Zwölftes Capitel.

Von der Erklärung der Naturgesetze.

[545] §. 1. Das deductive Verfahren, wodurch wir das Gesetz einer Wirkung aus den Gesetzen der Ursachen ableiten, durch deren Zusammenwirken sie entsteht, kann entweder zum Zweck haben, das Gesetz zu entdecken, oder das bereits entdeckte Gesetz zu erklären. Das Wort erklären kommt so häufig vor und nimmt in der Philosophie eine so wichtige Stelle ein, dass es von Nutzen sein wird, seine Bedeutung festzustellen.

Man nennt eine individuelle Thatsache erklärt, wenn ihre Ursache nachgewiesen ist, d.h. wenn das Gesetz oder die Gesetze der Verursachung, die Causalgesetze, angegeben worden sind, wovon ihre Erzeugung ein Fall ist. So ist eine Feuersbrunst erklärt, wenn es nachgewiesen wird, dass sie durch einen Funken entstand, der in einen Haufen brennbarer Gegenstände fiel. Auf gleiche Weise heisst ein Gesetz oder eine Gleichförmigkeit in der Natur erklärt, wenn ein anderes Gesetz oder Gesetze nachgewiesen werden, von denen jenes Gesetz selbst ein Fall ist, und woraus es abgeleitet werden könnte.

§. 2. Es giebt drei leicht zu unterscheidende Reihen von Umständen, in denen ein Causalgesetz erklärt, oder, wie es oft ausgedrückt wird, in andere Gesetze zerlegt oder aufgelöst werden kann.

Der erste Fall ist der früher bereits betrachtete: eine Vermischung von Gesetzen, die eine vereinigte Wirkung hervorbringen, die der Summe der Wirkungen der einzeln genommenen Ursachen gleich ist. Das Gesetz der complexen Wirkung ist erklärt,[545] wenn es in die besonderen Gesetze der Ursachen, welche dazu beitragen, aufgelöst ist. So wird das Gesetz der Bewegung eines Planeten zerlegt: in das Gesetz der Tangentialkraft, welche eine gleichförmige Bewegung in der Richtung der Tangente hervorzubringen sucht, und in das Gesetz der Centripetalkraft, welche eine beschleunigte Bewegung gegen die Sonne zu erzeugen strebt, während die wirkliche Bewegung aus beiden zusammengesetzt ist.

Es muss hier bemerkt werden, dass bei dieser Auflösung des Gesetzes einer complexen Wirkung die Gesetze, woraus es zusammengesetzt ist, nicht die alleinigen Elemente sind; es ist in die Gesetze der separaten Ursachen in Verbindung mit der Thatsache ihrer Coexistenz aufgelöst. Das Eine ist ein so wesentlicher Bestandtheil als das Andere, unser Ziel sei, das Gesetz der Wirkung zu entdecken, oder nur zu erklären. Um die Gesetze der Himmelsbewegungen abzuleiten, müssen wir nicht allein das Gesetz einer geradlinigten und das einer gravitirenden Kraft, sondern auch die Existenz dieser beiden Kräfte in den himmlischen Regionen, und sogar ihre relative Grösse kennen. Die complexen Causalgesetze werden auf diese Weise in zwei unterschiedene Arten von Elementen zerlegt: die einen sind einfachere Causalgesetze, die anderen sind (nach einem geschickt gewählten Ausdruck Chalmer's) Collocationen, wo unter Collocationen die Existenz von gewissen Agentien oder Kräften, unter gewissen Umständen von Zeit und Ort verstanden wird. Wir werden hernach Gelegenheit haben, auf diese Unterscheidung zurückzukommen und so lange dabei zu verweilen, dass wir uns hier nicht länger damit aufzuhalten brauchen. Die erste Art der Erklärung von Causalgesetzen ist demnach die, wo das Gesetz einer Wirkung in die verschiedenen Bestreben, wovon sie das Resultat, und in die Gesetze dieser Bestreben aufgelöst ist.

§. 3. Ein zweiter Fall ist der, wenn zwischen dem, was Ursache schien, und dem, was man für ihre Wirkung hielt, die weitere Beobachtung ein Zwischenglied entdeckt; eine durch das Antecedens verursachte Thatsache, die ihrerseits wieder das Consequens verursacht, so dass die zuerst angegebene Ursache nur die durch das Zwischenphänomen wirkende entferntere Ursache ist. A schien die Ursache von C zu sein, es ergab sich aber in der Folge, dass A nur die Ursache von B war, und dass B die Ursache von C ist.[546] Man wusste z.B., dass durch die Berührung eines äusseren Gegenstandes eine Empfindung hervorgerufen wird; es wurde indessen zuletzt entdeckt, dass nach unserer Berührung des Gegenstandes, und bevor wir die Sensation erfahren, eine Veränderung in einer Art von Strang, der Nerv genannt wird und sich von unseren äusseren Organen bis zum Gehirn erstreckt, stattfindet. Die Berührung des Gegenstandes ist also nur die entferntere Ursache unserer Empfindung, d.h. nicht die eigentlich sogenannte Ursache, sondern die Ursache der Ursache; die wirkliche Ursache der Empfindung ist die Veränderung in dem Zustande des Nerven. Die zukünftige Erfahrung kann uns nicht allein eine bessere Einsicht in die eigenthümliche Natur dieser Veränderung verschaffen, sondern sie kann auch noch ein neues Zwischenglied einschieben; z.B. zwischen der Berührung des Gegenstandes mit unseren äusseren Organen und der Erzeugung der Veränderung in dem Zustande des Nerven könnte ein elektrisches Phänomen oder ein Phänomen von einer Natur, dass es den Wirkungen bekannter Agentien gar nicht gleicht, statthaben. Bis jetzt ist indessen kein solches dazwischenstehendes Agens entdeckt worden, und die Berührung des Gegenstandes muss, vor der Hand wenigstens, als die nähere Ursache der Afficirung des Nerven betrachtet werden. Die Folge einer Tastempfindung bei der Berührung eines Gegenstandes ist also kein letztes Gesetz, sie ist, wie der Ausdruck sagt, in zwei Gesetze zerlegt, – in das Gesetz, dass die Berührung eines Gegenstandes den Nerven afficirt, und in das Gesetz, dass die Afficirung des Nerven eine Empfindung hervorruft.

Um ein anderes Beispiel anzuführen: die stärkeren Säuren zerfressen oder schwärzen organische Substanzen. Dies ist ein Fall von Verursachung, aber von einer entfernten Verursachung, und man sagt, sie sei erklärt, wenn nachgewiesen wird, dass ein Zwischenglied vorhanden ist, nämlich die Trennung eines der chemischen Elemente der organischen Substanz von den anderen, und das Eintreten in eine neue Verbindung mit der Säure. Die Säure verursacht diese Trennung der Elemente, und die Trennung der Elemente verursacht die Zersetzung und oft die Verkohlung der Substanz. So hat das Chlor eine starke Verwandtschaft für Basen jeder Art, besonders für metallische Basen und Wasserstoff.[547] Diese Basen sind wesentliche Bestandtheile von Farbstoffen und contagiösen Stoffen, und diese Substanzen werden daher durch das Chlor zersetzt und zerstört.

§. 4. Es ist von Wichtigkeit zu bemerken, dass wenn eine Folge von Naturerscheinungen auf diese Weise in andere Gesetze zerlegt wird, es immer allgemeinere Gesetze sind. Das Gesetz, dass A von C begleitet ist, ist weniger allgemein als ein jedes von den Gesetzen, welche B mit C und A mit B verbinden. Dies wird aus den folgenden, ganz einfachen Betrachtungen klar werden.

Alle Causalgesetze können durch die Nichterfüllung einer negativen Bedingung aufgehoben werden; das Bestreben von B, C hervorzubringen, kann vereitelt werden. Nun ist das Gesetz, dass A, B hervorbringt, erfüllt, ob C auf B folge oder nicht; aber das Gesetz, dass A, C vermittelst B hervorbringt, ist natürlicherweise nur erfüllt, wenn C wirklich auf B folgt, es ist daher weniger allgemein als das Gesetz: A bringt B hervor. Es ist auch weniger allgemein als das Gesetz: B bringt C hervor. Denn B kann ausser A andere Ursachen haben, und da C nur vermittelst B von A hervorgebracht wird, während B, C hervorbringt, es mag nun selbst von A oder von etwas Anderem hervorgebracht sein, so umfasst der zweite Fall eine grössere Anzahl von Fällen, bedeckt, so zu sagen, ein weiteres Feld als der erste.

So ist in unserem früheren Beispiel das Gesetz, dass die Berührung eines Gegenstandes eine Veränderung in dem Zustande des Nerven verursacht, allgemeiner als das Gesetz, dass die Berührung eines Gegenstandes eine Empfindung verursacht, da, so viel wir wissen, die Veränderung des Nerven ebenfalls stattfindet, wenn einer entgegenwirkenden Ursache, wie z.B. einer grossen geistigen Erregung wegen die Empfindung nicht erfolgt; wie denn in der That in Schlachten die Kämpfenden oft Wunden empfangen ohne dass sie es empfinden. Eben so ist das Gesetz, dass die Veränderung in dem Zustande eines Nerven eine Empfindung erzeugt, allgemeiner als das Gesetz, dass die Berührung eines Gegenstandes eine Sensation erregt, da die Sensation der Veränderung des Nerven folgt, wenn diese auch nicht durch die Berührung mit einem Gegenstande, sondern durch eine andere Ursache hervorgebracht ist, wie in dem wohlbekannten Falle, wenn einer ein Bein verloren[548] und doch dieselbe Empfindung hat, welche er gewohnt ist einen Schmerz in dem Beine zu nennen.

Nicht allein sind die Gesetze einer unmittelbaren Folge (Sequenz), in welche das Gesetz einer entfernteren Folge zerlegt wird, Gesetze von einer grösseren Allgemeinheit als dieses Gesetz, sondern in Folge ihrer grössern Allgemeinheit kann man sich auch mehr auf sie verlassen; es ist weniger Gefahr vorhanden, dass sie zuletzt als nicht allgemein wahr befunden werden. Wie constant und unveränderlich auch die Folge von A und B bisher befunden worden sein mag, von dem Augenblick an als es nachgewiesen ist, dass die Folge von A und C nicht eine unmittelbare, sondern eine von einem dazwischentretenden Phänomen abhängige Folge ist, entstehen Möglichkeiten ihres Ausbleibens, welche grösser sind als diejenigen, welche eine der unmittelbareren Sequenzen, A B und B C betreffen können. Das Bestreben von A, C hervorzubringen, kann durch Alles vernichtet werden, was fähig ist, entweder das Bestreben von A, B hervorzubringen, oder das Bestreben von B, C hervorzubringen, zu vereiteln, es ist daher dem Misslingen doppelt so stark als eines der zwei elementaren Bestreben unterworfen; und die Generalisation, dass A immer von C begleitet ist, unterliegt daher der doppelten Wahrscheinlichkeit des Irrthums. Dasselbe gilt von der umgekehrten Generalisation, dass A dem C immer vorausgeht und es verursacht, was nicht allein irrthümlich ist, wenn es eine zweite unmittelbare Art der Erzeugung von C selbst, sondern auch, wenn es eine zweite Art der Erzeugung von B, dem unmittelbaren Antecedens von C in der Sequenz gäbe.

Die Auflösung der einen Generalisation in die zwei anderen zeigt nicht allein, dass es mögliche Beschränkungen der ersteren Generalisation giebt, von denen ihre zwei Elemente frei sind, sondern sie zeigt auch, wo diese gesucht werden müssen. Sobald wir wissen, dass B zwischen A und C tritt, so wissen wir auch, dass wenn es Fälle giebt, in welchen die Folge von A und C nicht Statt hat, sie wahrscheinlich dadurch gefunden wird, dass man die Wirkungen und Bedingungen des Phänomens B studirt.

Es scheint also, dass in der zweiten der drei Arten, nach welchen ein Gesetz in andere Gesetze zerlegt werden kann, die letzteren allgemeiner sind, d.h. dass sie sich auf mehr Fälle erstrecken und[549] also weniger wahrscheinlich einer Beschränkung durch spätere Erfahrung bedürfen, als das Gesetz, welches sie zu erklären dienen. Sie sind viel unbedingter, sie werden von weniger Vorgängen aufgehoben, sind eine grössere Annäherung an die universale Wahrheit der Natur. Dieselben Bemerkungen sind in Beziehung auf die erste der drei Zerlegungsweisen noch viel augenfälliger wahr. Wenn das Gesetz einer Wirkung combinirter Ursachen in die besonderen Gesetze der Ursachen zerlegt ist, so schliesst die Natur des Falles ein, dass das Gesetz der Wirkung weniger allgemein ist, als das Gesetz von einer der Ursachen, indem jenes nur gültig ist, wenn sie combinirt sind, während das Gesetz von einer jeden der Ursachen sowohl gültig ist, wenn die Ursachen combinirt sind, als auch wenn jede Ursache von den übrigen getrennt wirkt. Auch ist es klar, dass das complexe Gesetz öfter nicht erfüllt wird als die einfachen Gesetze, deren Resultat es ist, indem ein jeder Vorgang, welcher eines dieser Gesetze aufhebt, gerade so viel von der Wirkung, als davon abhängt, verhindert und dadurch das complexe Gesetz aufhebt. Das blosse Rosten eines kleinen Theils einer grossen Maschine z.B. verhindert oft gänzlich die Wirkung, welche aus der vereinigten Thätigkeit aller Theile hervorgehen sollte. Das Gesetz der Wirkung einer Combination von Ursachen ist fortwährend dem Ganzen der negativen Bedingungen unterworfen, die der Action aller Ursachen einzeln anhängen.

Es giebt einen anderen und noch stärkeren Grund, warum das Gesetz einer complexen Wirkung weniger allgemein sein muss, als die Gesetze, die bei ihrer Erzeugung mitwirken. Dieselben Ursachen, nach denselben Gesetzen wirkend, und nur in den Verhältnissen verschieden, in welchen sie verbunden sind, bringen oft Wirkungen hervor, die nicht bloss der Quantität nach, sondern auch der Art nach verschieden sind. Die Combination einer Tangentialkraft mit einer Centripetalkraft, in den Verhältnissen, wie sie sich bei allen Planeten und Satelliten unseres Sonnensystems finden, erzeugen eine elliptische Bewegung; wenn jedoch das Verhältniss der zwei Kräfte zu einander nur um ein Geringes geändert würde, so würde die erzeugte Bewegung nachweisbar in einem Kreis, einer Parabel oder Hyperbel stattfinden, und man hat angenommen, dass dies bei einigen Kometen wirklich der Fall sei. Das Gesetz der parabolischen Bewegung würde jedoch in dieselben[550] einfachen Gesetze zerlegbar sein, in welche die elliptische Bewegung zerlegt ist, in das Gesetz nämlich von der Fortdauer einer geradlinigten Bewegung und das Gesetz einer allgemeinen Centripetalkraft. Wenn sich daher im Laufe der Jahrhunderte ein Umstand zeigen sollte, welcher, ohne das Gesetz einer dieser Kräfte aufzuheben, nur ihr Verhältniss zu einander andern würde (wie der Stoss eines Kometen, oder sogar die accumulirende Wirkung von dem Widerstand des Mediums, in welchem, der Vermuthung der Astronomen nach, die Bewegungen der Himmelskörper stattfinden sollen), so dürfte die elliptische Bewegung in eine Bewegung in einer andern Curve umgewandelt werden, und das complexe Gesetz der Bewegungen der Himmelskörper, wie es gegenwärtig verstanden wird, würde seiner Allgemeinheit beraubt sein, obgleich die Entdeckung durchaus nichts von der Allgemeinheit der einfachen Gesetze, in welche dieses Gesetz zerlegt ist, hinwegnehmen würde. Kurz das Gesetz einer jeden der mitwirkenden Ursachen bleibt dasselbe, wie sich ihre Collocationen auch ändern mögen, aber das Gesetz ihrer vereinten Wirkung ändert sich mit einem jeden Unterschiede in den Collocationen. Es ist unnöthig, weiter zu zeigen, wieviel allgemeiner die elementaren Gesetze sein müssen, als irgend eines der complexen Gesetze, die davon abgeleitet sind.

§. 5. Ausser den zwei abgehandelten Arten giebt es eine dritte Art, nach welcher Gesetze zerlegt werden, und es versteht sich bei dieser von selbst, dass sie in allgemeinere Gesetze, als sie selbst sind, zerlegt werden. Diese dritte Art ist die Unterordnung, die Subsumtion (wie sie genannt wurde) eines Gesetzes unter ein anderes, oder (was auf dasselbe hinauskommt) das Zusammenfassen von veschiedenen Gesetzen in ein allgemeineres, das sie alle einschliesst. Das glänzendste Beispiel dieses Verfahrens fand Statt, als die terrestrische Schwere und die Centralkraft des Sonnensystems unter das allgemeine Gesetz der Schwere gebracht wurden. Es war vorher bewiesen worden, dass die Erde und die anderen Planeten nach der Sonne streben (eine Anziehung in der Richtung nach der Sonne erleiden), und seit den frühesten Zeiten war bekannt, dass alle irdischen Körper nach der Erde streben. Dies waren ähnliche Erscheinungen, und um sie unter ein Gesetz subsumiren zu können, war es nur nöthig zu beweisen, dass, so[551] wie die Wirkung der Qualität nach ähnlich war, sie sich auch der Quantität nach denselben Regeln fügte. Zuerst wurde dies für den Mond als wahr nachgewiesen, welcher mit den terrestrischen Gegenständen nicht allein darin übereinstimmt, dass er nach einem Centrum strebt, sondern auch in der Thatsache, dass dieses Centrum die Erde ist. Man wusste bereits, dass das Streben des Mondes nach der Erde sich umgekehrt in dem Quadrate der Entfernung ändert, und es wurde hieraus durch directe Berechnung abgeleitet, dass wenn der Mond der Erde so nahe wie die irdischen Gegenstände und die Tangentialkraft nicht thätig wäre, derselbe um genau so viele Fuss in der Minute nach der Erde fallen würde, als jene Gegenstände vermittelst ihres Gewichtes fallen. Die Folgerung, dass der Mond durch sein Gewicht nach der Erde strebt, und dass die beiden Phänomene, das Streben des Mondes nach der Erde und das Streben der irdischen Gegenstände nach der Erde, da sie nicht allein der Qualität nach ähnlich, sondern auch unter denselben Umständen der Quantität nach identisch sind, Fälle von einem und demselben Causalgesetze sind, war hiernach unwiderstehlich. Aber das Streben des Mondes nach der Erde und das der Erde und der Planeten nach der Sonne waren bereits als Fälle desselben Causalgesetzes bekannt; und so wurde das Gesetz aller dieser Bestreben und das Gesetz der irdischen Schwere als identisch erkannt, oder mit anderen Worten, sie wurden unter ein allgemeines Gesetz, unter das Gesetz der Gravitation subsumirt.

Auf eine ähnliche Weise wurden in der neuern Zeit die magnetischen Phänomene unter bekannte Gesetze der Elektricität subsumirt. Die allgemeinsten Naturgesetze werden gewöhnlich auf diese Weise gefunden, wir gelangen zu ihnen durch aufeinanderfolgende Schritte. Denn um durch eine richtige Induction zu Gesetzen zu gelangen, die unter einer so ungeheuren Mannigfaltigkeit von Umständen gültig sind, Gesetzen, die so allgemein sind, dass sie von einer jeden Veränderung in Raum und Zeit, die wir beobachten können, unabhängig sind, ist es meistentheils erforderlich, dass viele unterschiedene Reihen von Experimenten und Beobachtungen zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Personen angestellt werden. Erst wird ein Theil des Gesetzes ermittelt, hernach ein anderer; die eine Reihe von Beobachtungen lehrt uns, dass[552] das Gesetz unter einigen Bedingungen gültig ist, eine andere Reihe lehrt uns, dass es unter anderen Bedingungen gültig ist, und indem wir diese Beobachtungen verbinden, finden wir, dass es unter viel allgemeineren Bedingungen gültig, oder sogar universal ist. Das allgemeine Gesetz ist in diesem Falle buchstäblich die Summe der Theilgesetze, es ist die Erkenntniss derselben Sequenz in verschiedenen Reihen von Fällen, und kann in der That als nur eine Stufe in dem Eliminationsverfahren bildend betrachtet werden. Jenes Streben der Körper gegen einander, das wir nun Schwere nennen, wurde zuerst nur auf der Erdoberfläche beobachtet, wo es sich nur als ein Streben aller Körper gegen die Erde äusserte, und hätte daher einer besondern Eigenschaft der Erde zugeschrieben werden können; einer der Umstände, nämlich die Nähe der Erde, war nicht eliminirt. Die Elimination dieses Umstandes erforderte eine neue Reihe von Fällen aus anderen Theilen des Universums; diese konnten wir nicht selbst schaffen, und obgleich sie die Natur für uns geschaffen hatte, so waren wir doch für deren Beobachtung in sehr ungünstige Umstände versetzt. Die Aufgabe, diese Beobachtungen zu machen, fiel natürlich einer anderen Classe von Personen zu, als diejenigen waren, welche die irdischen Naturerscheinungen studirten, und war in der That ein Gegenstand von grossem Interesse zu einer Zeit, wo der Gedanke, die himmlischen Thatsachen durch terrestrische Gesetze zu erklären, als eine Verkennung einer unverletzbaren Distinction betrachtet wurde. Als indessen die himmlischen Bewegungen genau bestimmt, und die deductiven Operationen ausgeführt wurden, so erhellte daraus, dass ihre Gesetze und die der irdischen Schwere einander entsprechen, und es wurden diese himmlischen Beobachtungen zu einer Reihe von Fällen, die den Umstand von der Nähe der Erde genau eliminirten und bewiesen, dass in dem ursprünglichen Falle, in dem der irdischen Gegenstände, es nicht die Erde als solche war, welche die Bewegung oder den Druck verursachte, sondern der den himmlischen Fällen gemeinsame Umstand, nämlich die Gegenwart eines grossen Körpers innerhalb gewisser Grenzen der Entfernung.

§.6. Es giebt also drei Arten von Erklärung der Causalgesetze, oder was dasselbe ist, von Zerlegung derselben in andere Gesetze.[553] Erstens, wenn das Gesetz einer Wirkung combinirter Ursachen in die einzelnen Gesetze der Ursachen und in die Thatsachen ihrer Combination zerlegt wird. Zweitens, wenn das Gesetz, welches zwei nicht benachbarte Glieder einer Kette von Verursachungen verbindet, in die Gesetze zerlegt wird, welche ein jedes Glied mit den Zwischengliedern verbinden. Beides sind Fälle der Zerlegung eines Gesetzes in zwei oder mehrere Gesetze; bei der dritten Zerlegungsart werden zwei oder mehrere Gesetze in eines aufgelöst, indem wir, nachdem der Beweis geführt worden ist, dass das Gesetz in mehreren verschiedenen Classen von Fällen gültig ist, entscheiden, dass was in einer jeden dieser Classen von Fällen wahr ist, auch unter einer etwas allgemeineren Voraussetzung, die aus dem besteht, was alle diese Classen von Fällen gemeinsames haben, wahr ist. Wir können hier bemerken, dass diese Operation keine von den Ungewissheiten einschliesst, welche der Induction nach der Methode der Uebereinstimmung anhängen, indem wir nicht vorauszusetzen brauchen, dass das Resultat durch Folgerung auf eine neue Classe von Fällen, und verschieden von denjenigen, durch deren Vergleichung es erzeugt wurde, ausgedehnt worden ist.

In allen diesen drei Fällen werden, wie wir sahen, die Gesetze in allgemeinere Gesetze zerlegt, als sie selbst sind, in Gesetze, die sich auf alle Fälle erstrecken, auf die sich die ersteren erstrecken, und ausserdem noch auf andere Fälle. Bei den ersten zwei Zerlegungsweisen werden dieselben auch in gewissere Gesetze zerlegt, oder mit anderen Worten, in allgemeiner wahre, als sie selbst sind; es wird in der That von ihnen bewiesen, dass sie nicht selbst Naturgesetze sind, deren Charakter ist, allgemein wahr zu sein, sondern Resultate von Naturgesetzen, die nur bedingungsweise und grösstentheils wahr sind. In dem dritten Falle existirt kein Unterschied dieser Art, indem hier die partiellen Gesetze in der That dasselbe Gesetz sind, wie das allgemeine, und eine Ausnahme von ihnen eine Ausnahme von letzterem sein würde.

Durch alle drei Verfahrungsweisen wird der Umfang der deductiven Methode erweitert, indem die so aufgelösten Gesetze nun demonstrativ aus den Gesetzen, in welche sie aufgelöst sind abgeleitet werden, können. Wie bereite bemerkt wurde, dient dasselbe deductive Verfahren, welches ein Gesetz oder eine Thatsache[554] der Verursachung beweist, wenn sie unbekannt ist, zur Erklärung derselben, wenn sie bekannt ist.

Das Wort Erklärung ist hier in seinem philosophischen Sinne gebraucht. Was man eine Erklärung eines Naturgesetzes durch ein anderes nennt, ist nur die Vertretung eines Räthsels durch ein anderes, und macht den allgemeinen Gang der Natur nicht weniger geheimnissvoll; wir können für die allgemeineren Gesetze nicht mehr als für die partiellen ein warum angeben. Die Erklärung kann ein Räthsel, an das man sich gewöhnt hat, und das daher nicht mehr räthselhaft zu sein scheint, an die Stelle eines andern noch ungewohnten setzen. Dies ist in gewöhnlicher Sprache unter Erklärung verstanden. Aber das Verfahren, womit wir uns beschäftigt haben, thut häufig das Gegentheil, es löst ein Phänomen, mit welchem wir vertraut sind, in ein anderes auf, von dem wir vorher wenig oder gar nichts wussten, wie z.B. die allgemeine Thatsache von dem Falle schwerer Körper in das Streben aller materiellen Theilchen gegen einander aufgelöst wird. Man muss daher beständig im Auge behalten, dass diejenigen, welche in der Wissenschaft von der Erklärung einer Naturerscheinung sprechen, darunter immer den Nachweis nicht einer gewohnteren, sondern nur einer allgemeineren Naturerscheinung, wovon jene ein partieller Fall ist, oder den Nachweis von Causalgesetzen verstehen (oder verstehen sollten), welche die Naturerscheinung durch ihre vereinte oder successive Wirkung hervorbringen, und von welchen daher ihre Bedingungen deductiv abgeleitet werden können. Ein jedes derartige Verfahren bringt uns der Beantwortung einer Frage, welche schon früher »als die ganze Aufgabe der Naturforschung umfassend« dargestellt wurde, um einen Schritt näher, der Frage nämlich: welches sind die wenigsten Annahmen, aus denen, wenn sie zugegeben wären, die existirende Ordnung der Natur resultiren würde? Welches sind die wenigsten allgemeinen Sätze, aus denen die in der Natur existirenden Gleichförmigkeiten abgeleitet werden könnten?

Von den so erklärten oder aufgelösten Gesetzen sagt man zuweilen, es sei der Grund derselben nachgewiesen, aber der Ausdruck ist ungenau, wenn er in einem anderen Sinne als dem bereits angeführten gebraucht wird. Diejenigen, welche nicht an genaues Denken gewöhnt sind, hegen oft die verworrene[555] Vorstellung, dass die allgemeinen Gesetze die Ursachen der partiellen seien; dass das Gesetz der allgemeinen Schwere z.B. das Phänomen des Falles der Körper gegen die Erde verursache. Es wäre aber ein Missbrauch des Wortes, dies zu behaupten; die irdische Schwere ist nicht eine Wirkung, sondern ein Fall der allgemeinen Schwere, d.h. eine Art von den besondern Fällen, in denen sich dieses allgemeine Gesetz bewährt. Ein Naturgesetz erklären heisst also und kann nicht mehr heissen, als andere allgemeinere Gesetze sammt den Collocationen nachweisen, aus deren Annahme die partiellen Gesetze ohne eine neue Voraussetzung folgen.[556]

Quelle:
John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven Logik. Band 1, Braunschweig 31868, S. 545-557.
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