4. Charmides.

[23] Was im Laches gewonnen ist, wird im Charmides festgehalten, aber zugleich die Prüfung der Grundbegriffe der Sokratik um einen sehr entscheidenden Schritt weiter geführt.

Nur scheinbar nämlich bildet, hier wie im Laches, der Begriff einer besonderen Tugend, diesmal der »Besonnenheit«[23] (sôphrosynê) das Thema; in Wahrheit ist es wieder nur eine neue Seite an dem allgemeinen Begriff der Tugend, und zwar der Tugend als Erkenntnis, die in Prüfung gezogen wird. Denn jener Schein hebt sich, ganz wie im Laches, durch das Ergebnis der Erörterung von selbst wieder auf, indem nach allen Mühen als einzig haltbarer Sinn der zuletzt versuchten, allein ernsthaft behandelten Definition der Besonnenheit genau das übrig bleibt, was vielmehr den Begriff der Tugend überhaupt ausmacht: Erkenntnis des Guten; die überdies, ebenso wie im Laches und in deutlicher Anknüpfung an diesen, unterschieden wird von der empirischen Erkenntnis der zu erwartenden Lust- und Unlustfolgen der Handlungen. Das neue Moment aber an der Erkenntnis, in der die Tugend bestehen soll, welches der Charmides untersucht, wird ausgedrückt durch den aus dem Innersten der Sokratik geschöpften, daher auch in den bisherigen Schriften überall vorausgesetzten, aber bisher nicht eigens geprüften Begriff der Selbsterkenntnis. Auf diesen zielt von Anfang an die Erörterung, die nominell dem Begriff der Besonnenheit gilt; unter diesem Namen birgt sich von Anfang an nichts andres als die sokratische Selbstbesinnung. Man vergleiche Theaet. 210 C: Besonnenheit ist, nicht zu wissen glauben, was man nicht weiß. Tim. 72 A: »Gut wird schon längst gesagt, sich selbst erkennen und das Seine (d.h. das, was man versteht) treiben komme allein dem Besonnenen zu«. So soll im Charmides Besonnenheit erst darin bestehen, daß man »das Seine treibt«; was dann durch den Gang der Erörterung selbst zurückgeführt wird auf die Selbsterkenntnis. Die Wahl gerade dieser angeblichen Einzeltugend, der Besonnenheit, zum Ausdruck des bestimmten Momentes an der Tugend überhaupt, daß sie nicht bloß auf Erkenntnis, sondern auf Selbsterkenntnis beruht, ist demnach aufs beste motiviert. Und so hat man nicht länger zu fragen, ob in der Definition der Besonnenheit, oder vielmehr in der Kritik des Begriffs der Selbsterkenntnis die wesentliche Absicht der Schrift liege; beides sind nur verschiedene Ausdrücke einer Sache. Einige ältere Erklärer (STEINHART, SUSEMIHL) hatten das ganz wohl erkannt; BONITZ kam auf den offenbar mißlingenden Versuch, in der Definition der Besonnenheit das nicht bloß nominelle Thema zu sehen, nur, weil er die anscheinend gänzliche Vernichtung des Begriffs der Selbsterkenntnis, die den erst befremdenden Schluß des Gesprächs bildet, für endgültig nahm und bei einem so ausschließlich[24] negativen Ergebnis sich begreiflich nicht beruhigen mochte. Das Bedenken fällt weg, wenn sich beweisen läßt, daß die Selbsterkenntnis doch bestehen bleiben soll, und es in der Tat nur der (absichtliche) Fehler der Untersuchung war (175 E), wenn es in ihr anders herauskam.

Merkwürdig ist nun allerdings, wie PLATO das Problematische dieses Begriffs empfindet, den doch keine Philosophie entbehren kann, mit dem die sokratische steht und fällt; mit welcher Freiheit er, der echteste Sokratiker, durch den Mund des SOKRATES, seine Schwierigkeit aufdeckt, bis zur scheinbar gänzlichen Selbstaufhebung dieses Begriffs.

Eine Erkenntnis, die gar nicht ein von ihr selbst verschiedenes Objekt erkennen soll, sondern allein das Erkennen und Nichterkennen – so nämlich wird die Selbsterkenntnis vom Mitunterredner KRITIAS erklärt, – eine solche Erkenntnis scheint überhaupt ein Unding zu sein. Kann es so etwas geben? Gibt es ein Sehen, das sich selber sieht und nicht ein Sichtbares? Ein Hören, das sich selber hört, ein Wahrnehmen, Begehren, Wollen, Verlangen oder Furcht, oder eine Vorstellung, die mir auf sich selbst, nicht auf ein von ihr verschiedenes Objekt gerichtet wäre? Überhaupt ein Ding, das seine eigentümliche Kraft in Richtung auf sich selbst und nicht auf ein andres ausübt? Müßte nicht das Hören, um von sich selber gehört zu werden, wiederum Schall sein, und so fort? SOKRATES getraut sich nicht eine so große Frage zu entscheiden. Nur das Wunder, das heißt die völlige Unvergleichbarkeit des Selbstbewußtseins ist damit eindringlich gekennzeichnet. Aber sicherlich nicht wird darum der Begriff selbst etwa preisgegeben.

Weiter: gesetzt auch, es gebe eine solche Erkenntnis, so würde man kraft ihrer stets nur das Wissen und Nichtwissen selbst wissen, aber nicht auch wissen, was, welches vom Wissen selbst verschiedene Objekt man weiß und nicht weiß; denn dazu gehört ja die Erkenntnis des Objekts; zum Beispiel, nur der Heilkundige weiß, ob einer heilkundig, nur der Musikkundige, ob einer musikkundig ist, und so in allen Fällen. Also, was hülfe uns überhaupt die bloß auf das Formale des Wissens und Nichtwissens gerichtete Erkenntnis?

Räumte man aber selbst dies noch ein, obgleich es keineswegs einleuchtet, daß Selbsterkenntnis auch zu erkennen vermöchte, was man weiß und nicht weiß, so würde sie gewiß von großem Werte sein, es würde unter ihrer Leitung unser Leben sich erkenntnisgemäß[25] gestalten; also wenigstens zu der Erkenntnis des Objekts hinzugenommen möchte die Selbsterkenntnis sie leichter und einleuchtender machen, zugleich eine sichere Prüfung des angeblichen Wissens Andrer gestatten; allein, ob wir dabei wohlfahren, ob wir glückselig sein würden, bliebe dennoch fraglich; denn Wohlfahrt, Glückseligkeit hängt nicht von irgend einer sonstigen Erkenntnis, sondern von einer allein ab, der Erkenntnis des Guten. Hätten wir aber auch diese, immerhin unter Mitwirkung der Selbsterkenntnis, erreicht, so wäre es doch nicht die Selbsterkenntnis, der wir die Glückseligkeit verdankten, sondern die Erkenntnis eines bestimmten Objekts, des Guten. Nun sollte durch die Selbsterkenntnis eine besondere Tugend, die Besonnenheit, definiert sein, die Erkenntnis des Guten aber deckt sich mit der Tugend schlechtweg; also läge diese angebliche Tugend, die Besonnenheit, außerhalb der Erkenntnis, in der die Tugend überhaupt besteht, der Erkenntnis des Guten; sie wäre also vom Guten selbst ausgeschlossen.

Dies in Kürze der Gedankengang. Soll nun damit der Grundbegriff der Sokratik in der Tat vernichtet sein? Sicher nicht, denn bei dem allen wird an der Forderung der Selbsterkenntnis bis zuletzt festgehalten. Aber allerdings der nicht von SOKRATES, sondern vom Mitunterredner aufgestellte Begriff der Selbsterkenntnis, wonach sie, im Unterschied von aller Erkenntnis eines bestimmten Objekts und abseits von dieser, nur die Erkenntnis bedeuten soll, ob man erkennt oder nicht, dieser wird nicht etwa bloß zweifelhaft gemacht, sondern gänzlich vernichtet. Eine Selbsterkenntnis dagegen, die von der Erkenntnis des Objekts, nämlich des Guten, nicht getrennt, sondern mit ihr eins wäre, wird nicht angefochten, und das hohe Lob, welches der Selbsterkenntnis gezollt wird, wenn sie nicht unter den aufgezeigten Schwierigkeiten litte, soll offenbar gelten von dieser richtiger definierten Selbsterkenntnis, die in der Tat den dargelegten Schwierigkeiten nicht unterliegt.

Man nehme nun einfach an, die von PLATO gewollte und gemeinte Lösung der Frage sei eben diese: die Selbsterkenntnis müsse, zwar nicht mit der Erkenntnis irgend eines sonstigen, besonderen Objekts, wohl aber mit der eines letzten Objekts, des Guten, irgendwie zusammenfallen, so enthüllt sich sofort ein tiefer und bedeutender Sinn der seltsam scheinenden Gedankenentwicklung. Wie nun beides zusammenfalle, ist freilich nirgends[26] angedeutet, aber es ist aus den sokratischen Begriffen, die ja hier durchweg zu Grunde gelegt werden, unschwer zu ergänzen. Die Selbsterkenntnis wird mit der Erkenntnis des Guten dann eins sein, wenn das Gute eins ist mit dem wahren Selbst des Menschen. Nun wurde das Gute von SOKRATES bestimmt als Rechtbeschaffenheit, Gesundheit, normale Verfassung der Seele, es besagte die Herrschaft des Bewußtseins, die Besinnung, daß man seiner selbst mächtig sei, es wurde gefordert: Sorge um sich selbst mehr als um das Seine, und dies wurde gleichgesetzt mit der Sorge um Besinnung, Wahrheit, oder um die Güte der Seele. Die Rechenschaft von unserm Tun, wiefern es gut sei, ist Rechenschaft von sich selbst und vor sich selbst, ist praktisches Selbstbewußtsein, weil die Norm, das Kriterium des Guten in nichts als der Einheit des praktischen Bewußtseins, der Einstimmigkeit mit dem eigenen Gesetz des Bewußtseins liegt. Das Gesetz des Guten ist das Gesetz des praktischen Bewußtseins, mithin Selbsterkenntnis eins mit der Erkenntnis des Guten. Also die zu einem befriedigenden Verständnis des Dialogs notwendig zu postulierende Auflösung des Problems ist so echt sokratisch, wie der Begriff der Selbsterkenntnis es ist; ein Sokratiker konnte sich die sokratische Selbsterkenntnis nur so auslegen; somit scheint es unbedenklich, eben diese Lösung als die von PLATO gewollte anzunehmen. Dann bleibt alles Positive, was die Erörterung ergab, bestehen; wie ja auch SOKRATES zum Schluß erklärt: ganz gewiß ist Besonnenheit ein hohes Gut und, wer sie besitzt, glückselig; es ist nur der Fehler unsrer Untersuchung, wenn es jetzt anders erschien.

Einfacher noch und zugleich allgemeiner stellt dieselbe Lösung sich dar, wenn wir sie ausdrücken durch die Unterscheidung zwischen Form und Materie der Erkenntnis, die als der Sinn des sokratischen »Wissens des Nichtwissens«, also eben der sokratischen Selbsterkenntnis, schon in der Apologie klar wurde. Gegenüber dem jedesmaligen besonderen Objekt, als der Materie des Wissens, ist doch etwas für sich das Wissen selbst, als Bewußtsein; oder die eigentümliche Gesetzlichkeit, gemäß welcher das Bewußtsein wissend ist. Die Erkenntnis dieser Gesetzlichkeit, welche die »Form« der Erkenntnis ausmacht, war es eigentlich, worauf die sokratische Selbsterkenntnis zielte. Die Sokratik war wesentlich die Entdeckung der Erkenntnisform als eines Eigentümlichen, welches zunächst[27] dem Objekt, als der Materie des Wissens, wie gesondert gegenüberzustehen schien. Aber das Wissen von der Erkenntnisform darf nicht getrennt bleiben von dem Wissen um das bestimmte Objekt, es muß in diesem zugleich liegen und zwar als es bestimmend, denn nur dem Formgesetz des Erkennens gemäß ist es überhaupt Wissen. Darum ist es doch eine eigene Reflexion, die sich auf die Form als solche richtet, insofern bleibt die Selbsterkenntnis etwas Eigenes und Besonderes. Es gibt kein Sehen, das sich selber sieht und nicht ein Sichtbares, kein Wahrnehmen, keine Funktion des Bewußtseins überhaupt, die nur auf sich selbst und nicht auch auf ein von ihr selbst Verschiedenes als Objekt gerichtet wäre. Aber doch ist es die unvergleichliche Eigentümlichkeit des Bewußtseins, daß es zugleich Bewußtsein seiner selbst und des Objekts ist. Auch hat das Selbstbewußtsein, so verstanden, nicht den leeren Sinn der Tautologie, daß es sei das Bewußtsein des Bewußtseins, und folgerecht so weiter ins Unendliche; es besagt vielmehr das Bewußtsein der Gesetzlichkeit der dabei, ja eben dadurch stets auf ein Objekt gerichteten Erkenntnis. So fragt sich nur noch: hängt etwa gerade die Erkenntnis des Guten innerlich zusammen mit dem Bewußtsein der Erkenntnisform, nämlich der Form der Gesetzlichkeit überhaupt? Nach PLATOS Denkweise unzweifelhaft ja. Nach seinen späteren Darlegungen, vom Gorgias an, ist es genau der Charakter der Gesetzlichkeit, der eine Handlung als gut unterscheidet. Aber schon der Rationalismus der sokratischen Ethik war notwendig zugleich Formalismus – jedenfalls nach PLATOS Auffassung; und so erklärt sich die Zurückführung des Guten nicht bloß auf Erkenntnis überhaupt, sondern auf Selbsterkenntnis, d.h. auf diejenige Erkenntnis, welche die gesetzliche Form des Erkennens selbst zum Inhalt hat, auch schon aus der eigenen Begriffswelt des SOKRATES, wie wenigstens PLATO sie aufgefaßt hat.

Dies mußte nun aber weiter darauf hinführen, daß ganz allgemein die Form der Erkenntnis es ist, welche den Inhalt bestimmt. Dieser Gedanke aber führt schon in das Herz der Ideenlehre. Es wird die Probe auf unsere Deutung des Charmides sein, daß sogleich die nächste Schrift dies im Charmides versteckt liegende Motiv zu deutlicher Entfaltung bringt, und damit den Grundstein zur Ideenlehre legt. Der berühmte Satz des Meno vom Wissen als »Wiedererinnern« besagt in der Tat: die Zurückleitung der Erkenntnis, insbesondere[28] der Erkenntnis, in der die Tugend besteht, auf ihren Quell im Selbstbewußtsein. Daß man »aus sich selbst« die Erkenntnis hervorhole, hätte keinen Sinn, wenn nicht in dem »Selbst« etwas mehr gedacht wäre als Bewußtsein überhaupt; wenn nicht darin mitgedacht wäre die Gesetzlichkeit des Bewußtseins, gemäß welcher es das Objekt, nämlich das reine Objekt des Begriffs, selber gestaltet. Die Form der Erkenntnis überhaupt ist Gesetzlichkeit; diese Form aber ist es, welche den Inhalt, den reinen Inhalt der Erkenntnis konstituiert; denn es ist allgemein das Gesetz, welches in der Erkenntnis und für sie den Gegenstand schafft. Das ist der letzte Sinn der »Idee«; und eben dies ist die Lösung der Rätsel, die der Charmides im Begriff der Selbsterkenntnis aufdeckt, allerdings ohne die Lösung direkt zu geben.

Auch die Beiträge zur logischen Technik in der kleinen Schrift sind keineswegs unbeträchtlich. Doch wiederholen sich, was wenigstens die Begriffsbestimmung betrifft, nur schon bekannte Bestimmungen. Bemerkenswert ist die öftere Bezeichnung des Begriffsobjekts als etwas das ist, on (166 D, 175 B). Sodann finden sich bedeutsame Ansätze zur Schlußlehre; Voraussetzung und Folge erhalten ihre festen Bezeichnungen; auch die Einteilung klingt an. Doch kann das hier übergangen werden, da dieselben Dinge in den beiden nächstfolgenden Schriften von neuem zur Sprache kommen müssen.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 23-29.
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