IX. Evidenz der reinen; – der angewandten Größenlehre. – Vergleichung mit der Evidenz der Beweise vom Daseyn Gottes. – Verschiedene Methoden derselben.

[76] Die reine Mathematik beweiset ihre Lehren ohne Hülfe der Erfahrung und der sinnlichen Erkenntniß, blos nach den Gesetzen des Denkens, wie man es zu nennen pflegt, a priori. Die Kraft ihrer Beweise beruht auf der Entwickelung der Begriffe. Man zergliedert den Begriff A und findet den nothwendigen Zusammenhang seiner Merkmale mit dem Begriffe des Prädicats B. Dieses giebt den bejahenden Satz; die Ausschliessung bringet den verneinenden Satz. Beide aber sagen weiter nichts aus, als die Verbindung zwischen den Begriffen oder den idealischen Wesen, nach den Gesetzen der Denkbarkeit.

Auf die würklich ausser uns befindlichen Dinge lassen sich die Sätze der Mathematiker nur bedingterweise anbringen. Die wirklichen Dinge ausser uns hangen eben so gut, als die idealischen Wesen der Begriffe, von den Gesetzen der Denkbarkeit ab. Dinge, die den Gedanken nach unzertrennlich sind, können auch durch das würkliche Daseyn nicht getrennt werden, und Dinge, die nicht zugleich denkbar sind, können auch nicht zugleich wirklich vorhanden seyn. Es lassen sich daher alle Sätze der Mathematiker auf die würklich existirende Dinge, unter Voraussetzung ihrer Würklichkeit, mit Sicherheit anbringen. Wenn das Subject wirklich vorhanden ist, so muß ihm das Prädicat, das ihm der bejahende Satz zuschreibt, auch objective wirklich zukommen; so wie ihm das Prädicat des verneinenden Satzes auch in der Würklichkeit nicht zugeschrieben werden kann.

Soll aber von diesen bedingten Lehrsätzen praktischer Gebrauch und Anwendung gemacht werden; so muß der Geometer sich durch die sinnliche Erkenntniß von dem würklichen Daseyn seines Subjekts überführen, um das Prädicat von demselben mit Gewißheit aussagen zu können. Seine reine Vernunfterkenntniß führt ihn nicht weiter, als auf die bedingten Sätze. Wenn eine Figur ein Dreyeck ist, so hat sie die Eigenschaften des Dreyecks; wenn eine Kugel würklich[76] vorhanden ist, so wirft sie von allen Seiten gleichen Schatten. Daß aber die vorliegende Figur ein würkliches Dreyeck, daß der vorliegende Körper eine Kugel sey, dieses muß auf Zeugniß der Sinne angenommen werden. Die Sicherheit, mit welcher der Geometer in der Ausübung seiner Wissenschaft verfährt, ist nicht mehr reine Vernunftevidenz; sondern mit der Zuverläßigkeit der sinnlichen Erkenntniß vermischt, deren Evidenz von einer andern Beschaffenheit ist, als die Evidenz der reinen Vernunft, ob sie ihr gleich an Zuverläßigkeit nichts nachgiebt. Von der Natur und Beschaffenheit der Evidenz dieser verschiedenen Erkenntnisse haben wir in unsern vorigen Unterhaltungsstunden ausführlich gehandelt.

In der Lehre von Gott giebt es einen spekulativen Theil, der, wie mich dünkt, mit aller Strenge der wissenschaftlichen Methode behandelt werden kann. Mit der Evidenz der reinen Mathematik können auch hier Begriffe entwickelt, und in ihre einfachsten Merkmahle und Verhältnisse aufgelöset werden. Aber auch hier in Anwendung auf das würkliche Daseyn, nur Bedingungsweise. Wenn ein nothwendiges Wesen vorhanden ist, so müssen ihm diese oder jene Eigenschaften nothwendig zukommen; wenn ein zufälliges Ding, nach der vorausgesetzten Erklärung, vorhanden ist; so hat es den Grund seines Daseyns nicht in sich, u.s.w.

Man sieht, daß alles dieses, so wie die Lehrsätze der reinen Mathematik, nicht weiter führet, als auf Verbindungen und Trennungen der Begriffe, auf Zergliederung und Auflösung der Merkmahle, nachdem sie unter oder neben einander geordnet sind. Allein alle diese Spekulationen kann selbst der Atheist zugeben, ohne von dem Daseyn einer Gottheit überführt werden zu können. Ihr müsset ihn von irgend einer Würklichkeit zuerst überführen und also aus dem Reich der idealischen Wesen einen Uebergang ins Reich der Würklichkeiten suchen, um eure spekulative Lehrsätze mit Nutzen anwenden zu können. Wo ist das Band, welches Begriff mit Daseyn verbindet, Würklichkeit an Möglichkeit knüpft? Sollen wir, wie der Geometer, dem Zeugniß unserer Sinne trauen, oder giebt es hier einen andern Weg, in das Gebiet der würklichen Dinge überzugehen?

Es giebt drey verschiedene Methoden, diese Fragen zu beantworten. Man bauet, erstlich, auf das Zeugniß der äußeren Sinne; nimmt, in Zuversicht auf ihre Aussage, eine äußere, sinnliche Welt als würklich[77] an, und suchet zu beweisen, daß eine solche sinnliche Welt, ohne ein notwendiges, außerweltliches Wesen nicht denkbar sey: und nunmehr lassen sich alle Sätze, die in dem spekulativen Theil der Lehre ausgemacht worden, von diesem nothwendigen Wesen mit Grunde behaupten. Es ist eine sinnliche Welt außer uns würklich; also ist ein Gott außer uns und der Welt auch würklich vorhanden.

Nach der zweyten Methode, trauet man bloß dem Zeugniß des innern Sinnes; nimmt auf dessen Aussage, unser eigenes Daseyn als eine unumstößliche Wahrheit an, um von diesem auf das würkliche Daseyn Gottes zu schließen: Ich bin, also ist ein Gott.

Die dritte Methode verwirft beides, das Zeugniß sowohl des innern, als des äußern Sinnes, und gehet kühnes Schrittes aus dem Reiche des idealischen Wesens ins Reich der Würklichkeit. Sie wagt es zu beweisen, daß ein nothwendiges Wesen vorhanden seyn müsse, weil ein nothwendiges Wesen gedacht werden kann; sie schließet reales Daseyn aus bloßem Begriff, und will das Band gefunden haben, das Möglichkeit und Würklichkeit verbindet. Ein Gott ist denkbar, also ist ein Gott auch würklich vorhanden. In der That, ein kühner Schritt; denn in dem ganzen Bezirke unserer wissenschaftlichen Erkenntniß giebt es von dieser Beweisesart kein Beyspiel, kann vom Begriff auf Würklichkeit nicht geschlossen werden. Nur, wenn von dem nothwendigen Wesen die Rede ist, soll dieses mit aller Zuverläßigkeit geschehen können. Zufällige, endliche Dinge können ohne würkliches Daseyn gedacht werden, können ohne reale, objective Würklichkeit, dennoch ein idealisches Daseyn haben. Nicht also das nothwendige, unendliche Wesen. Wenn es gedacht werden kann, so muß es auch würkliches, objectivisches Daseyn haben. Die beiden ersten Methoden, nach welchen eine Existenz vorausgesetzt wird, nennt man die Beweisesart a posteriori; die letztere aber, welche von der Idee eines nothwendigen Wesens auf dessen Daseyn schließt, wird die Beweisesart a priori genannt, deren Zuläßigkeit von verschiedenen Weltweisen noch in Zweifel gezogen wird.

Die Beweisesarten a prosteriori haben Verwandschaft mit dem Verfahren des praktischen Geometers. So wie dieser auf Zeugniß des äußern Sinnes die Würklichkeit seines Subjekts annimmt, und daraus auf die Würklichkeit der Prädicate schließet, ohne welche jenes nicht denkbar ist; eben also wird in den beiden Beweisesarten a posteriori auf Zeugniß des äußern oder innern Sinnes, das Daseyn[78] einer veränderlichen Welt, oder das Daseyn eines veränderlichen denkenden Wesens angenommen, und daraus das würkliche Daseyn eines unveränderlichen, nothwendigen Wesens geschloßen, ohne welches das Veränderliche nicht denkbar ist. Wenn dieses außer Zweifel gesetzt wird, sollte man glauben, würde der Beweis des Weltweisen eben die Zuverläßigkeit und Augenscheinlichkeit haben, die man dem Verfahren des praktischen Geometers zuschreibt. Daß außer uns eine würklich sinnliche Welt vorhanden sey; daß in dieser Welt nicht Alles eben dasselbe bleibe, sondern der Veränderung unterworfen sey; daß wir selbstdenkende Wesen sind, die sich unaufhörlich verändern und nicht immer dieselben bleiben: wer sollte wohl im Ernste je hieran gezweifelt haben, mehr gezweifelt haben, als an dem Daseyn eines Triangels oder einer Kugel, das der praktische Geometer voraussetzt? Wenn also ausgemacht werden kann, daß ohne Daseyn eines unveränderlichen Wesens, kein veränderliches sich denken lasse: so wäre das Daseyn eines unveränderlichen Wesens unumstößlich dargethan, und der ganze spekulative Theil der Lehre könnte auf dasselbe mit Zuverläßigkeit angewendet werden.

Indessen wisset ihr, daß diese Voraussetzungen selbst, so unläugbar sie auch scheinen, nicht von allen Weltweisen zugegeben werden. Die Metaphysiker scheuen sich nicht, Dinge zu läugnen, an welchen der gesunde Menschenverstand sich nie zu zweifeln einkommen läßt. Der Idealist läugnet das würkliche Daseyn einer materiellen Welt. Der Egoist, wenn es je einen gegeben, läugnet das Daseyn aller Substanzen außer sich; und der Spinozist sagt: er selbst sey kein für sich bestehendes Wesen, sondern ein bloßer Gedanke in Gott. Der Skeptiker endlich findet alles dieses noch ungewiß und dem Zweifel unterworfen. Ich kann nicht glauben, daß eine von diesen Ungereimtheiten jemals im Ernste behauptet worden ist. Man hat, wie es scheint, blos die Vernunft auf die Probe setzen und versuchen wollen, ob sie mit dem gesunden Menschenverstand gleichen Schritt hallte; ob sie alles dieses nach den Gesetzen des Denkbaren unumstößlich darthun könne, was jener, gleichsam als eine unmittelbare Erkenntniß, für ausgemacht hält. Man hat blos das Wissenschaftliche in der Erkenntniß in Zweifel ziehen wollen, um den Dogmatiker zu beschämen, der seinen Lehren die höchste Augenscheinlichkeit der reinen Vernunfterkenntniß zutrauet. So oft die Vernunft so weit[79] hinter dem gesunden Menschenverstande zurückbleibt, oder gar von demselben abschweifet, und in Gefahr ist auf Irrwege zu gerathen, wird der Weltweise selbst seiner Vernunft nicht trauen, und dem gemeinen Menschenverstande widersprechen; sondern ihr vielmehr ein Stillschweigen auferlegen, wenn ihm die Bemühung nicht gelingt, sie in die betretne Bahn zurückzuführen, und den gesunden Menschenverstand zu erreichen. Lasset uns also versuchen, in wie weit wir der Vernunft nachhelfen und aus zuverlässigen Gründen dasjenige ersetzen können, was hier noch zu fehlen scheint.[80]

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 3.2, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt], S. 76-81.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hume, David

Dialoge über die natürliche Religion

Dialoge über die natürliche Religion

Demea, ein orthodox Gläubiger, der Skeptiker Philo und der Deist Cleanthes diskutieren den physiko-teleologischen Gottesbeweis, also die Frage, ob aus der Existenz von Ordnung und Zweck in der Welt auf einen intelligenten Schöpfer oder Baumeister zu schließen ist.

88 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon