Sechster Abschnitt.
Die Leidenschaft und der Leidenschaftliche.

[32] Frage: In den sūtras wird gelehrt: »Leidenschaft (rāga), Haß (dveṣa), Verblendung (moha): diese sind der Ursprung der Welt.« Leidenschaft (rāga) hat verschiedene Namen. Zuerst heißt sie Verlangen (tṛṣṇā), dann heißt sie Haften (grāha), dann heißt sie Leidenschaft (rāga), dann heißt sie Lust, dann heißt sie Gier: solche Namen sind es. Diese sind Bande verursachend, abhängig von den lebenden Wesen (sattva). Die sattvas heißen leidenschaftlich (rakta). Die Begierde und Lust heißt Leidenschaft. Mit Leidenschaft behaftet (heißt) »leidenschaftlich«. Daher dann ist Begierde und Lust. Die übrigen zwei (sind) auch so: wenn Haß (dveṣa) ist, ist der Haßerfüllte (dviṣṭa); wenn Verblendung (moha) ist, dann ist der Verblendete (mūḍha), Durch die Bedingung dieser drei Gifte (viṣa) entstehen die drei Handlungen (karman); durch die Bedingung dieser drei Handlungen entstehen die drei Welten (dhātu). Deshalb sind alle Dinge (dharma).

Antwort: Obwohl in den sūtras der drei Gifte Namen gelehrt werden, so sind sie, wenn gesucht, tatsächlich nicht zu erreichen. Weshalb?

Wenn ohne Leidenschaft vorher (von) selbst der Leidenschaftliche ist, so würde durch diesen Leidenschaftlichen die Leidenschaft entstehen. (VI. 1.)

Wenn der Leidenschaftliche1 nicht ist, wie wird Leidenschaft sein? Ebenso ist es mit dem Leidenschaftlichen, wenn die Leidenschaft ist oder nicht ist. (VI. 2.)

Wenn vorher (schon) bestimmt der Leidenschaftliche ist, dann ist nicht außerdem Leidenschaft nötig, da der Leidenschaftliche vorher schon mit Leidenschaft ist. Wenn der Leidenschaftliche[33] vorher bestimmt nicht ist, auch dann könnte Leidenschaft nicht entstehen. Es ist nötig, daß der Leidenschaftliche vorher ist, dann kann Leidenschaft später entstehen. Wenn vorher der Leidenschaftliche nicht ist, dann gibt es kein Wahrnehmen eines Leidenschaftlichen. Ebenso verhält es sich mit der Leidenschaft. Wenn vorher von dem Menschen getrennt wirklich Leidenschaft ist, ist diese eben ohne Grund; wie kann sie entstehen? gleich wie ein Feuer ohne Brennstoff. Wenn vorher in Wahrheit Leidenschaft nicht ist, dann gibt es keinen Leidenschaftlichen.2 Deshalb wird in dem śloka gelehrt: »Ebenso ist es mit dem Leidenschaftlichen, wenn die Leidenschaft ist oder nicht ist.«

Frage: Wenn Leidenschaft (und) Leidenschaftlicher vorher (und) nachher gegenseitig abhängig entstehen (sollen), so ist diese Sache nicht möglich.3 Wenn sie zu einer Zeit entstehen, welcher Fehler ist dann?

Antwort:

(Wenn) der Leidenschaftliche und die Leidenschaft gleichzeitig erreicht werden, so ist das nicht richtig. Wenn der Leidenschaftliche und die Leidenschaft zusammen sind, dann ist nicht gegenseitige Abhängigkeit. (VI. 3.)

Wenn Leidenschaft und der Leidenschaftliche zu einer Zeit erreicht werden, dann ist nicht gegenseitige Abhängigkeit: nicht durch den Leidenschaftlichen ist Leidenschaft, nicht durch Leidenschaft ist der Leidenschaftliche. Diese zwei wären ewig, weil sie [schon]4 grundlos erreicht werden. Wenn ewig, dann (sind) viele Fehler: es gibt keine Erlösung. Ferner wird er jetzt von einem oder verschiedenen dharmas aus Leidenschaft und den Leidenschaftlichen widerlegen. (Weshalb?5)

Der Leidenschaftliche und Leidenschaft (sind) eines: wie kann ein dharma »zusammen« sein? Der Leidenschaftliche und Leidenschaft sind verschieden: wie wären verschiedene dharmas zusammen? (VI. 4.)[34]

Leidenschaft und der Leidenschaftliche sind entweder (durch)6 einen dharma zusammen, oder sie sind durch verschiedene dharmas zusammen. Wenn einer, dann sind sie nicht zusammen. Weshalb? Wie sollte ein dharma an sich selbst zusammen sein? (Ebensowenig) wie eine Fingerspitze nicht sich selbst berühren kann. Wenn durch verschiedene dharmas zusammen – so ist das auch nicht möglich. Weshalb? Weil es durch Verschiedenes erreicht würde. Wenn jedes einzelne schon erreicht ist, so ist es doch nicht nötig, nochmals zu verbinden? Obschon verbunden, ist es doch verschieden. Ferner: eines (und) verschieden – beides ist nicht möglich. Weshalb?

Wenn Eines zusammen ist, ohne Genossen (sahāya) wäre es zusammen. Wenn Verschiedenes zusammen ist, ohne Genossen auch wäre es zusammen. (VI. 5.)

Wenn Leidenschaft und der Leidenschaftliche eines sind, so heißt dies auf gezwungene Weise »zusammen«; es wären ohne die übrigen Bedingungen (pratyaya) Leidenschaft und der Leidenschaftliche. Ferner: Wenn eines, so hätte es auch nicht die zwei Bezeichnungen »Leidenschaft« und »leidenschaftlich«. Leidenschaft – das ist der Zustand (dharma), »leidenschaftlich« – das ist der Mensch. Wenn Mensch (und) Zustand (dharma) eines sind, so ist das eine große Verwirrung. Wenn Leidenschaft und der Leidenschaftliche jedes verschieden ist (und man) trotzdem sagt: »zusammen«, dann sind die übrigen Bedingungen nicht nötig, (und) sie sind doch zusammen. Wenn verschieden, so ist es doch zusammen; obwohl entfernt, wäre es doch zusammen.

Frage: Eines ist nicht (als) zusammen möglich. Augenscheinlich sind verschiedene dharmas (Zustände) zusammen verbunden.

Antwort:

Wenn Leidenschaft und der Leidenschaftliche verschieden und doch zusammen – was ist der Sinn? Diese zwei Zustände (eig. »Eigenschaften«) sind vorher verschieden, dann nachher lehrt (man) ihr Zusammensein. (VI. 6.)

Wenn Leidenschaft und der Leidenschaftliche vorher wahrhaftig verschieden sind, aber später zusammen, dann sind diese nicht zusammen. Weshalb? Diese zwei Zustände (eig. »Eigenschaften«)[35] sind vorher schon getrennt, aber nachher werden sie künstlich (gezwungen) bezeichnet als zusammen. Ferner:

Wenn Leidenschaft und der Leidenschaftliche vorher schon jedes als verschieden beschaffen erreicht wird, dann ist die Verschiedenheit schon vollständig erreicht. Wieso sagt man dann »zusammen«? (VI. 7.)

Wenn Leidenschaft und der Leidenschaftliche vorher jedes (für sich) Besonderssein erreicht, wieso lehrt ihr jetzt nachdrücklich (eig. »gezwungen«) Zusammensein? Ferner:

Verschiedensein wird nicht erreicht, deshalb wünscht ihr Zusammensein. Zusammensein wird keineswegs erreicht, dann ferner lehrt ihr Verschiedensein. (VI. 8.)

Da ihr bei Leidenschaft und Leidenschaftlichem eine Verschiedenheit nicht erreicht, so lehrt ihr des weiteren Zusammensein. Im Zusammensein ist der Fehler: Leidenschaft und der Leidenschaftliche werden nicht erreicht. Da ihr das Zusammensein erreicht, lehrt ihr ferner das Verschiedensein. Ihr selbst schon seid bestimmt, aber was ihr lehrt, ist unbestimmt. Weshalb?

Da Verschiedensein nicht erreicht wird, wird Zusammensein eben nicht erreicht. In welchem Verschiedensein wünschest du denn das Zusammensein zu lehren? (VI. 9.)

Da hier Verschiedenheit von Leidenschaft und Leidenschaftlichem nicht erreicht wird, wird auch Zusammensein nicht erreicht. In welchem Verschiedenen denn wünschest du Zusammensein? Ferner:

So werden Leidenschaft und Leidenschaftlicher weder zusammen noch nicht zusammen erreicht. Die dharmas auch werden so weder zusammen noch nicht zusammen erreicht. (VI. 10.)

Wie Leidenschaft, so sind auch Haß (dveṣa) und Verblendung (moha). Wie die drei Gifte (viṣa), sind alle Qualen (kleśa); alle dharmas sind auch so, nicht vorher, nicht nachher, nicht zusammen, nicht vereinzelt usw.: (alles,) was durch Bedingungen erreicht wird.

1

KE.: »Leidenschaft«.

2

KE.: »Wenn ... der Zustand (dharma) nicht ist, dann ist der Zustand ohne Leidenschaftlichen«.

3

TE.: »nicht zu erreichen«.

4

Zusatz von TE.

5

Zusatz von TE.

6

Konjektur der TE.

Quelle:
Die mittlere Lehre des Nāgārjuna. Heidelberg 1912, S. 32-36.
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