XI. Epikurismus. – Ungefähr. – Zufall. – Reihe von Ursachen und Würkungen, ohne Ende, – ohne Anfang. – Fortgang ins Unendliche, vorwärts und rückwärts. – Zeitloses, ohne Anfang, ohne Ende und ohne Fortgang.

[89] Ein veränderliches, zufälliges Ding ist auf verschiedene Weise denkbar. Es kann mit der Veränderung und ohne dieselbe gedacht werden. Beide Sätze enthalten gleiche Wahrheit. Von demselben Subjecte können, den Gedanken nach, entgegenstehende Prädicate ausgesagt werden. A ist B, und A ist nicht B; beides kann wahr seyn oder wahr werden, wiewohl nicht zu einer Zeit an eben dem Subjecte. Wenn aber jeder von diesen Sätzen gleichviel idealische Wahrheit enthält, wie können sie je zur Würklichkeit gelangen? Was ertheilet bald diesem, bald dem Gegensatze den Vorzug, und macht ihn zur würklichen Wahrheit? Wie kann das auf mancherley Art mögliche, auf eine bestimmte Art würklich werden?

Von Ungefähr, sagt die Schule Epikurs; durch bloßen Zufall. Wenn sie schon nicht alle einzelne Fragen so abfertiget; so kommen wir doch gar bald dahin, wo sie uns keine andere Befriedigung giebt. Wir müssen also untersuchen, ob diese Worte überall eine Antwort auf obige Frage enthalten.

Da ich, wie Sie wissen, meinen ersten Unterricht in hebräischer Sprache genoß; so war ich gewohnt, jedes merkwürdige Wort, das ich in irgend einer andern Sprache las oder hörte, mir in Gedanken ins Hebräische zu übersetzen. Ich fand kein ächtes altes Wort in dieser Sprache für Ungefähr oder Zufall. Was die Schriftsteller späterer Zeiten dafür zu setzen pflegen, bedeutet ursprünglich vielmehr eine Schickung, Fügung, Begegniß; was eine höhere Macht ohne unser Zuthun uns zuschickt, begegnen läßt, also fast das Gegentheil von Zufall und Ungefähr. Nur in dem Mangel des Vorsatzes und der ursächlichen Einwürkung von Seiten des Menschen kommen Fügung und Zufall überein, und dieses scheinet die Uebersetzer aus dem Arabischen, die griechische Begriffe in hebräische Wörter einzukleiden hatten, bewegen zu haben, ein Wort zu wählen, das der Bedeutung[89] nach mit jenem einige Aehnlichkeit hat. Im Grunde sollen diese Worte Zufall und Ungefähr, nicht nur allen menschlichen Einfluß, sondern schlechterdings allen Vorsatz, und alle ursachliche Einwürkung verneinen. Und so scheinen sich auch im Teutschen die gleichbedeutenden Wörter unterscheiden zu lassen. Ungefähr gehet mehr auf den Mangel des Vorsatzes; so wie Zufall mehr auf die Abwesenheit der würkenden Ursache zu gehen scheinet. Ein Ziel, das unvorsätzlich erreicht wird, ist ein bloßes Ungefähr, und von Begebenheiten, die auf oder neben einander folgen, ohne daß eine die andre unmittelbar hervorgebracht, sagt man, ihr Zusammentreffen sey ein bloßer Zufall. Wenn ein Kind im Schachspiele einen Stein versetzt, und eben dadurch einen glücklichen Zug thut; so war dieses ein bloßes Ungefähr. Daß aber aus diesem Kinde nachher ein guter Schachspieler geworden, kann ein Zufall gewesen seyn, ohne daß jener Umstand etwas dazu beygetragen hat. Wenn ich ausgehe, ohne den Vorsatz, meinen Freund aufzusuchen, und ihm auf dem Wege begegne; so ist dieses von Ungefähr. Trifft es aber gerade zu einer Zeit, da er meines Trostes, oder meines Beystandes bedarf; so ist dieses zugleich ein glücklicher Zufall.

Durch den Gebrauch dieser Wörter wollen wir im Grunde nichts weniger, als die Nothwendigkeit der Ursachen läugnen. Durch das Ungefähr wollen wir blos den Einfluß der Endursachen auf das handelnde Wesen, und durch Zufall einzig und allein die unmittelbare Einwürkung der Begebenheiten auf einander aufheben, ohne in Abrede zu seyn, daß diese Begebenheiten, jede von ihrer Reihe von Ursachen abhängen. Ja, das Zusammentreffen der Begebenheiten selbst wird nur bey Geschichtswahrheiten, Zeitungen, wie wir sie genennt haben, dem Zufalle zugeschrieben. Dinge, die sich nur ein einziges Mal in der Geschichte zugetragen, und vielleicht nie, wenigstens unter denselben Umständen nie, wiederkommen dürften, können sich zusammenfügen, ohne von einander unmittelbar hervorgebracht, oder auch nur veranlaßt zu seyn. Sobald sie aber öfter vorkommen, und allezeit in derselben Verbindung und Zusammenfügung; so vermuthet der gesunde Menschenverstand schon ursachlichen Einfluß, und erwartet vom Aehnlichen Aehnliches. In meiner zweiten Vorlesung habe ich die Vernunftgründe auseinander gesetzt, die uns zu dieser Vermuthung berechtigen, und gezeigt, daß selbst der thierische Sinn zu einer Erwartung gestimmt ist, die[90] mit der menschlichen Vermuthung einerley Grund hat. Auch haben die Alten, so viel ich weiß, sich selten verleiten lassen, dem Menschenverstande so sehr zu widersprechen und alle Causalität zu läugnen, oder in Zweifel zu ziehen. Epikur nahm vielmehr selbst die Nothwendigkeit der materiellen Ursache an, und hielt daher die Atomen für ewig. Auch würkende oder erzeugende Ursachen gab er zu, und schrieb daher den Atomen eine Bewegung zu, wodurch alle Dinge der Natur erzeugt werden. Bloß die Absichten in dem großen Weltall, oder den Einfluß der Endursachen glaubte er läugnen zu können. Alles das Schöne, Große und Erhabene, das die Natur hervorbringt, schrieb er dem Zufalle zu. Der Zufall rüttelte den großen Becher mit Atomen durch einander, und warf ihn blindlings hin, und so sind denn die Dinge entstanden, die wir so sehr anstaunen. Wenn sie zu Endzwecken übereinstimmen, so ist dieses von Ungefähr. Die Ente, sagten die Epikurer, hat nicht Schwimmfüße bekommen, um schwimmen zu können; sondern sie schwimmt, weil ihr der Zufall solche Füße gegeben hat. Und so wird denn auch wohl der Magen nicht so eingerichtet seyn, damit er die Speisen verdaue, sondern verdauen, weil er von ungefähr ein Magen geworden ist; und wie übrigens, nach dieser schönen Theorie, die Lehre vom Nutzen der Theile im thierischen Leibe lauten mag, die nach dem gewöhnlichen Vortrage unserm pöpelhaften Menschensinn so wohl behagt. La Mettrie sagt: die Natur mache ihre Sachen niemals so gut, als wenn sie am wenigsten daran denke; wie jener Maler, der aus Verdruß, daß ihm der Schaum am Gebisse eines Streitrosses nicht gelingen wollte, den Pinsel wider die Leinewand warf, und eben dadurch den Gegenstand glüklich hervorbrachte, den er nachahmen wollte. So ungereimt euch dieses Geschwätze auch klingen mag, meine Lieben! so müßt ihr wissen, daß la Mettrie sich auf diesen Einfall so viel zu gute that, daß er ihn in allen seinen Schriften wiederholet, und daß die Schriften dieses Mannes zu ihrer Zeit Aufsehen gemacht und Beyfall gefunden haben. Indessen lasse ich mich vorjetzt auf die Lehre von den Absichten noch nicht ein. Ich werde in der Folge auf dieselbe zurückkommen, und wende mich vorjetzt wieder zu den hervorbringenden Ursachen.

Es wird zugestanden, daß jede Begebenheit in dem Weltall ihre Ursachen habe, die sie zur Würklichkeit bringen, und wenn gefraget wird: Wie von entgegenstehenden Bestimmungen eines veränderlichen[91] Wesens jetzt vielmehr diese zur Würklichkeit gekommen? so wird auch Epikur antworten: Durch die nächst vorhergegangenen wirkenden Ursachen. Diese Ursachen sind als veränderliche Dinge, nicht weniger auf verschiedene Weise bestimmbar, und haben abermals den Grund ihrer Bestimmtheit in ihren würkenden Ursachen, und so weiter rückwärts ohne Gränze. Wenigstens sehen wir keine Schranken, wo wir stehen bleiben könnten; so lange noch von veränderlichen, auf mehr als eine Weise denkbaren Dingen die Rede ist. Auch vorwärts; jede Begebenheit hat ihre Würkung, und wie nichts völlig fruchtlos seyn kann, so wird auch die Würkung nicht ohne alle Würkung seyn. Nun entstehet die Frage: Kann diese unendliche Reihe von Ursachen und Würkungen, ohne Abhängigkeit von einem nothwendigen und veränderlichen Wesen, für sich bestehen oder nicht? Erhält sich diese Kette ohne Anfang und Ende durch ihre Unendlichkeit von selbst, oder muß sie irgendwo am Throne der Allmacht befestigt seyn, um durch diese Verbindung mit dem nothwendigen Wesen in Würklichkeit kommen und erhalten werden zu können? Verschiedene Weltweisen glaubten darthun zu können, daß eine Reihe ohne Anfang zwar denkbar sey, aber nicht habe zur Würklichkeit kommen können. Sie bedienten sich folgender Gründe.

Von der Reihe ohne Ende, sprachen sie, ist es offenbar, daß sie niemals würklich werden könne; denn eben hierin bestehet ihre Endlosigkeit, daß sie niemals wird vollendet seyn, daß sie sich immer noch muß verlängern lassen. Ihre Endlosigkeit kann also niemals würklich werden, oder geworden seyn. Es bleibt immer noch im Vermögen, etwas hinzuzusetzen, und also ist das Würkliche niemals endlos. Eben also, schlössen sie, sey die Anfanglosigkeit ein bloßer Gedanke, der aber nicht hat zur Würklichkeit kommen können. Weil wir uns die Reihe der Ursachen rückwärts, wie eine Länge vorstellen, die wir nach Belieben in Gedanken verlängern können; so sagen wir, sie sey ohne Anfang. Im Grunde aber kann dieser Gedanke nie ausgeführt werden, kann das Anfanglose, so wenig als das Endlose zur Würklichkeit kommen. Beides, sowohl das Anfanglose als das Endlose, erfordern eine Ewigkeit zu ihrem würklichen Daseyn, und eine Ewigkeit kann nie vergangen seyn. Wir müssen daher einen solchen Anfang der Dinge zugeben, der weiter keines Anfangs bedarf; also ein nothwendiges Wesen, dessen Daseyn nicht[92] von würkenden Ursachen abhängt, dessen Dauer aber keine Zeitfolge ohne Anfang, sondern vielmehr eine Zeitlosigkeit, eine unwandelbare Ewigkeit ist, die ihrem Wesen nach weder Anfang, noch Fortgang, noch Ende haben kann. Nur die zufälligen Begebenheiten der Welt erkennen eine vergangene und eine künftige Zeit. Das nothwendige Wesen hat, wie alle nothwendige Wahrheiten der Geometrie, keine vergangene und keine zukünftige Zeit. Man kann nicht sagen: sie waren oder werden seyn, sondern: sie sind.

Was wir also von dem Anfanglosen behauptet haben, läßt sich auf das Zeitlose nicht anwenden. Jenes muß irgendwo stille stehen; dieses aber erkennet schlechterdings keinen Fortgang. Eine veränderliche Substanz ist nicht alles, was sich von ihr denken läßt, zugleich; ihr Daseyn gleichet einer Linie, die dem Raum sowohl, als der Zeit nach, immer einen Zuwachs leidet. Die unveränderliche nothwendige Substanz ist alles das zugleich, was von ihr denkbar ist, und ihr Daseyn erkennet weder Zuwachs, noch Abnahme. Sie ist und bleibt unveränderlich immer dasselbe Ding. – – So bündig diese Gründe auch scheinen; so wollen sich doch so manche Philosophen damit nicht beruhigen, und zwar aus verschiedenen Ursachen.

Erstlich will ihnen die Analogie zwischen Anfang und Ende nicht völlig einleuchten. Wenn schon zu keiner bestimmten Zeit der Zukunft eine Ewigkeit wird vollendet seyn können, so folgt noch nicht die Nothwendigkeit des Anfanges, wenn man nicht für die Langeweile annehmen will, daß das Vergangene sich in einen Zeitraum einschliessen lasse.

Man scheinet also das vorauszusetzen, was erst untersucht werden soll. Die Frage war, ob eine Reihe ohne Anfang würklich seyn könne? und in der Antwort nimmt man als zugegeben an, daß nichts Anfangsloses vergangen seyn könne.

Zweytens verwickelt uns diese Beweisesart in die schwierige Untersuchung vom Unendlichen in Zeit und Raum; in wie weit die Idee des Unendlichen, sowohl in Absicht auf die Theilbarkeit, als auf die Ausdehnung der Zeit und des Raums Statt habe, oder nicht; Untersuchungen, die ihrer Subtilität halber schwer zu erörtern sind, und es ist nicht dienlich, die Ueberzeugung vom Daseyn Gottes auf einem so lockern Grunde zu bauen.

Endlich will ihnen auch der Unterschied zwischen dem Unendlichen der Kraft nach, und dem Unendlichen der Dauer nach, nicht völlig[93] einleuchten. Soll das Unendliche der Kraft nach, oder das nothwendige Wesen, sprechen sie, zu allen Zeiten würklich vorhanden seyn können; so siehet man nicht ein, warum nicht auch das Veränderliche der Dauer und Ausdehnung nach unendlich seyn könne? Läßt sich alles Zufällige, sowohl rückwärts als vorwärts in eine unendliche Reihe von Ursachen und Würkungen auflösen; so siehet man keinen Grund, warum es nicht durch die Würklichkeit in eine solche soll aufgelöset worden seyn? Wenn wir einen allerhöchsten Verstand zugeben; so müssen in demselben alle auflösbare Begriffe wirklich aufgelöset seyn. Jeder Begriff des Zufälligen also führet in demselben eine Anfangs- und Endlose Reihe von Ursachen und Wirkungen mit sich, in welche derselbe seiner Natur nach aufgelöst und entwickelt werden muß. Wir begreifen also nicht völlig, warum dasjenige, was Gott von den zufälligen Dingen sich denkt, nicht auch ohne Gott hat wirklich werden können. Wenigstens, sprechen sie, fehlt dieser Beweisesart die überzeugende Augenscheinlichkeit, die wir dem Beweise vom Daseyn Gottes geben zu können wünschen. Sie haben sich also bemühet, den Beweis auszuführen, ohne sich in die Untersuchung einzulassen: ob eine Reihe ohne Anfang würklich seyn könne oder nicht? vielmehr überhaupt darzuthun, daß auch eine Reihe ohne Anfang nicht anders, als durch ihre Abhängigkeit von einem nothwendigen Wesen würklich seyn könne. Hiervon in der nächsten Vorlesung.[94]

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 3.2, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt], S. 89-95.
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