2. Die Ruhe des Gemüts

[67] Gung-Sun Tschou fragte den Mong Dsï: »Wenn Ihr, Meister, ein hohes Amt in Tsi erhieltet, das Euch die Möglichkeit gäbe, Eure[67] Lehren durchzuführen, so wäre es nicht zu verwundern, wenn Ihr das Land aus seinem jetzigen Zustand zur Vorherrschaft oder selbst zum Königtum der Welt führtet. Werdet Ihr durch diese Aussicht in Eurem Gemüt bewegt oder nicht?«

Mong Dsï sprach: »Nein, seit meinem vierzigsten Jahr habe ich die Ruhe des Gemüts erreicht.«

Der Schüler sprach: »Da übertrefft Ihr ja den berühmten Mong Ben7 noch weit.«

Mong Dsï sprach: »Das ist nicht schwer. Gau Dsï8 hat sogar noch früher als ich die Ruhe des Gemüts erlangt.«

Der Schüler sprach: »Gibt's einen Weg zur Ruhe des Gemüts?«

Mong Dsï sprach: »Ja. Be-Gung Yu9 handelte also, um seine Tatkraft zu steigern: er rieb sich nicht erst die Haut, wenn er geschlagen ward, und zuckte nicht erst mit der Wimper. Sondern wenn ihm von jemand auch nur ein Haar gekrümmt ward, empfand er es so schimpflich, als wäre er auf offenem Markt geschlagen worden. Er ließ es sich nicht bieten von einem Bauern in härenem Gewand und ließ es sich ebensowenig bieten vom Fürsten eines großes Staates. Es galt ihm ganz gleich, den Fürsten eines großen Staates oder einen Menschen in härenem Gewand zu erstechen. Er hatte keine Scheu vor hohem Stand. Traf ihn ein übles Wort, er erwiderte es sicher.

Mong Schï Schä10 steigerte seine Tatkraft auf andere Art: er sprach: ›Siegen oder Nichtsiegen gilt mir gleich. Wollte man erst den Feind abschätzen, ehe man drauf geht; wollte man sich um den Sieg bekümmern, ehe man ins Treffen geht; da müßte man vor einem großen Heer sich scheuen. Ich vermag nicht unter allen Umständen zu siegen. Was ich vermag, ist, keine Furcht zu kennen.‹

Mong Schï Schä war wie Meister Dsong; Be-Gung Yu war wie Dsï Hia. Welcher von diesen beiden Meistern die bessere Tatkraft hätte, wüßte ich nicht. Doch verstand Mong Schï Schä besser die Beschränkung aufs Wichtigste, nämlich die eigene Gesinnung.

Meister Dsong sagte einst zu seinem Schüler Dsï Siang: ›Du liebst die Tatkraft? Ich habe einst vom Meister Kung etwas gehört, wie man zu großer Tatkraft kommt: ›Wenn ich mich prüfe und bin nicht im Recht, könnte ich dann, selbst wenn mein Gegner nur ein Bauer im härenen Gewand ist, ihm furchtlos gegenübertreten? Wenn ich mich prüfe und ich bin im Recht, so trete ich auch Hunderttausenden entgegen.‹ Mong Schï Schä wahrte wohl seine[68] Kraft, aber Meister Dsong verstand es noch besser, sich auf das Allerwichtigste – sein Gewissen – zu beschränken.«

Der Schüler sprach: »Darf ich etwas Näheres erfahren über Eure Art der Ruhe des Gemüts und die des Gau Dsï?«

Mong Dsï sprach: »Gau Dsï hatte den Grundsatz: ›Wofür ich keinen Ausdruck in Worten finde, das suche ich nicht im Gemüt zu ergründen. Was mir im Gemüt nicht entgegenkommt, das suche ich nicht durch Aufwand von Lebenskraft zu erreichen.‹

Der Satz: ›Was mir im Gemüt nicht entgegenkommt, das suche ich nicht durch Aufwand von Lebenskraft zu erreichen‹ geht an. Der andere Satz aber: ›Wofür ich keinen Ausdruck in Worten finde, das suche ich nicht im Gemüt zu ergründen‹ ist unzulässig.

Der Wille ist der Leiter der Lebenskraft, die Lebenskraft durchdringt den Leib. Der Wille setze das Ziel, die Lebenskraft folge nach. Darum heißt es: ›Mache deinen Willen fest und schone deine Lebenskraft‹.«

Der Schüler sprach: »Wie sind die beiden Sätze: ›Der Wille setze das Ziel, die Lebenskraft folge nach‹ und ›Mache deinen Willen fest und schone deine Lebenskraft‹ zu vereinigen?«

Mong Dsï sprach: »Ist der Wille gesammelt, so bewegt er die Lebenskraft. Ist die Lebenskraft gesammelt, so bewegt sie ihrerseits den Willen. So ist hastiges Laufen eine Äußerung der Lebenskraft, aber es wirkt zurück und erregt das Gemüt.«

Der Schüler sprach: »Darf ich fragen, worin Ihr jenem überlegen seid, Meister?«

Mong Dsï sprach: »Ich kenne mich aus in den Worten der Menschen, und ich verstehe es, meine flutende Lebenskraft durch das Gute zu steigern.«

Der Schüler sprach: »Darf ich fragen, was mit der flutenden Lebenskraft gemeint ist?«

Mong Dsï sprach: »Darüber läßt sich schwer reden. Was man unter Lebenskraft versteht, das ist etwas höchst Großes, höchst Starkes. Wird sie durch das Rechte genährt und nicht geschädigt, so bildet sie die Vermittlung zwischen unsichtbarer und sichtbarer Welt. Was man unter Lebenskraft versteht, gehört zusammen mit der Pflicht und mit dem Sinn des Lebens. Ohne diese beiden muß sie verkümmern. Sie ist etwas, das durch dauernde Pflichtübung erzeugt wird, nicht etwas, das man durch eine einzelne Pflichthandlung an sich reißen könnte. Wenn man bei seinen Handlungen sich nicht innerlich wohlfühlen kann, so muß jene[69] Kraft verkümmern. Darum sage ich, daß Gau Dsï das Wesen der Pflicht nicht versteht, weil er sie für etwas Äußerliches hält. Sicherlich bedarf es – zur Pflege der Lebenskraft – der Arbeit, aber man soll dabei nicht nach dem Erfolg schielen. Das Gemüt soll das Ziel nicht vergessen, aber dem Wachstum nicht künstlich nachhelfen wollen. Man darf es nicht machen wie jener Mann aus Sung. Es war einmal ein Mann in Sung, der war traurig darüber, daß sein Korn nicht wuchs, und zog es in die Höhe. Ahnungslos kam er nach Hause und sagte zu den Seinigen: Heute bin ich müde geworden, ich habe dem Korn beim Wachsen geholfen. Sein Sohn lief schnell hinaus, um nachzusehen, da waren die Pflänzchen alle welk.

Es gibt wenige Leute auf der Welt, die nicht dem Korn beim Wachsen helfen wollen. Es gibt Leute, die denken, es komme nichts dabei heraus, und sich gar nicht um die ganze Sache kümmern. Die gleichen denen, die das Korn nicht von Unkraut säubern wollten. Die aber, die dem Korn beim Wachstum helfen wollten, nützen ihm nicht nur nichts, sondern schädigen es sogar«11.

Der Schüler sprach: »Was heißt, sich auskennen in den Worten der Menschen?«

Mong Dsï sprach: »Höre ich einseitige Reden, so merke ich, was sie verdecken. Höre ich ausschweifende Reden, so merke ich, welche Fallen sie stellen. Höre ich falsche Reden, so merke ich, wovon sie abweichen. Höre ich ausweichende Reden, so merke ich, aus welcher Verlegenheit sie kommen.«

Der Schüler sprach: »Da seid Ihr ja wohl ein Heiliger, Meister?«

Mong Dsï sprach: »Ach, was sind das für Worte! Dsï Gung12 fragte einst den Meister Kung: ›Seid Ihr ein Heiliger, Meister?‹

Da erwiderte Meister Kung: ›Ein Heiliger zu sein, geht über meine Kraft. Ich strebe ohne Überdruß und lehre ohne zu ermüden.‹ Dsï Gung sagte darauf: »Streben ohne Überdruß ist Weisheit, Lehren ohne zu ermüden ist Güte. Ihr vereinigt Weisheit und Güte, da seid Ihr wirklich ein Heiliger, Meister.‹

Also nicht einmal Meister Kung verweilte bei dem Gedanken, ein Heiliger zu sein! Was sind das für Worte!«

Der Schüler fuhr fort: »Ich habe einst sagen hören, Dsï Hia, Dsï Yu und Dsï Dschang13 hätten jeder ein Stück von einem Heiligen besessen, Jan Niu, Min Dsï und Yän Yüan hätten jeder alle Stücke eines Heiligen gehabt, aber in kleinem Maßstabe. Darf ich fragen, zu welchen Ihr Euch rechnet, Meister?«[70]

Mong Dsï sprach: »Lassen wir das!«

Der Schüler fragte: »Was ist von Be-I und I-Yin zu halten?«

Mong Dsï sprach: Sie gingen verschiedene Wege. Be-I14 hatte den Grundsatz: Wer nicht sein Fürst war, dem diente er nicht; wer nicht sein Untertan war, von dem wollte er nichts. War Ordnung, so stellte er sich ein. War Verwirrung, so zog er sich zurück.

I-Yin hatte den Grundsatz: Wem ich diene, der ist mein Fürst; wen ich brauche, der ist mein Untertan. War Ordnung, so stellte er sich ein. War Verwirrung, so stellte er sich gleichfalls ein.

Meister Kung hatte den Grundsatz: Wenn es recht war, ein Amt zu haben, so übernahm er das Amt. Wenn es recht war, aufzuhören, so hörte er auf. Wenn es recht war, zu warten, so wartete er. Wenn es recht war, zu eilen, so eilte er.

Sie alle waren Heilige der alten Zeit. Und ich fühle mich nicht imstande, es ihnen gleichzutun. Aber was ich möchte, das ist, von Meister Kung lernen.«

Der Schüler sprach: »Sind also Be-I und I-Yin dem Meister Kung gleichzustellen?«

Mong Dsï sprach: »Nein, seit Menschen auf Erden leben, hat es noch nie einen gegeben wie Meister Kung.«

Der Schüler sprach: »Hatten sie dann wenigstens mit ihm gemeinsame Züge?«

Mong Dsï sprach: »Ja. Sie alle wären imstande gewesen, wenn sie auch nur ein kleines Land von hundert Meilen im Geviert zu beherrschen gehabt hätten, die Fürsten des Reiches um sich zu versammeln und die Weltherrschaft zu erlangen. Aber die Erlangung der Weltherrschaft durch eine einzige ungerechte Tat, durch Tötung eines einzigen Unschuldigen zu erkaufen, das würden sie alle verschmäht haben. Darin stimmen sie mit ihm überein.«

Der Schüler sprach: »Darf ich fragen, wodurch er sich von ihnen unterschied?«

Mong Dsï sprach: »Die Jünger Dsai Wo, Dsï Gung und Yu Jo besaßen genügende Weisheit, um einen Heiligen zu erkennen. So hoch sie ihn auch schätzen mochten, sie würden sich nie dazu herbeigelassen haben, ihm aus persönlicher Vorliebe Schmeichelhaftes nachzusagen.

Dsai Wo nun sagte: ›Meiner Ansicht nach ist unser Meister weit würdiger als Yau und Schun.‹

Dsï Gung sprach: ›An den Lebensordnungen, die einer geschaffen,[71] erkennt man seine Regierungsart, aus der Musik, die einer geschaffen, hört man sein geistiges Wesen heraus. Wenn man nach Hunderten von Geschlechtern unter diesem Gesichtspunkt die Könige der Vorzeit vergleichend nebeneinanderstellt, wird keiner diesem Maßstab entgehen: Seit Menschen auf Erden leben, hat es niemand gegeben wie unsern Meister.‹

Yu Jo sprach: ›Er sollte nur ein gewöhnlicher Mensch sein? Wenn das Kilin mit den Tieren, der Phönix mit den Vögeln, der Große Berg mit Hügeln und Ameisenhaufen, wenn der Gelbe Fluß und das Meer mit Straßengräben von derselben Art sind, so ist auch der Heilige mit den gewöhnlichen Menschen von derselben Art. Unter allen, die ihre Artgenossen übertrafen und hervorragten über die allgemeine Oberfläche, war keiner so groß wie Meister Kung‹15.

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 67-72.
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