Einleitung.

[1] Das Wort idea, Idee, begegnet als fest geprägter Terminus der philosophischen Kunstsprache PLATOS nicht in dessen frühesten Schriften. In diesen fehlt das Wort entweder ganz, oder es findet sich nur in loserer, mehr dem gemeinen Sprachgebrauch sich anschließender Verwendung. Als Abstraktum vom Verbalstamm id-(vid-), sehen, abgeleitet, bedeutet es, gleich dem ebendaher stammenden eidos, für gewöhnlich die Gestalt, in der eine Sache sich dem Betrachtenden darstellt, das Ansehen, den Anblick, den sie ihm bietet. Von der äußeren, sinnlichen Gestalt überträgt sich der Gebrauch beider Wörter auf die innere, dem geistigen Auge sich darstellende: die Artung, Qualität im weitesten Sinn; wenn von Übertragung überhaupt zu reden ist, und nicht vielmehr, wie der Zusammenhang mit eidenai, wissen, und Ableitungen aus derselben Wurzel in verwandten Sprachen nahe legen, das Wort schon von seinem Ursprung her ebenso gut, ja mehr das innere Bild einer Sache, als ihren äußeren Anblick bedeutet hat. Die Erinnerung an die verbale Herkunft ist aber gerade im platonischen Gebrauch von idea noch kräftig. Sehr oft ist bei diesem Wort, im Unterschied von eidos, nicht bloß passivisch an das Gesehene, den Anblick, den die Sache bietet, sondern mindestens zugleich aktivisch an das Sehen, die Sicht oder Hinsicht, den Anblick als Tätigkeit des Blickenden zu denken. So war dies Wort wie ausersehen, um die Entdeckung des Logischen, d.i. der eigenen Gesetzlichkeit, kraft deren das Denken sich seinen Gegenstand gleichsam hinschauend gestaltet, nicht als gegebenen bloß hinnimmt, in ihrer ganzen Ursprünglichkeit und lebendigen Triebkraft auszudrücken und dem Bewußtsein festzuhalten.

Diese Entdeckung aber, PLATOS unvergeßliche Tat, deren, wenn es sein könnte, erschöpfende Darstellung dies Buch sich[1] zur Aufgabe stellt, war hauptsächlich vorbereitet durch die große Neuerung des SOKRATES: in allem nach dem Begriff zu fragen.

Das mußte wohl als das Nächstliegende sich der erst erwachenden logischen Reflexion aufdrängen: wie viele oft weitverstreute Dinge dieselbe Benennung, z.B. schön, tragen. Diese selbige Benennung muß doch etwas Selbiges, auf alle diese sonst verschiedenen Dinge identisch Zutreffendes besagen; etwas, worin sie unbeschadet ihrer sonstigen Verschiedenheit, von einer bestimmten Seite gleichsam angesehen, in einer bestimmten »Hinsicht« dasselbe sind. Für den identischen Sinn also des gemeinsamen Prädikats, das verschiedenen Dingen als Subjekten in unseren Aussagen beigelegt wird, galt es den allgemeinen Ausdruck zu schaffen. Als solcher bot sich zunächst dar die identische »Gestalt« der Sache, der eine und selbige »Anblick«, den die vielen, verschiedenen Gegenstände einer bestimmten Art, sie anzusehen, bieten: das Eidos. ARISTOTELES hat dafür den barbarischen, in einer entsprechenden deutschen Wendung nicht möglichen Ausdruck geprägt: to ti ên einai, annähernd genau: »das was es war sein«, das will sagen: was es für das jedesmalige Subjekt in allen vorkommenden Fällen Identisches »war« oder bedeutete, wenn ihm das und das als Prädikat beigelegt wurde. Es ist möglich, daß in dem Präteritum »war« sich noch etwas Tieferes birgt, zunächst aber sagt es nichts Tieferes, als daß der Terminus, dessen Definition gegeben werden soll, durch den Gebrauch schon bekannt, und auch seine Bedeutung als tatsächlich identisch vorausgesetzt ist, und daß jetzt diese Identität seiner Bedeutung besonders herausgehoben und zum Bewußtsein gebracht werden soll. PLATO hat dafür die schlichtere, aber wesentlich gleichsinnige Formel: »das was es ist, das Schöne, Gute u.s.f.« (ho estin), oder »es selbst, was es ist« (auto ho estin), das heißt: nicht, welche Gegenstände schön, gut u.s.w. sind, welchen Subjekten das betreffende Prädikat beizulegen ist, sondern was es, das Schönsein, das Gutsein selbst, was allgemein der Sinn dieser Prädikation ist. Das also ist der genaue Gehalt des als Eidos kurz Bezeichneten. Man kann es einfach durch Begriff wiedergeben. Eben dies bildet aber auch den ersten Ausgangspunkt für die »Idee«. Oft genug wechseln beide Ausdrücke, immerhin mit dem spürbaren Unterschied, daß durch das Eidos der Begriff mehr dem Umfang, durch die Idee mehr dem Inhalt nach bezeichnet wird. So wird bei der Einteilung der Begriffe, die zunächst den Umfang anzugehen scheint, fast[2] stets eidos, nur ausnahmsweise, etwa Abwechselung halber, idea gebraucht, während die Einheit des Begriffsinhalts regelmäßig als die »eine Idee« (mia oder mia tis idea), viel seltener als das eine Eidos bezeichnet wird. Auch wird diese Einheit wiederholt beschrieben als in dem zusammenfassenden Blick, in der »Zusammenschau« des Geistes erst entstehend. Die Erzeugung der Gedankeneinheit also ist in diesem Wort noch lebendig, während das Eidos mehr das fertige Erzeugnis, die schon gegebene, feststehende innere Gestalt des Gegenstandes ausdrückt.

Von dieser bescheidenen Frage nach dem Begriff also ist die logische Forschung PLATOS ausgegangen. Und auf sie scheint sie in den mutmaßlich frühesten Schritten beinahe beschränkt. Darin besonders bewahren diese Schriften getreu den Charakter der sokratischen Unterredungen. Das nämlich war nach diesen schlichtesten Darstellungen sokratischer Gespräche der regelmäßige Gang der Erörterung, in welche der sonderbare Mann jeden, den er gerade vor sich hatte, mit ihm einzutreten zwang: Du rühmst gewisse Gegenstände als schön, lobst gewisse Taten als tapfer, eine gewisse Haltung als besonnen, du preisest den PROTAGORAS und andere als hervorragend Gebildete und Meister der Bildung, du nennst als Objekt der Redekunst: Entscheidung über Recht und Unrecht, und so fort. Nun denn, so lehre mich – du scheinst doch, und dünkest dir und anderen es zu wissen –: was ist »das« Schöne, »das« Tapfre, »das« Besonnene, oder Schönheit, Tapferkeit, Besonnenheit; was ist Bildung, was Recht, Gerechtigkeit und das Gegenteil? Regelmäßig erweist sich dann, daß der Gefragte davon nicht Rechenschaft geben kann, sondern beschämt gestehen muß, daß er nicht wußte, was er damit eigentlich sagte, wenn er diese, im allgemeinen also aufs Praktische bezüglichen Prädikate zuversichtlich austeilte. Man spürt es aber bei diesen platonischen Darstellungen sehr bald, daß zwar auch am Inhalt der verhandelten Fragen, an den Problemen des Sittlichen, des praktisch Gesetzlichen, für den Darsteller ein starkes Interesse hängt, daß aber stets daneben auch, oft geradezu an erster Stelle das Formale: die allgemeinen Erfordernisse einer haltbaren Begriffsbestimmung und die Gesetze einer logischen Erörterung, einer zulänglichen Beweisführung, den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit bilden. Es ist die Entdeckung, es ist geradezu die Geburt des Begriffs des Logischen, die man in diesen Gesprächen belauscht, vielmehr in ihren Schmerzen und Wonnen selber miterlebt. Darin[3] liegt ihre unverwelkliche, zum logischen Bewußtsein erziehende Bedeutung.

Auch dieser Ausdruck wieder, des Logischen, gibt zu sprachlichen Erwägungen Anlaß. Logos, von legein, sagen, reden, bedeutet im gewöhnlichen Leben entweder die (einzelne) Aussage oder die (zusammenhängende) Rede, die Aussage stets in Hinsicht ihres vernünftigen Sinns, die Rede in Hinsicht ihres vernünftigen Zusammenhangs, des Zusammenhangs, in welchem der Sinn einer Aussage aus dem einer anderen hervorgeht oder auf ihn hinleitet, des Denkzusammenhangs also, in dem sie entsteht und fortwirkt, erzeugt wurde und erzeugt. Dazu ist ein erstes Erfordernis eben die genaue Abgrenzung und streng identische Festhaltung des Begriffs, d.i. des Sinnes der Prädikation, denn das ist das in jedem »Satze« neu Gesetzte. Weiter gehört dazu die hierdurch zuerst bedingte, dann aber noch eigenen Bedingungen unterliegende Einstimmigkeit, Wahrung der Einheit, der gedanklichen Verknüpfung aller solcher Setzungen mit einander; Verknüpfung zunächst zweier Denksetzungen, als Voraussetzung und Folge. Die Einheit, Einstimmigkeit des Denkens mit sich selbst, in der allein das Gedachte besteht oder »ist«, stattfindet, wahr ist, die, als wenigstens angestrebt, überhaupt Denken von schweifendem Vorstellen unterscheidet, ist das regierende Prinzip für beides, die Einheit des Begriffs und die Einheit des Denkzusammenhangs.

Dies hauptsächlich ist es, was in steigender Deutlichkeit, in immer bestimmterer Heraushebung zu Tage kommt in den im engern Sinne sokratischen Gesprächen PLATOS, das heißt denen, die nicht bloß die äußere Form der sokratischen Unterredung am treuesten festhalten, sondern überhaupt von der sokratischen Weise des Philosophierens, auch von seinem Stoff, den sittlichen Fragen, sich am wenigsten entfernen. Diese sind daher, obgleich an logischem Gehalt nicht sehr vielumfassend, doch für das Verständnis der Genesis der platonischen Lehre von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Zugleich wird sich zeigen, daß schon in ihnen frühzeitig eine über diese schlichten Grenzen weit hinausführende Wendung der logischen Untersuchung sich ankündigt.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 1-4.
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