts, als: es gebe Urbilder ausser uns, die sich in jedem denkenden Wesen als ausgedehnt, beweglich und undurchdringlich darstellen.

Niemanden von uns aber ist es noch eingefallen, diese sinnlichen[57] Begriffe oder Erscheinungen, welche die Abbildungen der Materie sind, in die Materie selbst hineinzulegen. Wir sagen blos, die Vorstellung, die wir von materiellen Wesen, als ausgedehnt, beweglich und undurchdringlich haben, sey keine Folge unsrer Schwachheit und unsers Unvermögens; sie fließe vielmehr aus der positiven Kraft unsrer Seele, sie sey allen denkenden Wesen gemein, und mithin nicht blos subjective, sondern objective Wahrheit.[58]

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 3.2, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt], S. 50-59.
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