Elfter Abschnitt.
Anfang und Ende.

[72] Frage: Im »Ohne-Anfang-(und-)Ende-sūtra« (niravarāgrasūtra)1 wird gelehrt: »Die lebenden Wesen gehen und kommen im saṃsāra (eig. »Geburt und Tod«), Anfang (und) Ende sind nicht erreichbar.« Hierin wird gelehrt: es sind Wesen, es ist saṃsāra. Aus welchen Gründen macht man diese Lehre?

Antwort:

Wie vom großen Weisen gelehrt wird: Anfang und Ende (sind) nicht erreichbar. Der saṃsāra ist nicht mit Anfang, ist ferner auch nicht mit Ende. (XI. 1.)

Weise Leute sind von drei Arten: erstens tīrthikas (fremde Lehrer), die die fünf Klarsichten (pañca-abhijñä) erreicht haben; zweitens arhant (und) pratyeka-buddha; drittens die die Klarsichten (abhijñā) erreicht habenden mahā-bodhisattvas. (Da) Buddha unter diesen drei Arten das höchste ist, deshalb sagt man: »mahāmuni«. Was Buddha lehrt, ist nicht Lehre der Unwahrheit (atattva). saṃsāra ist ohne Anfang. Weshalb? Des saṃsāra Anfang (und) Ende ist nicht erreichbar. Deshalb sagt man: »Er hat nicht Anfang.« Ihr sagt: »Wenn Anfang (und) Ende nicht ist, so würde doch die Mitte sein.« Das auch ist nicht richtig. Weshalb?

Wenn Anfang (und) Ende nicht ist, wie wird die Mitte sein? Deshalb sind hierin das Frühere, Spätere, Gleichzeitige auch nicht. (XI. 2.)

Weil abhängig von Mitte (und) Ende der Anfang ist, und weil abhängig von Anfang (und) Mitte das Ende ist. Wenn nicht Anfang (und) nicht Ende ist, wie ist Mitte? Im saṃsāra ist nicht Anfang, Mitte, Ende. Deshalb wird gelehrt: »Das Frühere, Spätere, Gleichzeitige ist nicht erreichbar.« Weshalb?

[73] Wenn man annimmt: früher ist Geburt, später ist Alter (und) Tod, (so) ist ohne Alter (und) Tod Geburt, ohne Geburt ist Alter (und) Tod. (XI. 3.)

Wenn vorher Alter (und) Tod, aber später Geburt ist, dann ist sie ohne Grund, ohne Geburt ist Alter (und) Tod. (XI. 4.)

Wenn bei den lebenden Wesen im saṃsāra die Geburten früher entstehen, allmählich Alter eintritt, dann nachher der Tod, dann ist die Geburt ohne Alter (und) Tod[-dharma]. (Aber) Geburt müßte mit Alter (und) Tod sein, Alter und Tod mit Geburt. Oder auch nicht Alter (und) Tod, sondern (nur) Geburt; das auch ist nicht richtig. Oder, auch (nicht)2 abhängig von Geburt ist Alter (und) Tod. Wenn vorher Alter (und) Tod, nachher Geburt, dann ist Alter (und) Tod grundlos, da Geburt später ist. Auch ohne Geburt: wie sind Alter (und) Tod (möglich)? Wenn man sagt: »Geburt, Alter (und) Tod sind früher (und) später nicht erreichbar3, (sondern) zu einer Zeit (d.h. gleichzeitig) werden sie erreicht«, so ist das auch fehlerhaft. Weshalb?

Geburt kann mit Alter (und) Tod nicht gleichzeitig zusammen sein. Zu der Zeit der Geburt wäre dann Tod, diese beiden wären grundlos. (XI. 5.)

Wenn Geburt und Alter (und) Tod zu einer Zeit sind, so ist das nicht richtig. Weshalb? Weil zur Zeit der Geburt dann der Tod wäre. Ein dharma soll in der Zeit des Entstehens sein, in der Zeit des Todes nicht sein. Wenn in der Zeit der Geburt Tod ist, so ist diese Sache nicht richtig. Wenn zu einer Zeit (gleichzeitig) Entstehen, dann ist nicht gegenseitige Abhängigkeit. Wie, (wenn) Rinderhörner zu einer Zeit (gleichzeitig) hervorgehen, dann nicht gegenseitige Abhängigkeit ist. Deshalb:

Wenn man Anfang (und) Ende (eig. »später«) annimmt, so sind alle beide nicht richtig: weshalb doch Gerede (prapañcana) machen (und) sagen: »Es ist Alter (und) Tod.« (XI. 6.)

Da, (wenn) genau überlegt, Geburt, Alter, Tod, alle drei ausnahmslos fehlerhaft sind, dann sind sie unentstanden, völlig leer. Aber weshalb jetzt, gierig haftend am Reden (prapañcana)[74] über Geburt, Alter, Tod, sagt man: »Sie sind wahrhaftig wesenhaft«? Ferner:

Alles, was Ursache (und) Folge, Eigenschaft (lakṣaṇa) und Zu-Vereigenschaftendes (lakṣya), Wahrnehmen (vedanā) (und) Wahrnehmer (veda ka) ist, alle dharmas, die es gibt: (XI. 7.)

nicht nur bei Geburt (und) Tod ist Anfang (und) Ende nicht erreichbar: so ist auch aller dharmas Anfang (und) Ende nicht. (XI. 8.)

Alle dharmas, nämlich Ursache (und) Folge, Eigenschaft (und) Zu-Vereigenschaftendes, Wahrnehmen und Wahrnehmer usw. sind ausnahmslos ohne Anfang und Ende. Nicht nur Geburt und Tod sind ohne Anfang (und) Ende. Um abgekürzt zu erklären, lehrt man: »saṃsāra hat nicht Anfang (und) Ende.«

1

Vgl. Saṃyutta-nikāya, chin. Übers., TE. XIII. 2. 56 b.

2

»nicht« ist Zusatz der TE.

3

Nach KE.

Quelle:
Die mittlere Lehre des Nāgārjuna. Heidelberg 1912, S. 72-75.
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