1. Timaeus.

[355] Die Schwierigkeit dieses Werks in seinem dialektischen Inhalt betrifft hauptsächlich die genaue Abgrenzung dessen, was[355] als wissenschaftliche Lehre, und was als freies Spiel des Gedankens (s. bes. 59 C D) oder Ausführung bloßer Wahrscheinlichkeiten verschiedensten Grades angesehen sein will. Im allgemeinen zwar ist die Scheidelinie deutlich gezogen. Alles, was die ewig bleibenden Prinzipien betrifft, soll auch bleibend und unumstößlich gelten, was dagegen auf das bloß abbildliche Werden Bezug hat, soll selbst als in seiner Geltung wandelbar, als bloß mehr oder minder nahekommendes Abbild des Wahren, bestenfalls als mehr oder minder wahrscheinlich angesehen werden (29 B – D. Zur Unterscheidung von pistis und alêtheia vgl. Staat 511 E, 533 E. Sonst bietet die nächste Analogie Phil. 59 A B). Nun aber wird tatsächlich beinahe alles, auch manches, was mit der Prinzipienlehre ganz eng zusammenhängt, in Form einer erzählenden Vorführung der Weltschöpfung, also des Werdens gegeben. Daher bleibt im Einzelnen doch der Mutmaßung überlassen, wie viel und was PLATO als wissenschaftliche These vertreten will, was dagegen er als Mythus der Kritik ohne weiteres preisgeben würde. Da gibt es denn keine andre sichere Entscheidung, als die sorgfältige Vergleichung mit den übrigen Schriften PLATOS, von welchen als die sachlich und wohl auch zeitlich nächststehenden sofort die drei zuletzt von uns behandelten: der Sophist, der Staatsmann und der Philebus, sich herausstellen. In allen dreien war das Thema der Weltentstehung oder – da auch der persönliche Welturheber, der Demiurg, bereits eingeführt wurde – der Weltschöpfung bereits angeschlagen. Wir finden uns daher zunächst ganz auf vertrautem Boden.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 355-356.
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