Vierter Abschnitt.
Die fünf Gruppen.

[22] Frage: In den sūtras wird gelehrt: »Es sind die fünf Gruppen (skandha).« Wie verhält sich diese Sache?

Antwort:

Wenn ohne rūpa (visuelle Erscheinung)-Ursache, dann ist rūpa nicht zu erreichen. Wenn sie ohne rūpa sein soll, ist die rūpa-Ursache nicht zu erreichen. (IV. 1.)

rūpa (visuelle Erscheinung) verhält sich zur Ursache, wie Tuch zu den Fäden. Außerhalb der Fäden ist eben kein Tuch, außerhalb des Tuches sind eben keine Fäden. Das Tuch ist wie die visuelle Erscheinung (rūpa), die Fäden sind wie die Ursache (kāraṇa).

Frage: Wenn ohne rūpa-Ursache rūpa ist, welcher Fehler ist dann?

Antwort:

Ohne rūpa-Ursache ist rūpa: dann ist eben dieses rūpa ohne Ursache. Ohne Ursache aber ist rūpa1: diese Sache ist eben nicht richtig. (IV. 2.)

Wie, (wenn) das Tuch ohne Fäden (ist), das Tuch dann ohne Ursache ist. (Wenn) aber die Objekte (dharma) ohne Ursache (sind), so ist in der Welt (überhaupt) nichts seiend.

Frage: In Buddhas Lehre (dharma), in der Lehre der außenstehenden Philosophen (tīrthika), in der Lehre der gewöhnlichen Anschauung: überall sind Objekte (dharma) ohne Grund. Die Buddhalehre hat drei(erlei) Nicht-Gewirktes (asaṃskṛta). Da das Nicht-Gewirkte ewig ist, ist es ohne Ursache. In der Lehre der tīrthikas (sind es) der Raum (ākāśa), die Zeit (kāla), die (Himmels-) Richtung (diś), [das Bewußtsein (vijñāna)]2, die Atome, das nirvāṇa[23] usw. In der Lehre der gewöhnlichen Anschauung (lokavyavahāra) (sind es) der Raum, die Zeit, die Richtung [usw.]: diese drei dharmas sind nirgends nicht-seiend; daher heißen sie »ewig«. Weil ewig, sind sie ohne Grund. Wie lehrt ihr da: »Ursachlose Objekte (dharma) sind in der Welt nicht vorhanden«?

Antwort: Diese ursachlosen dharmas sind nur ein Wort, eine Bezeichnung. Wenn überlegt (und) unterschieden, dann sind sie eben ausnahmslos nicht. Wenn die dharmas durch Ursachen (und) Bedingungen sind, so kann nicht gesagt werden: »(Sie sind) ursachlos.« Wenn sie ohne Ursachen (und) Bedingungen sind, so ist es, wie ich (es) lehre.

Frage: Es sind zwei Arten von Ursachen: die eine ist die bewirkende Ursache, die andere Benennungsursache. Diese (hier in Betracht kommenden) ursachlosen dharmas haben nicht bewirkende Ursache, sondern nur Benennungsursache, weil sie einen Mann veranlassen, (sie) zu erkennen.

Antwort: Wenn es auch nur Benennungsursache ist, so ist diese Sache (doch) nicht richtig. Wie der ākāśa (leere Raum) in (dem Abschnitt über die) sechs Elemente (dhātu)3 widerlegt wird, so werden die übrigen Sachen später widerlegt werden. Ferner: Die sichtbaren Dinge sind wohl schon ausnahmslos zu widerlegen, um so mehr die unsichtbaren Objekte (dharma) wie Atome usw. Deshalb wird gelehrt: Ursachlose Objekte (dharma) sind in der Welt nicht vorhanden.

Frage: Wenn ohne rūpa die rūpa-Ursache ist, welcher Fehler ist (dann)?

Antwort:

Wenn die Ursache ohne rūpa ist, so ist (sie eine) Ursache ohne Wirkung. Wenn man sagt: »Ursache ohne Wirkung«, so ist solches nirgends. (IV. 3.)

Wenn ohne rūpa-Wirkung nur die rūpa-Ursache ist, dann ist dies eine wirkungslose Ursache.

Frage: Wenn die Ursache ohne Wirkung ist, welcher Fehler liegt dann vor?

Antwort: Was ohne Wirkung (und doch) Ursache ist, das gibt es in der Welt nicht. Weshalb? Wegen der Wirkung heißt es »Ursache«. Wenn keine Wirkung ist, wie heißt es (dann)[24] »Ursache«? Ferner: Wenn in der Ursache nicht die Wirkung ist, wie entstehen die Dinge dann nicht durch Nicht-Ursache? Diese Sache wird, wie im Abschnitt über die Bedingungen (pratyaya)4 erklärt, gelehrt. Deshalb ist nicht wirkungslose Ursache. Ferner:

Wenn vorher schon rūpa ist, so braucht man nicht rūpa-Ursache; wenn rūpa nicht ist, braucht man auch nicht rūpa-Ursache. (IV. 4.)

Zweierlei ist rūpa-Ursache: das ist nicht richtig. Wenn vorher (schon) in der Ursache rūpa ist, so heißt es nicht »rūpa-Ursache«; wenn vorher in der Ursache rūpa nicht ist, dann heißt es auch nicht »rūpa-Ursache«.

Frage: Wenn beides nicht zutrifft, (und) nur das ursachlose rūpa ist, welcher Fehler ist (dann)?

Antwort:

»Ohne Ursache ist rūpa«: diese Sache ist keinenfalls richtig; deshalb sollte ein Verständiger rūpa nicht unterscheiden. (IV. 5.)

Wenn es nun kaum zu erreichen ist5, daß in der Ursache die Wirkung ist, (oder) daß in der Ursache nicht die Wirkung ist, dann um so mehr: »Ohne Ursache ist rūpa«. Deshalb, (wenn man) sagt: »Ohne Ursache ist rūpa«, so ist diese Sache keineswegs richtig. Deshalb sollte ein Verständiger rūpa nicht unterscheiden. »Unterscheiden« heißt: gewöhnliche Leute haften durch Nichtwissen (avidyā), Verlangen (ṭṛṣṇā), Lust (kāma), Begierde (rāga) an rūpa. Ferner bringen falsche Lehren Unterscheidungen (und) unsinnige Sprüche (prapañcana) hervor. Sie lehren: »In der Ursache ist die Wirkung«, »(In der Ursache) ist nicht die Wirkung« usw. Jetzt hier gesucht ist rūpa nicht zu erreichen. Deshalb [erkennt man:]6 man sollte (es) nicht unterscheiden. Ferner:

Wenn die Wirkung gleich der Ursache (sein soll), so ist eben diese Sache nicht richtig; wenn die Wirkung nicht gleich der Ursache (sein soll), so ist diese Sache auch nicht richtig. (IV. 6.)

Wenn die Wirkung und die Ursache wesensgleich sind, so ist diese Sache (eben) nicht richtig; da die Ursache fein, die[25] Wirkung grob ist. Ursache, Wirkung, rūpa, Kraft (bala) usw. sind jedes verschieden. Wie (wenn man sagt:) »Das Tuch ist gleich den Fäden« – da heißt es nicht »Tuch«, da Fäden viele, Tuch (aber nur) eines ist. Daher darf man nicht sagen: »Ursache und Wirkung sind wesensgleich.« Wenn man sagt: »Ursache und Wirkung sind nicht wesensgleich«, so ist dies auch nicht richtig. Wie z.B. Hanffäden kein Seidentaffetas ermöglichen, grobe Fäden kein feines Tuch [hervorbringen].7 Daher kann man nicht sagen: »Ursache und Wirkung sind nicht wesensgleich.« Beide Sachen sind nicht richtig; daher ist nicht rūpa, (und) ist nicht rūpa-Ursache.

Empfindungsgruppe (vedanā-skandha) und Begriffsgruppe (sañjñā), Wirkungsgruppe (saṃskāra) und Bewußtseinsgruppe (vijñāna) usw., alle übrigen Zustände (dharma) ausnahmslos sind gleich dem rūpa-skandha. (IV. 7.)

Die vier Gruppen (skandha) und auch alle dharmas sollten so geprüft (und) widerlegt werden.

Da jetzt der Verfasser des Lehrbuchs (śāstra) den Sinn der Leerheit (śūnyatā) zu preisen wünscht, lehrt er diesen śloka:

Wenn jemand einen Fragenden hat (und) ohne Leerheit antworten will, so erreicht dieser nicht die Antwort, beides ist jenem Zweifel gleich. (IV. 8.)

Wenn jemand eine schwierige Frage hat und ohne Leerheit dessen Fehler lehrt, der erreicht nicht die schwere Frage, alles zusammen ist in jenem Zweifel. (IV. 9.)

Wenn jemand diskutiert, so hat jeder ein Festhalten (an seiner Ansicht). (Wenn) ohne (Verständnis des) Sinn(es) der Leerheit Frager und Beantworter sind, so erreichen alle (beide) nicht Frage und Antwort. Beide auch sind dem Zweifel gleich. Wie wenn jemand sagt: »Der Krug ist nicht ewig«. Der Fragende sagt: »Warum ist er nicht ewig?« Man antwortet: »Weil er durch nicht-ewigen Grund entsteht.« Das ist keine Antwort. Weshalb? Bei den Bedingungen (pratyaya) auch hat er Zweifel, (und) weiß nicht, ob (das) ewig oder nicht-ewig (ist). Das heißt, (es ist) gleich jenem Bezweifelten.[26]

Wenn der Fragende dessen Fehler zu lehren wünscht, nicht sich auf das Leere stützend, (und) lehrt: »Die Dinge sind nichtewig«, so heißt das nicht Widerlegung der Frage. Weshalb? Ihr widerlegt durch das »nicht-ewig« mein »ewig«, ich auch widerlege durch »ewig« euer »nicht-ewig«. Wenn tatsächlich das »nicht-ewig« ist, dann ist nicht Vergeltung der Handlungen (karman). Auge, Leib und derartige Objekte (dharma) werden jeden Augenblick vernichtet. Auch ist nicht Unterscheidung (vikalpa). Derartige Fehler liegen vor. Ausnahmslos erreichen sie nicht die Widerlegung der Frage, (und was sie sagen) ist gleich jenem, was bezweifelt wird. Wenn er (aber) sich auf das Leere stützend das Ewige widerlegt, dann gibt es nicht Fehler. Weshalb? Dieser Mann haftet nicht, wegen der Eigenschaft der Leerheit (śūnyatā-lakṣaṇa). Deshalb, wenn er eine Frage zu beantworten wünscht, so wäre er immer8 unterstützt durch die Leerheit. Um so mehr wünscht er den leidlosen nirvāṇa-Zustand zu suchen.

1

TE.: »dharma«.

2

Nach den alten Ausgaben »ātman« (Seele).

3

Abschnitt.

4

1. Abschnitt.

5

KE.: »möglich ist«.

6

Zusatz von TE.

7

Zusatz von TE.

8

TE.: »schon«.

Quelle:
Die mittlere Lehre des Nāgārjuna. Heidelberg 1912, S. 22-27.
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