Dreiundzwanzigster Abschnitt.
Die Verkehrtheiten.

[149] Frage:

Durch Vorstellen (und) Unterscheiden entsteht Gier (rāga), Haß (dveṣa), Verblendung (moha); die Verkehrtheiten (viparyāsa) von »rein«, »unrein« sind ausnahmslos durch Bedingungen (pratyaya) entstanden. (XXIII. 1.)

Das sūtra lehrt: »Abhängig von der Verkehrtheit des Reinen (und) Unreinen bringt Vorstellen (und) Unterscheiden Gier, Haß, Verblendung hervor. Deshalb wird man erkennen: es ist Gier, Haß, Verblendung.«

Antwort:

Wenn durch die Verkehrtheiten von »rein« (und) »unrein« die drei Gifte entstehen, dann sind die drei Gifte nicht durch eigenes Sein (svabhāvataḥ); daher sind die Qualen (kleśa) nicht tatsächlich. (XXIII. 2.)

Wenn die Qualen (kleśa) abhängig von den Verkehrtheiten »rein« (und) »unrein« (durch) Vorstellen (und) Unterscheiden entstehen, dann sind sie nicht mit Eigensein. Deshalb sind die kleśas nicht tatsächlich. Ferner:

Das Selbst (ātman) ist durch (d.h. »abhängig von«) Nichtsein: diese Sache wird niemals er reicht. Ohne Selbst (ātman) wird auch der Qualen (kleśa) Sein (und) Nichtsein nicht erreicht. (XXIII. 3.)

Das Selbst (ātman) ist nicht abhängig entweder von Sein oder von Nichtsein zu erreichen. Jetzt ist nicht das Selbst (ātman): wie sind denn die Qualen (kleśa) durch Sein oder durch Nichtsein zu erreichen? Weshalb?

Wer diese kleśas hat, wird eben nicht erreicht. Wenn sie aber ohne jenen sind, dann sind die Qualen (kleśa) nicht zugehörig. (XXIII. 4.)

kleśas (Qualen) heißt: anderes belästigen könnend. Anderes[150] belästigen: nämlich die sattvas (lebende Wesen). Diese sattvas, an allen Orten gesucht, sind nicht zu erreichen. Wenn man sagt: »Ohne sattvas sind nur die Qualen (kleśa)«, so haben diese kleśas nichts, zu dem sie gehören. Wenn (man) sagt: »Obwohl das Selbst nicht ist, sind dennoch die Qualen (kleśa) zugehörig (zum) citta (Denken)«, so ist auch diese Sache nicht richtig. Weshalb?

Wie die Körper-Ansicht (svakāya-dṛṣṭi) auf fünf Arten gesucht nicht zu erreichen ist, so sind die Qualen (kleśa), im gequälten Denken (kliṣṭa citta) fünffach gesucht, auch nicht erreicht. (XXIII. 5.)

Wie die Körper-Ansicht in den fünf skandhas auf fünf Arten gesucht nicht zu erreichen ist, so sind auch die Qualen, im gequälten Denken auf fünf Arten gesucht, [auch]1 nicht zu erreichen. Und gequältes Denken, in den Qualen auf fünf Arten gesucht, ist auch nicht zu erreichen. Ferner:

Die Verkehrtheiten des »rein« und »unrein« sind nicht an sich selbst (svabhāvataḥ). Wie entstehen denn durch diese zwei die kleśas (Qualen)? (XXIII. 6.)

»Rein« (und) »unrein« (sind) Verkehrtheiten; Verkehrtheiten heißen trügerisch (und) verwirrend. Wenn trügerisch (und) verwirrend, dann sind sie nicht an sich selbst (svabhāvataḥ). Sind sie nicht an sich selbst, dann sind nicht Verkehrtheiten. Wenn nicht Verkehrtheiten sind, wie entstehen abhängig von den Verkehrtheiten die Qualen (kleśa)?

Frage:

Erscheinung (rūpa), Ton (śabda), Geruch (gandha), Geschmack (rasa), Tastsinn (sparśa) und dharma (gedankliches Objekt) sind sechsfach; diese sechs Arten sind Ursprung (und) Beginn der drei Gifte. (XXIII. 7.)

Diese sechs (Sinnes-)Gebiete (āyatana) sind der drei Gifte Ursprung (und) Beginn. Durch diese sechs Gebiete entstehen die Verkehrtheiten »rein« (und) »unrein«. Abhängig von den Verkehrtheiten »rein« (und) »unrein« entsteht Gier, Haß, Verblendung.

Antwort:

Erscheinung (rūpa), Ton (śabda), Geruch (gandha),[151] Geschmack (rasa), Berührung (sparśa) und dharma (Objekt), (dieser) sechs Arten Substanz ist ausnahmslos leer, wie Flamme, Traum, wie eine Gandharvenburg. (XXIII. 8.)

Was ist so in den sechs Arten rein (oder) unrein? (Sie sind) isoliert, wie durch Zauber geschaffene (eig. »gewandelte«) Menschen, auch wie das Abbild im Spiegel. (XXIII. 9.)

Der Erscheinung, des Tones, Geruchs, Geschmacks, der Berührung, des (gedanklichen) Objektes eigene Substanz ist zur Zeit, wo sie noch nicht mit der Vorstellung (citta) zusammen sind, leer (und) nicht vorhanden. Wie Flamme, wie Traum, wie ein gezauberter [Mensch]2, wie das Bild im Spiegel (sind sie) nur Täuschung, in der Vorstellung (citta) sind sie nicht wahrhaftig seiend. Was ist also in den sechs Bereichen (āyatana) rein (oder) unrein? Ferner:

(Wenn) nicht abhängig von Reinem, ist eben nicht Unreines. Abhängig von rein ist unrein. Deshalb ist nicht unrein. (XXIII. 10.)

Wenn unabhängig von Reinem nicht schon vorher Unreines ist, von welchem abhängig lehrt man denn »Unreines«? Deshalb ist nicht Unreines. Ferner:

Nicht abhängig von Unreinem: dann ist auch nicht Reines. Abhängig von Unreinem ist Reines; deshalb ist nicht Unreines. (XXIII. 11.)

Wenn unabhängig von Unreinem vorher nicht Reines ist, wovon abhängig lehrt ihr denn Reines? Deshalb ist nicht Reines. Ferner:

Wenn nicht Reines ist, was ist denn Ursache, (daß) Gier (rāga) ist? Wenn Unreines nicht ist, was erzeugt denn Haß (dveṣa)? (XXIII. 12.)

Weil Reines (und) Unreines nicht ist, so entsteht nicht Gier (rāga) (und) Haß (dveṣa).

Frage: Das sūtra lehrt: »Die vier Verkehrtheiten des ›ewig‹ usw.: Wenn man im Nicht-ewigen ewig sieht, so heißt das Verkehrtheit; wenn man im Nicht-ewigen nicht-ewig sieht, so ist das nicht Verkehrtheit.« Die übrigen drei Verkehrtheiten (sind) auch[152] so. Weil Verkehrtheit ist, würde auch der Verkehrte (viparyasta) sein. Weshalb sagt ihr: »Alles ist nicht.«

Antwort:

Beim Nicht-ewigen (als an) »ewig« haften: das eben heißt »Verkehrtheit«. Im Leeren ist nicht »ewig«. An welchem Ort ist die Verkehrtheit des »ewig«? (XXIII. 13.)

Wenn (man) beim Nicht-ewigen (als an) »ewig« haftet, heißt es Verkehrtheit. In dem, was an Eigensein (svabhāva) leer ist, hierin ist nicht ewig. An welchem Ort ist die Verkehrtheit des »ewig«? Die übrigen drei sind auch so. Ferner:

Wenn man beim Nicht-ewigen an »nicht-ewig« haftet, so ist das nicht Verkehrtheit? Im Leeren ist nicht »nicht-ewig«, wie ist (es) nicht Verkehrtheit? (XXIII. 14.)

Wenn man am Nicht-ewigen haftet (und) sagt: »›Das ist nicht-ewig‹, [das] ist (eig. ›heißt‹) nicht Verkehrtheit«: in der Wesens(svabhāva-)leerheit der dharmas ist nicht »nicht-ewig«. Weil das Nicht-ewige nicht ist, wie ist es nicht Verkehrtheit? Die übrigen drei sind auch so. Ferner:

Das, an dem man haftet, der Haftende, das Haften und wodurch man haftet, diese sind ausnahmslos still-vergangen-vereigenschaftet. Wie ist denn Haften? (XXIII. 15.)

Das, an dem man haftet, heißt das Ding; der »Haftende« heißt der Täter; das »Haften« heißt Tun; »durch was man haftet«3 heißt Mittel. Diese sind ausnahmslos wesensleer, still-vergangen-vereigenschaftet, wie im tathāgata-Abschnitt4 gelehrt ist. Deshalb ist nicht Haften. Ferner:

»Wenn nicht Festhalten ist an Falschessagen, das ist Verkehrtheit; richtig sagen (ist) Nicht-Verkehrtheit«: wessen ist solche Sache? (XXIII. 16.)

Festhalten (Greifen, graha) heißt überlegen (und) denken, dieses (und) jenes, Sein (und) Nichtsein u.dgl. unterscheiden. Wenn dieses Festhalten5 nicht ist, wer bewirkt Falsches, (d.h.) Verkehrtheit? wer bewirkt Richtiges, (d.h.) Nicht-Verkehrtheit? Ferner:

[153] Mit Verkehrtheit entsteht nicht Verkehrtheit; ohne Verkehrtheit entsteht nicht Verkehrtheit. Der Verkehrte bringt Verkehrtheit nicht hervor; der nicht Verkehrte auch bringt (sie) nicht hervor.6 (XXIII. 17.)

Wenn beim Verkehrt-seienden auch nicht Verkehrtheit entsteht, müßt ihr selbst prüfen (und) untersuchen, wer Verkehrtheit hervorbringt? (XXIII. 18.)

Der schon Verkehrte bringt eben nicht abermals Verkehrtheit hervor, da. er schon verkehrt ist. Der noch nicht Verkehrte auch ist nicht verkehrt; weil er nicht verkehrt ist. Der gegenwärtig Verkehrt-werdende auch hat nicht Verkehrtheit, weil dann die zwei Fehler vorliegen. Laßt ihr jetzt Hochmut und stolze Gedanken beiseite und prüft (und) erforschet selbst gut, wer verkehrt wird. Ferner:

Die Verkehrtheiten sind nicht entstanden: wie ist diese Sache (möglich)? Weil die Verkehrtheiten nicht sind, wer ist verkehrt? (XXIII. 19.)

Die Verkehrtheiten, weil durch verschiedentliche Gründe widerlegt, treffen zu als innen-befindlich (und?) nicht entstanden. Jene, begierig zu haften am Nicht-Entstehen, sagen: »Ohne Entstehen, das ist die tatsächliche Eigenschaft der Verkehrtheiten.« Deshalb wird im śloka gelehrt: »Die Verkehrtheiten sind nicht entstanden: wie ist diese Sache (möglich)?« Überdies heißen wohl sogar (eig. »bis zu«) die ausflußlosen (anāsrava) dharmas nicht »unentstanden-vereigenschaftet«, um so mehr die Verkehrtheiten (nicht) »unentstanden-vereigenschaftet« (anutpanna-lakṣaṇa). Weil Verkehrtheiten nicht sind, wer ist verkehrt? Denn durch Verkehrtheiten ist der Verkehrte. Ferner:

Wenn Ewig (nitya), Selbst (ātman), Freude (sukha), Rein (śucin): diese tatsächlich sind, dann ist dieses Ewige, Selbst, Freude, Reine nicht Verkehrtheit. (XXIII. 20.)

Wenn Ewig, Selbst, Freude, Rein: diese vier tatsächlich sind (und) Wesen haben, dann ist Selbst, Ewiges, Freude, Reines keine Verkehrtheit. Weshalb? Weil es etwas wahrhaftig Seiendes bedeutet. Wie sagt ihr »Verkehrtheit«? Wenn man sagt: »Ewig, Selbst, Freude, Rein, diese vier sind nicht«, dann würden Nicht-Ewig, Leid, Nicht-Selbst, Unrein: diese vier tatsächlich sein (und)[154] nicht Verkehrtheit heißen. Da im Widerspruch mit den Verkehrtheiten, nennt7 man sie »Nicht-Verkehrtheiten«. Diese Sache ist nicht richtig. Weshalb?

Wenn Ewiges, Selbst, Freude, Reines aber tatsächlich nicht sind, so würden Nicht-Ewiges, Leid, Unreines8 auch nicht sein. (XXIII. 21.)

Wenn Ewig, Selbst, Freude, Rein: diese vier tatsächlich nicht sind, so würden wegen ihres [tatsächlichen]9 Nichtseins auch Nicht-Ewig usw. – (diese) vier Sachen nicht sein. Weshalb? Weil nicht gegenseitig abhängig erreicht. Ferner:

So vergehen die Verkehrtheiten, Nichtwissen (avidyā) vergeht dann auch. Weil Nichtwissen vergeht, vergehen auch die saṃskāras usw. (XXIII. 22.)

So wie diese Sache, weil die Verkehrtheiten vergehen, vergeht auch Nichtwissen (avidyā), der Ursprung (und) Anfang der zwölf nidānas. Da Nichtwissen vergeht, vergehen auch die drei Arten von saṃskāras usw. bis zu Alter (und) Tod ausnahmslos. Ferner:

Wenn der Qualen (kleśa) Selbstsein (svabhāva) tatsächlich ist, an dem sie hängen, wie wird es zu vernichten sein? wer kann dieses Selbstsein vernichten? (XXIII. 23.)

Wenn die kleśas eben Verkehrtheit sind, aber tatsächlich mit An-sich-sein, wie sind sie zu vernichten? Wer kann dieses An-sich-Sein vernichten? Wenn man sagt: »Die kleśas ausnahmslos sind falsch (und) verwirrend, ohne An-sich-Sein (svabhāva), und dann eben zu vernichten«, so ist das auch nicht richtig. Weshalb?

Wenn die Qualen (kleśa) falsch (und) verwirrend sind, ohne An-sich-Sein, nicht-abhängend (sc. von An-sich-Sein), wie werden sie zu vernichten sein? wer kann Wesenloses vernichten? (XXIII. 24.)

Wenn man sagt: »Die Qualen (kleśa) sind falsch (und) verwirrend, ohne An-sich-Sein«, dann ist nicht, wovon sie abhängen: wie sind sie zu vernichten? Wer kann wesenlose dharmas vernichten?

1

Zusatz von TE.

2

Nach TE. zu tilgen.

3

Nach KE.

4

22. Abschnitt.

5

TE.: »dieser Festhaltende«.

6

KE.: »ist nicht verkehrt«.

7

Nach TE.

8

Dem Sinne nach ist »Nicht-Selbst« zu ergänzen.

9

Nach TE. zu tilgen.

Quelle:
Die mittlere Lehre des Nāgārjuna. Heidelberg 1912, S. 149-155.
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