Fünfter Abschnitt.
Die sechs Elemente.

[27] Frage: Die sechs Elemente (dhātu) haben jedes bestimmte Eigenschaften (lakṣaṇa). Da sie bestimmte Eigenschaften haben, deshalb sind die sechs Elemente.

Antwort:

Wenn die Raum-Eigenschaft (ākāśa-lakṣaṇa) noch nicht ist, dann ist nicht das Raum-Objekt (ākāśa- dharma). Wenn der Raum vorher (d.h. vor seiner Eigenschaft) ist, dann ist er ohne Eigenschaft. (V. 1.)

Wenn noch nicht die Raum-Eigenschaft ist, und vorher das Raum-Objekt ist, so ist der Raum ohne Eigenschaft. Weshalb? Was ohne rūpa ist, heißt Raum-Eigenschaft, rūpa (Erscheinung) ist ein wirkender dharma (und) nicht ewig. Wenn rūpa noch nicht entstanden ist, so ist das noch-nicht-entstandene ohne Vernichtung. Zu solcher Zeit ist nicht Raum-Eigenschaft. Durch (d.h. mit Bezug auf) Erscheinung (rūpa) gibt es Erscheinungloses. Etwas Erscheinungloses heißt Raum-Eigenschaft.

Frage: Wenn ohne Eigenschaft der Raum ist, welcher Fehler liegt dann vor?

Antwort:

Dieses eigenschaftslose Objekt (dharma) ist nirgends. In einem eigenschaftslosen Objekt wäre eben die Eigenschaft nicht Eigenschaft. (V. 2.)

Wenn in einem ewigen (oder) nicht-ewigen Objekt (dharma) Eigenschaftslosigkeit gesucht wird, so ist sie nicht zu erreichen. Wie der śāstra-Anhänger sagt: »Dieses ist, dieses ist nicht.« Wie erkennt man, daß jedes Eigenschaft hat? Daher sind Entstehen, Stehen, Vergehen Eigenschaften des Gewirkten (saṃskṛta). Was ohne Entstehen, Stehen, Vergehen ist, das ist Eigenschaft des Nicht-Gewirkten (asaṃskṛta). Wenn Raum ohne Eigenschaft ist, dann ist er nicht Raum. Wenn (jemand) sagt: »Vorher ist[28] keine Eigenschaft, spätere Eigenschaften bewirken Eigenschaft«, so ist das auch nicht richtig. Wenn vorher keine Eigenschaft (lakṣaṇa) ist, dann ist kein zu vereigenschaftendes (lakṣya) Objekt (dharma). Weshalb?

In dem Vereigenschafteten (salakṣaṇa), in dem Nicht-Vereigenschafteten (alakṣaṇa) kann die Eigenschaft nicht stehen; getrennt vom Vereigenschafteten und Nicht-Vereigenschafteten, anderswo auch steht sie nicht. (V. 3.)

Wie z.B.: mit Höcker, mit Horn versehen sein, an der Spitze des Schwanzes sind Haare, unter dem Hals hängt eine Wampe: das heißen die Eigenschaften (lakṣaṇa) eines Rindes. (Wenn)1 ohne diese Eigenschaften ist es kein Rind. Wenn kein Rind da ist, so können diese Eigenschaften nirgends ruhen (eig. »stehen«). Deshalb wird gelehrt: »Bei eigenschaftslosen Objekten (dharma) können Eigenschaften nicht Eigenschaften sein.« Bei eigenschaftbehafteten auch ruhen sie nicht, da sie schon vorher mit den Eigenschaften sind. Wie in der Eigenschaft des Wassers die Eigenschaft des Feuers nicht ruht, da es vorher schon eigene Eigenschaft hat. Ferner: Wenn in dem Eigenschaftslosen die Eigenschaft ruht, so hat es keinen Grund: das Grundlose heißt (aber) Nicht-Objekt (adharma).2 Aber es ist Eigenschaft-Eigenschaft (sic!) (und) zu Vereigenschaftendes (lakṣya). Da immer die Eigenschaft (gegenseitig) abhängig ist, so ist außer dem mit Eigenschaft behafteten und eigenschaftslosen (dharma)3 kein drittes zu vereigenschaftendes (lakṣya). Deshalb wird im śloka gelehrt: »Getrennt vom Vereigenschafteten und Nicht-Vereigenschafteten, anderswo auch steht sie nicht.« Ferner:

Da die Vereigenschaftung nicht ist, so ist auch das zu vereigenschaftende Objekt nicht; da das zu vereigenschaftende (lakṣya) Objekt (dharma) nicht ist, ist auch nicht die Vereigenschaftung. (V. 4.)

Da die Eigenschaft nirgends ruht, so ist nicht der zu vereigenschaftende dharma. Da der zu vereigenschaftende dharma nicht ist, ist auch die Vereigenschaftung nicht. Weshalb? Abhängig von der Eigenschaft ist das zu Vereigenschaftende. Durch[29] das zu Vereigenschaftende ist Eigenschaft. Da beide gegenseitig abhängig sind.

Deshalb ist jetzt nicht die Eigenschaft, auch ist nicht das zu Vereigenschaftende; getrennt von Eigenschaft und zu Vereigenschaftendem: wahrlich außerdem ist auch kein Ding. (V. 5.)

In den Bedingungen zu Anfang und Ende gesucht ist Eigenschaft und zu Vereigenschaftendes in Wahrheit nicht zu erreichen. Da diese zwei nicht erreichbar sind, sind alle dharmas ausnahmslos nicht; alle dharmas ausnahmslos sind in den zwei dharmas Eigenschaft und zu Vereigenschaftendem inbegriffen. Einige Eigenschaften nennt man zu vereigenschaftend, und einiges zu Vereigenschaftende nennt man Eigenschaft, wie das Feuer durch den Rauch Eigenschaft ist, der Rauch ferner auch [durch Feuer]4 Eigenschaft ist (eig. »macht«).

Frage: Wenn das Sein nicht ist, so ist doch wohl das Nichtsein.

Antwort:

Wenn angenommen wird: »Es ist nicht das Sein«, wie wird das Nichtsein sein? Auch keineswegs seiend (und) nicht-seiend: wer ist der Erkenner des Seins und Nichtseins? (V. 6.)

Gewöhnlich heißen Dinge, wenn sie durch sich selbst vernichtet werden oder durch andere vernichtet werden: »Nichtsein«. Nichtsein ist nicht-(von-)selbst-sein; durch Sein ist Sein. Deshalb sagt (er): »Wenn angenommen wird: ›Es ist nicht das Sein‹, wie wird das Nichtsein sein?« Auge, Ohr, Sehen und Hören sind schon nicht erreichbar, um wieviel mehr die nicht-seienden Dinge?

Frage: Da das Sein nicht ist, ist auch das Nichtsein nicht, so wird doch der sein, welcher Sein und Nichtsein erkennt.

Antwort: Wenn der Erkennende ist, so müßte er sein im Sein oder im Nichtsein. Sein und Nichtsein sind schon widerlegt, der Erkennende5 auch ist zugleich widerlegt.

Deshalb erkennt (man) den ākāśa nicht als seiend, auch nicht als nichtseiend; nicht als Eigenschaft, nicht[30] als vereigenschaftet. Die übrigen fünf (dhātus) sind dem ākāśa gleich. (V. 7.)

Wie des ākāśa auf verschiedene Weise gesuchte Eigenschaften nicht erreichbar sind, so auch die (der) übrigen fünf dhātus.

Frage: Der ākāśa ist nicht am Anfang, nicht ist er am Ende. Weshalb wird er zuerst (eig. »vorher«) widerlegt?

Antwort: Erde, Wasser, Feuer, Luft (vāyu) werden wegen der Bedingungen (pratyaya) Zusammensein leicht widerlegt; das Bewußtsein (vijñāna), weil Leid und Lust pratyayas sind6, erkennt man als nicht ewig (und) veränderlich. Deshalb werden sie leicht widerlegt. ākāśa hat nicht solche Eigenschaft. Nur gewöhnlicher Leute Vorstellung bewirkt (dessen) Sein. Daher wird er zuerst widerlegt. Ferner: der ākāśa kann die vier großen Gewordenen (mahābhūtāni) umfassen. Durch der vier großen Gewordenen Bedingung (pratyaya) ist vijñāna. Deshalb widerlegt man zunächst den ersten Ursprung, die übrigen sind von selbst widerlegt.

Frage: Die Leute in der Welt sehen durchaus die dharmas: »Das ist, das ist nicht.« Wieso seid ihr allein mit der Weltansicht in Widerspruch (und) sagt: »Was man sieht, ist nicht«?

Antwort:

Oberflächlich-Verständige sehen die dharmas entweder (als) seiend oder nicht-seiend vereigenschaftet; diese können dann den ruhig-stillen Zustand der Vernichtung der (falschen) Ansicht (dṛṣtyupaśama) nicht wahrnehmen. (V. 8.)

Wenn ein Mann den Pfad (d.h. der Lehre) noch nicht erreicht hat, dann sieht er nicht der dharmas tatsächliche Eigenschaft. Infolge von Begierde und (falscher) Ansicht führt er verschiedentlich törichtes Gerede (prapañcana) herbei. Der dharmas Entstehen sehend sagt er »Sein«. Er nimmt Eigenschaft (lakṣaṇa) an und sagt: »Sein«. Wenn er die dharmas vernichtet sieht, so sagt man »Abschneiden« (uccheda). Er nimmt Eigenschaft (lakṣaṇa) an und sagt: »Nichtsein«. Der Kenner, wenn er der dharmas Entstehen sieht, [dann] vernichtet [er] die Anschauung (dṛṣṭi) des Nichtseins. Wenn er der dharmas Vernichtung sieht,[31] dann vernichtet er die Anschauung des Seins. Obwohl daher bei allen dharmas (etwas) gesehen wird, ist alles wie eine Täuschung, ein Traum. (Alle Ansichten) bis zur Ansicht des ausflußlosen Pfades (anāsrava-mārga-darśana) werden vernichtet, um so mehr die übrigen dṛṣṭis (falschen Anschauungen). Deshalb, wenn man nicht Vernichtung der Ansichten, (d.h.) den sicheren und ruhigen Zustand (dharma) sieht, dann sieht man entweder das Sein oder das Nichtsein.

1

Zusatz von TE.

2

Bzw. Nicht-Sein (abhāva); vgl. oben p. 11 n. 2.

3

Zusatz von TE.

4

Zusatz von TE.

5

KE.: »das Erkennen«.

6

Nach KE.

Quelle:
Die mittlere Lehre des Nāgārjuna. Heidelberg 1912, S. 27-32.
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