2. Die Gesetze.

[376] Nur anhangsweise kann in einer Darstellung der Ideenlehre das letzte Werk PLATOS, die Gesetze, eine kurze Behandlung beanspruchen. So sehr sein ethischer, sozialpolitischer und sozialpädagogischer Inhalt es rechtfertigt, daß sich die Aufmerksamkeit der Forscher neuerdings wieder lebhafter diesem wichtigen und eigenartigen Buche zugewandt hat, auf theoretische Grundlagen tut es fast ganz Verzicht; besonders von dialektischen Erörterungen hält es sich mit unverkennbarer Absichtlichkeit fern. An den wenigen Stellen, welche Fragen der Methode überhaupt berühren, wird selbst, was ein Begriff sei im Unterschied vom Wort, in einer so elementaren Weise erst klar gemacht (895 DE, vgl. 963 C, 965 C), daß man annehmen muß, das Buch sei absichtlich für solche geschrieben, die, wie KLINIAS und MEGILLUS, von Dialektik auch nicht die mindeste Vorkenntnis mitbringen. Daher sind irgend welche Aufschlüsse über dialektische Fragen, die über die früheren Schriften hinausführten oder deren Ergebnissen auch nur zu direkter Bestätigung oder Erläuterung dienten, aus dem Werke nicht zu schöpfen.

Es scheinen aber einige Forscher sogar der weitergehenden Ansicht zu sein, daß PLATO in diesem Werke den wissenschaftlichen[376] Standpunkt seiner frühern Schriften geradezu verleugnet, nämlich eine naturphilosophische und schließlich theologische Begründung an die Stelle der dialektischen habe treten lassen. Das ist jedoch von Anfang an wenig wahrscheinlich. Namentlich ARISTOTELES, der an die Spätzeit PLATOS so vielfach anknüpft, weiß nichts von einem Preisgeben der Ideenlehre, dagegen wohl von weiteren, in PLATOS Schriften nicht vorliegenden Umformungen der Lehre zu berichten, die auch in seiner Schule eine wenn auch wenig fruchtbare Fortwirkung erlebten. Übrigens klingen die Gesetze, und damit die gesamte Lebensarbeit PLATOS, aus in der Forderung einer theoretischen Rechenschaft und zwar nach der Methode der Ideen (mia idea, 965 C; methodos ebenda). Die »eine Idee« der Tugend, dann allgemeiner des Schönen und Guten (966 A), eine zulängliche Beweisführung inbetreff dieser (B) wird als unerläßlich behauptet.

Als Hauptgegenstände dieser Beweisführung aber werden genannt: 1. die Priorität der Seele vor dem Körper, 2. die gesetzliche Ordnung der Gestirnbewegungen (966 D E), wozu als Voraussetzung die mathematischen Wissenschaften gehören (967 D). Eben dies sind auch die einzigen Probleme theoretischer Philosophie, die sonst in dem Werke berührt werden. Diese selben Gegenstände waren ja auch schon in den zuletzt von uns behandelten Schriften in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, ohne daß darum von der dialektischen Begründung irgend etwas wäre preisgegeben worden. Besonders im Timaeus war die Kosmologie und Kosmopsychologie, auch hier schon in stark religiöser Färbung, das zentrale Thema. Aber sie war in engste Verbindung gesetzt mit der durch die Erörterung des Raumbegriffs noch vertieften, übrigens ganz in den alten Formeln festgehaltenen Ideenlehre. Kommen die »Gesetze« auf die dialektischen Grundfragen nicht nochmals zurück, so ist dies durch die unverkennbar praktische Absicht des Werks derart motiviert, daß zu dem Schlüsse auf eine Preisgabe der Dialektik jede auch nur scheinbare Berechtigung fehlt.

Eine Änderung des Prinzips wäre es allerdings, wenn eine subsistierende Sache, Gott, die Weltseele oder die Weltvernunft, etwa hier die Stelle einnähme, die in dem wissenschaftlichen System PLATOS die Idee, und zuletzt die Idee der Ideen, identisch mit dem Prinzip des Logischen, vertrat. Aber, um einen solchen Verdacht hier zum letzten Male auszuschließen, genügt fast die einzige schlicht tatsächliche Feststellung, daß, wenn allerdings[377] die Priorität der Seele vor dem Körper hier so entschieden wie bisher stets von PLATO behauptet wird, sie das Erste doch nur sein soll innerhalb des Gewordenen. Sie ist, nach der knappen Zusammenfassung des im zehnten Buch sehr ausführlich gegebenen Beweises (966 E), das Älteste (d.i. Ursprünglichste, Primärste) und Göttlichste von allem, »wovon Veränderung, das Werden hinzunehmend, ein immer fließendes Sein zuwege gebracht hat«, oder (nach 967 D) das Ursprünglichste von allem, was der Entstehung (gonês) teilhaft geworden ist, oder (nach 896 A) die Seele ist das Erste, nämlich »die erste Entstehung und Veränderung«. Die Seele kann danach gar nicht mit solchen Prinzipien in einen Wettstreit eintreten, die allem Werden, aller Veränderung vorausliegen und sie überhaupt erst ermöglichen, mit der Bestimmung und Unbestimmtheit, dem Einen und Vielen, Selbigen und Verschiedenen, dem Urbild, dem Raume und so fort; sondern die Frage betrifft allein die Priorität innerhalb des Gebietes des Werdens oder, wie es im Philebus hieß, des »entstandenen Seins«. Hier ist nicht der Schatten einer Abbiegung von der bisherigen Bahn, sondern es sind nur die Prämissen, die nach dem Plane des Werks hier nicht von neuem zu erörtern waren, weggelassen, die Konklusionen aber, selbst in der Fassung mit dem Timaeus und Philebus nahe übereinstimmend, festgehalten und nach der empirischen Seite weiter entwickelt.

Fast dürften wir, im Hinblick auf unsern Zweck, es bei dieser einfachen Klarstellung bewenden lassen. Aber doch ist es nicht ganz unlohnend, auf die Beweisführung für die Priorität der Seele im zehnten Buch, und dann auf die wenigen Bemerkungen des siebenten zur Mathematik und Kosmologie in Kürze einzugehen.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 376-378.
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