2. Protagoras.

[10] Dieser erste größere Dialog PLATOS baut sich fast ganz aus den Gedankenmotiven auf, die wir in der Apologie als die Grundmotive der Sokratik kennen gelernt haben. PLATOS Interesse ist in dieser Zeit ganz besonders gerichtet auf den Begriff der wesentlich sittlich verstandenen Lehre oder Erziehung.

Der Grund liegt nicht fern. Als berufener Nachfolger des SOKRATES trat er auf; es galt, sich und anderen Rechenschaft zu geben von der Absicht seines Wirkens. Diese Absicht war unzweifelhaft eine erzieherische; so konnte er gerade im Beginn seiner Wirksamkeit der Frage nicht aus dem Wege gehen: wie steht es denn angesichts der sokratischen Warnungen mit[10] diesem ganzen Anspruch der Menschenbildung, der Erziehung? Genau mit diesem Anspruch waren eine Generation früher zu Athen und allerwärts in der griechischen Welt die »Sophisten« aufgetreten. Ihr aufklärerisches Treiben hatte schweren Anstoß, ja Haß und Verfolgung erregt; ihnen wurde das Unglück Griechenlands und besonders Athens aufs Schuldkonto geschrieben. Und man hatte SOKRATES ihnen gleichgerechnet, man hatte ihn, als Erzsophisten, büßen lassen, was in den Augen der guten Patrioten diese ganze Sippe verschuldete. Darum hatte PLATO schon in der Apologie den stärksten Anlaß, der Verwechselung des SOKRATES mit den Sophisten entgegenzutreten (19 ff). Jetzt aber galt es sein eigenes Wirken, welches ja das des SOKRATES unmittelbar fortsetzen wollte, nach derselben Seite zu sichern. Und bei der fortdauernd erbitterten Stimmung gegen die Bildungsmeister und Bildungskrämer – diesen verächtlichen Nebensinn hat das Wort »Sophist«, das an sich nur die Berufsklasse bedeutet, gerade aus dieser Zeitstimmung erhalten, so z.B. Prot. 313 CD – mußte dies sein erstes Anliegen sein, wollte er sich überhaupt ein Wirken in Athen, wenn auch nicht unmittelbar nach dem Tode des SOKRATES, (wie es in der Apologie noch seine Absicht ist, 39 C,) doch, wie wir annehmen dürfen, nur kurze Zeit nachher, ermöglichen.

Aber vor allem unter rein sachlichem Gesichtspunkt mußte ein Nachfolger des SOKRATES in der Lehrbarkeit der Tugend ein schweres Problem erkennen. SOKRATES hatte behauptet, Tugend sei Erkenntnis; also sollte sie freilich auch lehrbar sein. Allein derselbe SOKRATES hatte, nach dem unzweideutigen Zeugnis PLATOS in der Apologie, ihre Lehrbarkeit bestimmt verneint. Nicht nur die Sophisten und SOKRATES selbst sind nicht im Besitze der Wissenschaft der Menschenerziehung, sondern sie geht, nach seiner schroffen und deutlichen Erklärung, überhaupt über Menschenwitz hinaus (Apol. 19D, 20D). In voller Übereinstimmung damit erklärt SOKRATES im Protagoras (319 in.): bis dahin, d.h. vor der Belehrung, die er soeben durch – PROTAGORAS erhalten, habe er nicht geglaubt, daß Tugend lehrbar sei oder Menschen durch Menschen beigebracht werden könne; oder (328 E) es sei nicht menschliches Bemühen, wodurch die Tüchtigen tüchtig werden. Dagegen verficht das Haupt der Sophisten, PROTAGORAS, im Einvernehmen mit seinen Genossen und unter dem tosenden Beifall der Zuhörer, die These der Lehrbarkeit, und zwar aus keiner anderen Anschauung als die in der Apologie,[11] ganz naiv, der Ankläger des SOKRATES, MELETUS, vertritt (Apol. 24 D – 26 A): Alle helfen zur Tugendlehre mit, die Gesetze, die Richter, das ganze Volk; nur darum will sich nicht ein Einzelner als Sachverständiger dafür angeben lassen, weil alle es sind (dagegen der eine Sachverständige: Krito 47 BD, 48 A, Prot. 314 A u. ö.). Und wiederum im Meno führt PLATO, sichtlich in Verteidigung des im Protagoras von ihm Behaupteten, aus: SOKRATES habe (nämlich im Protagoras) keineswegs PERIKLES und den übrigen Staatslenkern einen Schimpf anheften, sondern nur an ihrem Beispiel beweisen wollen, daß Tugend überhaupt nicht lehrbar, daß sie nicht etwas sei, das ein Mensch dem andern mitteilen, oder einer vom andern empfangen könne (Men. 93 B, ganz wie Prot. 319 B). Der Bestreitende aber ist diesmal der andere Ankläger des SOKRATES, ANYTUS. Auch er ist der Meinung: überhaupt jeder anständige Athener macht einen besser; was braucht man nach dem Einen zu fragen, der es versteht, da alle es verstehen! Angesichts dieser klaren Übereinstimmung dessen, was SOKRATES, und andrerseits, was seine Gegner in den drei zusammengehörigen, sich genau auf einander beziehenden Schriften Apologie, Protagoras und Meno behaupten, ist es eine bare Unmöglichkeit, die These des SOKRATES im Protagoras: Tugend sei nicht lehrbar, für seine gewohnte »Ironie« zu erklären, und anzunehmen, SOKRATES wolle in der Tat nur sagen: die Sophisten sind keine Tugendlehrer, die athenischen Staatsmänner, die braven Patrioten sind es nicht, aber überhaupt ist Tugend lehrbar, und es gibt wenigstens einen Lehrer in ihr: SOKRATES.

Nicht minder fest aber bleibt der andere Hauptsatz der Sokratik: Tugend ist Erkenntnis. Dieser nämlich bildet den Kern der andern These, die SOKRATES gegen PROTAGORAS durchficht: von der Einheit der Tugend. Erkenntnis erweist sich zuletzt als der Einheitspunkt, in dem alle sogenannten Tugenden schließlich zusammenlaufen. Es gibt zuletzt keine Tugend als Erkenntnis. Es ist aber sehr zu beachten, wie die beiden Themata: die Lehrbarkeit und die Einheit der Tugend, durch den ganzen Dialog hindurch zu einander in Beziehung gesetzt werden. Sie treten erst scheinbar zusammenhanglos auf. Die Frage der Lehrbarkeit, auf die schon in der breit angelegten Einleitung sich alles zuspitzte, wird dann plötzlich ganz bei Seite gestellt, als sei sie durch den für alle Anwesenden und – bis auf ein kleines – selbst für SOKRATES überzeugenden Vortrag des[12] Sophisten erledigt; und die Erörterung wendet sich nun ausschließlich der andern Frage, nach der Einheit der Tugenden, zu, die, wie gesagt, auf die Identität der Tugend mit der Erkenntnis zielt. Erst ganz zum Schluß tritt die erste Frage und tritt nun auch der bisher bloß zu erratende logische Zusammenhang beider offen hervor, indem als das lächerliche Ergebnis der ganzen Verhandlung festgestellt wird: SOKRATES wollte behaupten, Tugend sei nicht lehrbar, und doch suchte er auf alle Weise gegen PROTAGORAS durchzusetzen, daß sie Erkenntnis sei, in welchem Falle sie doch notwendig lehrbar sei; PROTAGORAS, der ihre Lehrbarkeit voraussetzte, schien im Gegenteil alles aufzubieten, sie als alles eher denn Erkentnis erscheinen zu lassen, in welchem Falle sie doch sicher nicht lehrbar wäre (361 A – C). Und nach der Herausstellung dieses seltsamen Doppelwiderspruchs, auf Seiten des SOKRATES wie seines Gegners, läßt PLATO seine Leser stehen und überläßt ihnen, des Rätsels Lösung zu finden.

Die Interpreten meinen sie gefunden zu haben. SOKRATES erkläre doch hier ganz deutlich, wenn Tugend Erkenntnis sei. so sei sie notwendig lehrbar; er habe ja aber siegreich verfochten, daß sie Erkenntnis sei. Also habe er uns nur zum besten gehabt, wenn er zu Anfang gegen ihre Lehrbarkeit noch Zweifel zu hegen vorgab. Allein diese Deutung hat sich uns schon unhaltbar erwiesen angesichts der Apologie, des Meno und auch des Protagoras selbst. Es hilft kein Sträuben, beide Thesen gehören dem SOKRATES: Tugend ist Erkenntnis, und dennoch ist sie nicht lehrbar. Beide stehen ja ebenso in der Apologie. Aber mit einem Unterschied: der Kontrast zwischen beiden Motiven ist auch dort fühlbar vorhanden, aber er ist nicht ausdrücklich hervorgekehrt; der Protagoras legt den Finger darauf und bringt daran – das Problematische der Sokratik selbst zum Bewußtsein. Die Antithese dieser beiden Leitmotive der Sokratik wird daher mit gutem Grunde als das eigentliche Ergebnis der ganzen verwickelten Erörterung zum Schluß herausgestellt. Den Konflikt dadurch wegbringen, daß man die These der Nichtlehrbarkeit als Ironie deutet, heißt dem Dialog das Rückgrat ausbrechen. Dieser Konflikt war gegeben durch den Bestand der sokratischen Philosophie, wie wenigstens PLATO, nach dem hierüber ganz einhelligen Zeugnis der genannten drei Schriften, sie aufgefaßt hat. Aber eben damit wird nun für PLATO die sokratische Philosophie selbst zum Problem. Wie konnte doch SOKRATES es[13] meinen, daß Tugend Erkenntnis und daß sie gleichwohl nicht lehrbar sei? An dem Gegensatz der sophistischen Tugendlehre wurde es ihm klar. Was SOKRATES suchte, war eine Einsicht, ein Verstehen, aus dem Quell des Selbstbewußtseins zu schöpfen; was die Sophisten wollten, vielleicht auch leisteten, war ein äußeres Beibringen nicht von Erkenntnis, sondern von geltenden Meinungen über die Sache. Und dem entsprach, daß Erkenntnis für sie überhaupt nicht das letzte, in sich genügende Ziel, nicht die alles beherrschende Kraft der Seele war, die keiner andern sich beugen, oder zum dienenden Mittel herabgesetzt werden darf, um andre Güter oder Annehmlichkeiten bloß sich verschaffen zu helfen; sondern das »Leben« und seine Annehmlichkeiten und sehr relativen Nützlichkeiten war alles, was sie im Sinne hatten, und Erkenntnis oder was sie dafür ausgaben, sollte nur als Mittel dienen, um solche sich zu verschaffen; während SOKRATES mit äußerster Entschiedenheit die Selbstgenügsamkeit und das Herrscherrecht der Erkenntnis behauptete. Noch tiefer führte die Ergründung des sokratischen Satzes von der Einheit der Tugenden. So wie er durch PLATOS dialektische Behandlung sich erschließt, birgt er in sich die Entgegensetzung des einen, identischen, mithin absoluten Guten, welches SOKRATES vor Augen stand als seelische Tüchtigkeit, als Besinnung, Begriff, Erkenntnis, als die Einheit des praktischen Bewußtseins, gegen die vielgestaltigen, bloß relativen Güter der niederen Lebenskunst, die den Sophisten allein galten und zu denen sie zu verhelfen sich anheischig machten. In solchem Sinne darf man in der Betonung des notwendig einheitlichen Wesens der Tugend die erste, wiewohl entfernte Hindeutung auf die »Idee« des Guten finden.

Aus diesen Voraussetzungen begreift sich ganz die Schwere des Konflikts, den SOKRATES nicht überwand; es begreift sich das Verzagen an der ungeheuren Aufgabe, Erkenntnis in diesem höchsten Sinne sicher zu erreichen und andern mitzuteilen. Daran durfte, wem dieser Sinn der »Erkenntnis« in seiner Tiefe sich erstmals erschloß, wohl verzweifeln. Und doch liegt in denselben Voraussetzungen schon der Keim zur Lösung des Konflikts. Zwar das Wort der Lösung darf der Protagoras noch nicht aussprechen. Aber der Meno hat es gesprochen. Hier wird wiederholt: Wenn Tugend Erkenntnis ist, so muß sie lehrbar sein; es wird der Beweis wiederholt, daß sie Erkenntnis ist; und es wird dann doch, mit denselben Argumenten, unter[14] deutlicher Verteidigung der fast wörtlich angeführten Thesen aus dem Protagoras, der alte Skrupel dagegen gestellt, daß die Tugend tatsächlich doch nicht mitteilbar oder übertragbar zu sein scheint. Sondern – dieser positive Gegensatz wird hier zuerst klar: sie hat ihren Quell im Selbstbewußtsein; was wir Lernen nennen, ist nur »Erinnern« d.h. es ist Selbstbesinnung. Es ist also kein Lernen, wenn man darunter ein Empfangen von außen versteht; was man Lehren nennt, ist bloß Erwecken zur Selbstbesinnung, ein bloßes Hinlenken darauf, den Grund der Einsicht in sich selber, im Schachte des eigenen Bewußtseins zu suchen; wozu das sokratische Verfahren der Unterredung, des Wahrheitsuchens in gemeinsamer Verständigung, im Fragen und Antworten, Rechenschaft geben und abverlangen, der geeignete Weg ist. Nach dieser neuen Deutung der Begriffe Lehren und Lernen ist Tugend lehrbar, wie PLATO fortan stets festgehalten und gegen oftmalige Angriffe nachdrücklich verteidigt hat. Dabei bleibt aber völlig das bestehen, was der Satz der Nichtlehrbarkeit im Protagoras besagte: Tugend und Erkenntnis ist nicht von außen beizubringen, nicht der Seele »einzusetzen«, wie wenn man (heißt es später im Staat) dem blinden Auge die Sehkraft einsetzen wollte. Wirklich war SOKRATES nach jenem echten Begriff der Lehre verfahren; er war also wirklich ein Tugendlehrer, wie ebenfalls später PLATO stets behauptet. Aber dieser neue Begriff vom Lehren und Lernen war ihm noch unentdeckt, wenn er doch so bestimmt und ohne alle Ironie behauptete, nicht nur er sei kein Lehrer der Tugend, sondern überhaupt sei Tugend nicht lehrbar. Im Protagoras fehlt in der Tat jeder deutliche Hinweis auf diesen neuen Begriff des Lehrens und Lernens, und demgemäß wird die negative Entscheidung in der Frage der Lehrbarkeit von Anfang bis zuletzt festgehalten, obgleich als problematisch empfunden.

Hierdurch besonders ist uns die zeitliche Stelle des Protagoras fraglos bestimmt. Er liegt voraus dem Meno und überhaupt allen übrigen Schriften außer der Apologie und allenfalls dem Krito, den man von der Apologie ungern trennt. Denn er ist die einzige Schrift, welche die in der Frage der Lehrbarkeit der Tugend schroff verneinende Haltung der Apologie festhält, wenngleich schon zum Problem macht. Das Thema selbst aber legt die Vermutung nahe, daß die Schrift mit der Eröffnung des platonischen Wirkens in Athen ungefähr zusammentrifft. Daß PLATO die Lehrtätigkeit in seiner Heimatstadt, wenn[15] auch nicht unmittelbar nach dem Tode des SOKRATES, wie es nach Apol. 39 C unbedingt seine Absicht war, doch so bald nachher, als irgend die äußeren Verhältnisse es zuließen, begonnen habe, hat alles für sich. Sind nun Apologie und Krito, als Denkschriften, die auf die Ereignisse des Jahres 399 den unmittelbarsten Bezug haben, jedenfalls diesen Ereignissen so nahe wie möglich zu rücken; ist andrerseits für den Meno, dem der Protagoras jedenfalls vorhergeht, an dem meist angenommenen, ganz wohl haltbaren Termin, 395, festzuhalten; so darf man den Protagoras füglich als die Schrift ansehen, mit der sich PLATO, nach nicht zu langer Abwesenheit 398 oder 397 heimkehrend, in seiner Vaterstadt wieder einführte und sein Wirken daselbst eröffnete.

Jedenfalls passen in dies Stadium die unscheinbaren Ansätze des Protagoras zur eigentlich logischen Forschung. Es ist nicht gerade die Hauptabsicht, aber gewiß einer der wichtigsten Nebenzwecke des Dialogs, in schärfsten Umrissen und lebhaftestem Farbenkontrast gegenüberzuhalten die »strenge« (338 in.), nämlich logische Strenge wenigstens anstrebende Art der sokratischen Unterredung, und die logisch nachgiebige, jeder genauen Rechenschaft vorsichtig ausweichende Redefertigkeit der damaligen Bildungsmeister, der Sophisten. Man sieht jetzt schon, wie dies Formale mit dem sachlichen Kern der Erörterung zusammenhängt; die Nichtigkeit der sophistischen Lehre wird bestätigt durch den praktischen Erweis ihrer gänzlichen Hilflosigkeit gegenüber den ernsteren Forderungen der sokratischen Dialektik, in formaler ebenso wie in sachlicher Hinsicht. Diese aber entfaltet sich hier noch ganz einseitig in ausschließlich negativer Kritik. Auch das weist auf die Absicht, die Sokratik nicht als etwas Endgültiges, nicht als letztes Wort der Philosophie, sondern als selbst problematisch, über sich hinausdrängend zu erweisen. Der nur negativ kritische Charakter des sokratischen Philosophierens soll als unbefriedigend empfunden, das Verlangen, die Untersuchung von neuem aufzunehmen und zu einem befriedigenderen Ergebnis durchzuführen, soll im Leser ebenso geweckt werden, wie SOKRATES in Person es zum Schluß (361 CD) einfach und in aufrichtiger Meinung ausspricht.

Doch sind in formaler Hinsicht wichtige Positionen schon jetzt errungen. Die Bedeutung der Begriffsbestimmung ist sicher erfaßt und klar zum Ausdruck gebracht. Der Sophist hat eine Reihe von Tugenden aufgezählt, und sich in längerer[16] Rede über die Lehrbarkeit der Tagend verbreitet; es hätte erst festgestellt werden müssen, was »es selbst, die Tugend, ist« (360 E). Ist »ein Eines« die Tugend, und unterschiedliche Teile von ihr Gerechtigkeit, Besonnenheit und was sonst genannt wurde, oder sind dies nur ebenso viele verschiedene Namen »desselbigen, welches eines ist« (329 C)? Sind es nur verschiedene Namen »einer Sache«, oder liegt jedem von ihnen eine eigene Wesenheit (ousia, »Sein«, 349 B, das heißt nicht, etwas, das ist, sondern etwas, das es ist, s. o. S. 2 das o estn) zu Grunde, eine Sache (pragma), die jede eine ihr eigene Kraft oder Bedeutung (dynamis) hat, so daß jedes von ihnen nicht »ein solches wie das andere« (jedes qualitativ vom andern verschieden) ist? – Man empfindet in diesem vielfältigen Ausdruck derselben einfachen methodologischen Besinnung die Mühe, die es noch macht, eine genügend scharfe und doch dem beim Leser vorauszusetzenden Verständnis genügend angepaßte Bezeichnung zu finden für das uns so Geläufige, die Einheit, die Identität des Begriffsinhalts.

Ihre Bedeutung aber ist, daß sie Erkenntnis begründet. Auf die Wichtigkeit dieses Begriffs, Erkenntnis, drängt alles hin. Die Frage der Lehrbarkeit führt sich zurück auf die andere, wer in einer jeden Sache der Erkennende (epistêmôn) ist; und Erkenntnis stellt sich heraus als der Einheitsgrund der Tugend. So hängen in diesem Begriff alle wesentlichen Motive des Dialogs, die formalen und die sachlichen, zusammen. Daß für den Menschen alles Heil in der Erkenntnis liegt, wird aufs stärkste ausgesprochen (345 A B): der einzige wahre Schade ist, der Erkenntnis verlustig gehen; die alleinige »Rettung des Lebens« ist Wahrheit der Erkenntnis (356 D. u. ff., vgl. 352 C); Rettung nämlich von der »Gewalt des Scheins«, der uns in die Irre treibt, uns zwingt immer das unterste zu oberst zu kehren und in unsern Handlungen und Entscheidungen uns mit uns selbst in Widerspruch zu setzen; wogegen Erkenntnis den Schein um seine Geltung bringt (akyron epoiêse), das Wahre enthüllt, der Seele Ruhe schafft, indem sie beim Wahren verharrt, und so »das Leben rettet«. Das ist das Ziel auch all des heißen Bemühens um den Begriff: bestandhafte Wahrheit sicher unterscheiden zu lernen vom ungewissen, durch Selbstwiderspruch sich immer wieder selbst vernichtenden Schein, so die Einheit des Bewußtseins und in ihr das »Leben«, das allein lebenswerte Leben in reiner Bewußtheit, zu wahren. Das ist die große Leidenschaft des »Philosophen«, der sokratische »Eros«.[17]

Auf welche Erkenntnis es aber ankommt, das bleibt hier noch ganz unbestimmt. Nur aus Voraussetzungen des Gegners, die denen des SOKRATES selbst (352 B u. ff.) schnurstracks entgegengesetzt sind, wird die Folgerung hergeleitet, daß es die messende Erkenntnis der größeren und kleineren, näheren und entfernteren – Lust und Unlust sei. Darin mag ein immerhin beachtenswerter Hinweis auf die Bedeutung der Meßkunst in empirischer Erkenntnis gefunden werden; endgültig aber soll unbedingt nicht diese Erkenntnis es sein, mit der die Tugend eins ist, sondern es wird die Frage, welche Erkenntnis sie sei, ausdrücklich als noch offen bezeichnet (357 B), und jene Folgerung fort und fort nur auf die Voraussetzungen des Gegners gestützt, der dadurch genötigt wird, sogar von seinen eigenen Prämissen aus zuzugeben, daß Tugend Erkenntnis ist. Die Erkenntnis, auf die es ankommt, wird wohl sein müssen: die Erkenntnis des Guten, und zwar des Guten der »Seele«. Aber das Gute der Seele sollte ja eben – die Erkenntnis sein; also dreht sich diese Erklärung im Kreise, wie PLATO bald selbst klarstellen wird. Auch hier also treibt die Sokratik über sich selbst hinaus. Was dem SOKRATES vorschwebt, ist nichts Geringeres, als die Transzendenz des Guten. Das Gute ist eine bloße Idee, die durch nichts Empirisches erfüllt wird. Deshalb ist Tugend, so gewiß sie Erkenntnis ist, doch nicht »lehrbar«, d.h. als gegebener Gegenstand mitteilbar. Es ist der Gegensatz von Idee und Erfahrung, der sich schon hier vorbereitet.

So endet der Dialog allenthalben in Problemen. Die sokratischen Thesen behalten den Sieg über die ihnen entgegenstehenden des Sophisten; aber sie selbst entfalten dabei ihren großen Reichtum an – neuen Fragen. Diese Fragen sind es, mit denen die nächsten Schriften ringen um sie Schritt um Schritt zu überwinden.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 10-18.
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