2. Mathematik und Astronomie (pag. 817 E – 822 C).

[381] Ebenso darf, wenn neben Mathematik und Astronomie die sonst als krönende Zinne hoch über beide erhobene Dialektik diesmal ganz verschwindet, daraus keine Preisgebung des früheren Standpunkts gefolgert werden. Allenfalls beweist sich auch darin wieder das gewachsene Verständnis für das selbständige, nicht bloß dem der logischen Methode untergeordnete Interesse der konkreten Wissenschaften. Aber das Verfahren selbst, welches für diese vorausgesetzt wird, ist durchaus kein andres, als welches früher eben aus den Gesichtspunkten der Dialektik diesen Wissenschaften zum Gesetz gemacht wurde. Also ist die Dialektik auch hier vielmehr stillschweigend vorausgesetzt als beiseite geschoben.

Es werden überhaupt nur zwei besondere Fragen dieser Wissenschaften herausgehoben, und auch diese nur als Fragen kurz angedeutet, nicht irgendwie eingehend erörtert. Es ist zuerst, in den rein mathematischen Wissenschaften, das Problem des Inkommensurabeln. Dieses wurde im Theaetet schon berührt, und es hat für PLATO unverkennbar eine tiefe dialektische Bedeutung. Wurde auch sein Zusammenhang mit den Prinzipien des Unbestimmten und der Bestimmung im Philebus nicht ausdrücklich hervorgehoben, so ist doch allbekannt, daß diese Prinzipien bei den Pythagoreern, denen PLATO sie entlehnt, zu den mathematischen Begriffen des Kommensurabeln und Inkommensurabeln in engster Beziehung standen, im Grunde nur eine Verallgemeinerung dieser mathematischen Begriffe waren. Die Vergleichung mit den Gesetzen legt es übrigens nahe, bei der Gleichsetzung des Prinzips der Bestimmung mit dem des Zahl- und Maßverhältnisses im Philebus selbst (ho ti per an pros agithmon arithmos ê metron ê pros metron, Phil. 25 A, vgl. Ges. 820 C ta tôn metrêtôn te kai ametrôn pros allêla) an die Kommensurabilität besonders zu denken, da diese, wie gesagt, schon bei den Pythagoreern den wesentlichen Sinn des Prinzips des peras ausmachte. Nimmt man diese Beziehung an, so weist gerade die einzige Hervorhebung dieses Problems auf den Zusammenhang[381] der Mathematik mit der Dialektik, und zwar in der im Philebus erreichten Gestalt, deutlich genug hin.

Das andre, der Astronomie angehörige Problem (821 B ff., bes. 822 A) deckt sich wesentlich mit der Aufgabe, welche nach dem Zeugnis des SIMPLICIUS (zu ARISTOTELES de caelo 292 b 24) PLATO den Astronomen seiner Schule stellte und zu deren Lösung sie ihre besten Kräfte einsetzten: die Hypothesen zu finden, gemäß welchen die scheinbar irregulären Bewegungen der Planeten sich als streng regelmäßig, ohne Widerspruch gegen die Phänomene, darstellen. PLATOS Andeutung der Lösung dieser Aufgabe hier in den Gesetzen bleibt freilich dunkel, und es ist nicht dieses Orts, ist vielleicht überhaupt nicht möglich zu ganz sicherer Entscheidung zu bringen, ob PLATO die von seinem Schüler HERAKLIDES nicht geradezu vertretene, aber als Möglichkeit bestimmt ins Auge gefasste und erörterte Hypothese der Axendrehung der Erde in der Weltmitte im Sinne hat, oder vielmehr eine Drehung der Erde um einen andern Zentralkörper sei es das pythagoreische Zentralfeuer oder die Sonne, oder ob er wohl gar beide Hypothesen verband und damit geradezu die der kopernikanischen gleichkommende Entdeckung des ARISTARCH von Samos vorwegnahm.26

Wie dem auch sei, in jedem Falle beweist schon die Formulierung der Frage, daß PLATO ganz inmitten der großzügigen astronomischen Forschung jener Tage stand. Aber wiederum wäre es unberechtigt, den Zusammenhang dieser Formulierung mit der Dialektik und der auf diese gestützten Wissenschaftslehre des Staats sowie mit den dialektischen Prinzipien des Philebus und Timaeus auch nur in den Hintergrund zu schieben. Dieser Zusammenhang drängt sich geradezu auf, sobald man sich nur des im zehnten Buch der Gesetze selbst Gesagten erinnert: daß die immer identisch beharrende, stets die gleichen Proportionen, die gleiche gesetzliche Ordnung innehaltende Bewegung der Himmelskörper die Vernunft des Weltalls beweise, während eine ungeordnete, gesetzlose Bewegung ein Beweis der Unvernunft wäre. Der Gegensatz identischer Beharrung und ewigen Wechsels ist doch wahrlich ein Problem, fast muß man sagen, das Problem aller Probleme der platonischen Dialektik.[382] Die Beharrung aber des Gesetzes in den Veränderungen selbst war die Bestimmung des Unbestimmten, war das Sein des Werdens, war die Vernunft des Alls im Philebus und im Timaeus. Auf Grund der Voraussetzung der Beharrung des Gesetzes in den Veränderungen wurde im Staat (529 D) bereits die Aufgabe gestellt, die wahren Rhythmen der Bewegung und Gestalten der Bahnen der Himmelskörper nicht aus den Phänomenen abzulesen, sondern, ohne Widerspruch gegen die Phänomene, theoretisch zu deduzieren.

Oder will man zwischen dem Staat und den Gesetzen etwa den Unterschied annehmen, daß nach dem Staat das Gesetz der Planetenbewegung nicht bloß rein theoretisch deduziert, sondern überhaupt der Bewahrheitung an den doch einmal trügerischen Phänomenen der Sinne entzogen werden sollte, während die Gesetze umgekehrt auf Theorie ganz verzichten und das Gesetz selbst in den Phänomenen auffinden wollen? – Aber weder kann jenes die Meinung des Staats noch dieses die der Gesetze sein. Auf den Sinn jener Stelle des Staats ist nach dem in Kap. VI Gesagten nicht mehr nötig zurückzukommen.27 In den Gesetzen aber ist es genau dies, worauf die ganze Betrachtung zielt: daß die unmittelbare Aussage der Sinne – KLINIAS beruft sich (821 C) auf das, was man stets mit Augen sieht – zu verwerfen sei als geradezu eine Gotteslästerung, das heißt, als ein unerträglicher Anstoß gegen das Postulat der Vernünftigkeit, der gesetzlichen Ordnung des Alls; die Aussage nämlich, daß die Bewegungen der Planeten wirklich, wie dieser Name (Irrsterne) zu besagen scheint, ohne Gesetz und Ordnung verliefen, wie sie scheinen (822 B phainetai de pollas pheromenon ... ouk orthôs doxazetai). Was anders sollte wohl diesen falschen Schein berichtigen als die Theorie der Wissenschaft, die ja zu eben diesem Zweck herbeigerufen, eben hierdurch als unentbehrlich bewiesen wird? Und wenn nun die hier gestellte Aufgabe in der durch SIMPLICIUS überlieferten Fassung ausdrücklich Bezug nimmt auf das Verfahren der Hypothesis, das heißt der theoretischen Grundlegung, wenn gleichzeitig in erwünschter Klarheit der Erweis der Einstimmigkeit mit den Phänomenen gefordert, wenn die astronomische »Hypothese« ausdrücklich der Bedingung unterworfen wird, »die Erscheinungen zu wahren« (aufrechtzuhalten, nicht umzustoßen, [383] ta phainomena diasôzein), so ist man wohl berechtigt, dieselbe, aus der gereiftesten platonischen Dialektik geschöpfte Auffassung dieser Aufgabe in den »Gesetzen« ebenso vorauszusetzen, wie sie der Sache nach schon im »Staat« zu Grunde lag.

Somit steht auch hier die Sache so, daß die Grundsätze der platonischen Dialektik stillschweigend vorausgesetzt, keineswegs preisgegeben oder auch nur zeitweilig außer Acht gelassen sind. –


Wir sind am Ende der in PLATOS eignen Werken zu Tage liegenden Entwicklung seiner Dialektik angelangt. Aber noch weiß ARISTOTELES über spätere Wandlungen seiner Lehre zu berichten. Diese haben wir zum Schluß ins Auge zu fassen.

Damit verbindet sich noch eine weitere Aufgabe. Unsere Auffassung der Ideenlehre steht der des ARISTOTELES, die durch dessen Autorität bis heute so gut wie allgemein angenommen ist, diametral gegenüber. Um nun gegen eine so wuchtige Gegnerschaft genügend gerüstet zu sein, reicht es nicht hin, aus der sichersten Quelle, PLATOS eignen, in Vollständigkeit erhaltenen Werken, unsre Auffassung direkt erwiesen zu haben; sondern es ist noch nötig, sowohl die Quelle des Mißverständnisses bei ARISTOTELES selbst aufzuspüren, als auch die Irrigkeit seiner Deutung der Ideen durch die bei ihm selbst zu Tage tretenden widersinnigen Konsequenzen zu bestätigen.

Dies soll die Aufgabe unsrer beiden letzten Kapitel sein, deren erstes das allgemeine Verhältnis des ARISTOTELES zu PLATO in den Prinzipienfragen erörtert, während im zweiten seine Kritik der Ideenlehre sowohl der der platonischen Schriften als der der mündlichen Überlieferung, vorgeführt und mit dem bis dahin von uns festgestellten Tatbestand verglichen wird.

26

Man sehe über diese Frage den Kommentar von CONSTANTIN RITTER S. 229 ff. und dessen Schrift »Platons Stellung zu den Aufgaben der Naturwissenschaft« (Heidelberg 1919).

27

Vgl. auch RITTER, in der oben angeführten Schrift S. 76 – 83.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 381-384.
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