C. Die Kritik der Sinne.

[101] So vorbereitet treten wir nun in die Hauptuntersuchung ein, deren erster, gewichtigster Teil, nach den schon vorgeführten beiden bedeutenden Einleitungskapiteln, die tief angelegte, man darf sagen für alle Zeit grundlegende Kritik der Sinnlichkeit bringt. PLATO zeigt sich aufs ernsteste bemüht, den rechtmäßigen Anspruch der Sinnlichkeit ganz zu Worte[101] kommen zu lassen. Die Sinnlichkeit ist ihm nicht mehr bloß der finstre Nebel, den man durchdringen muß, um zum Lichte der Wahrheit empor zu gelangen, sondern es wird ihm ein wesentlicher Anteil am Erkennen, in genauer, unaufheblicher Beziehung zur Denkfunktion, zuerkannt. Zwar können die Sinne so wenig wie ein andrer Lehrmeister die Erkenntnis von außen in uns hineinfördern. Nicht die draußen befindlichen Dinge drücken – um die bezeichnenden Wendungen des Schlußteils vorwegzunehmen – ihr Siegel ist das weiche Wachs der Seele, noch sind die Sinne die Fangarme, um die Dinge als Beute der Seele einzufangen und an sie abzuliefern. Sie sind nichts mehr als die Veranlasser; die Erkenntnisselbst vermag das Bewußtsein, wie wir ja hörten, nur aus sich hervorzubringen. Aber doch liefern sie ihm die zu formende Materie, das zu Bestimmende = x. Sie stellen das Problem, in dessen Bearbeitung allein das sich auf sich selbst besinnende Bewußtsein zur bestimmten Erkenntnis gelangt. Und so sind sie für das Erkennen allerdings der unumgängliche Ausgangspunkt. Alle unsre Erkenntnis fängt, wie bei KANT, mit der Erfahrung (der Sinne) an, ohne aus ihr zu entspringen.

Um dies Ergebnis herbeizuführen, formuliert SOKRATES als erste Unterfrage zu der Hauptfrage: Was ist Erkenntnis? diese: Ist etwa Erkenntnis gleich Sinnesempfindung?

Nicht wenig läßt sich dafür geltend machen; und auf alles geht SOKRATES gründlich ein; so gründlich, daß der Mitunterredner eine gute Weile ihn selbst für einen strengen, fast überstrengen Sensualisten hält, und hernach nicht wenig bestürzt ist, wie er die von ihm selbst bis dahin mit größtem Schein verfochtene These auf einmal ziemlich gröblich zerzaust. Das ist nicht bloß gescherzt. So viel auch des attischen Salzes aufgewandt wird, uns den Bissen zu würzen, es ist ein herzhafter Nährgehalt darin. Das Faktum der Relativität und Variabilität des Sinnlichen wird im umfassendsten Sinne anerkannt und unerschrocken bis zur letzten Konsequenz verfolgt, unter voller Anerkennung des Verdienstes der heraklitisierenden Zeitphilosophie, nämlich der des feinsinnigen ARISTIPPUS, um ihre systematische Entwicklung. PLATO entnimmt dieser Philosophie geradezu gewisse Hauptzüge zu einer sehr fundamentalen Charakteristik der Erscheinung. Er kann sie ihr entnehmen, weil er in den Grundbestimmungen des Sinnlichen, so wie die ernstesten Sensualisten sie wahrheitsgemäß angaben,[102] den reinen Gegensatz des Charakters erkannte, der die Begriffserkenntnis unterscheidet.

Nichts ist – so hatte vielleicht schon jene sensualistische Lehre formuliert – an sich selbst Eines (ein Bestimmtes), weder ein Etwas noch ein so Beschaffenes; weder Substanz noch Quale, würde es in aristotelischen Kategorien lauten. Sondern eine jede Aussage (über Sinnliches) gilt nur beziehentlich: was groß, ist auch wiederum klein, was schwer, auch leicht, und so durchweg. Und nur durch Bewegung, überhaupt Veränderung, oder Mischung wird es, im Verhältnis zu einander, das, wovon wir mit falscher Benennung sagen, es sei es. Es ist niemals irgend etwas, sondern wird es nur (152 DE).

Man ersieht sofort, wie hier in der scharfen Formulierung der bekämpften These die positiven Prädikate, die der Begriffsfunktion eigen sind, schon vorbereitet werden, vielmehr bereits zu Grunde liegen: die bestimmte Setzung als Eines, an sich Seiendes, Etwas, so Beschaffenes und so fort. »Sein« besagt hier wie stets bei PLATO in strengerer, philosophischer Sprache: die Setzung im Denken, die Einheit der Bestimmung und damit der Prädikation. Ist nun alle Bestimmung Leistung des Denkens, so muß wohl das im Denken erst zu Bestimmende, vor dieser Bestimmung, ein ganz und gar Unbestimmtes sein. Diesen Charakter der Unbestimmtheit fand PLATO bereits scharf ausgeprägt in den von der Zeitphilosophie unter dem Einfluß des Heraklitismus nachdrücklich hervorgekehrten Merkmalen der durchgängigen Relativität und Variabilität des Sinnlichen. Also mußten den Sensualisten selbst die echten Merkmale des Denkens ungewußt und ungewollt vorschweben. »Nichts ist Ein Absolutes«, d.h. das schlechthin, nicht bloß beziehentlich das wäre, was wir von ihm prädizieren: so konnte man nur sprechen, indem man, wenngleich ohne Wissen und Wollen, die Forderung des Einen, schlechthin Bestimmten, d.h. des Begriffs, im Sinn hatte und als letzten Maßstab des »Seins«, der »Wahrheit« tatsächlich gebrauchte. Daher war es möglich diese Lehre durch sich selbst, gerade indem man sie zu ihrer reinsten Konsequenz erst durcharbeitete, zu vernichten und in ihren vollen Gegensatz umzuwenden; was SOKRATES mit größter Planmäßigkeit und sicherster Wirkung auch ausrichten wird.

Aber es gehört mit zu seinem Plan, daß man von dieser Absicht vorerst nichts ahnen darf. Er scheint vielmehr von[103] der sensualistisch-relativistischen Lehre ganz eingenommen zu sein, sie nur noch immer feiner und genauer ausarbeiten und gegen allerdings sofort sich aufdrängende Bedenken sicherstellen zu wollen. Man erkennt aber bald, welches sehr ernste Interesse ihn bei diesem Schelmenstück leitet. Es finden sich gerade hier einige sehr tief führende Andeutungen. Es verdient die genaueste Beachtung, wie sich von dem Satze des PROTAGORAS12 aus: »Der Mensch ist das Maß der Dinge«, d.h. das Subjekt für das Objekt, die Subjektivität des Erscheinens immer mehr zuspitzt. Was dem Menschen so und so erscheint, erscheint nicht ebenso auch einer andern Gattung lebender Wesen, was dem einen Individuum, nicht auch dem andern, ja ihm selbst nicht, sobald es in andrer Verfassung ist (154 in.). Es sind die bekannten Hauptpunkte der subjektivistischen Erkenntnislehre, von HERAKLIT und PROTAGORAS durch die kyrenaische Lehre bis zur eigentlichen Skepsis der Pyrrhoneer wie der zweiten und dritten Akademie. Alles Erscheinende wechselt und »wird« in dem unablässigen Wechsel der äußeren (Reiz-) Vorgänge und der diesen in genauem Parallelismus, als »Zwilling« entsprechenden organischen Prozesse (auch dieser Parallelismus ist erweislich kyrenaisch); es »wird« also immer nur momentan, so daß von einem bestimmten Sein, also überhaupt von einem Sein (da doch Sein Bestimmtheit besagt) gar nicht mehr zu reden wäre, weder von einem Etwas noch einem Dies oder Jenes oder Jemandes oder Mein (157 B; weder einem objektiven noch subjektiven »Sein«, liegt schon darin, und wird weiterhin deutlicher zu Tage kommen); oder überhaupt von irgend etwas, wodurch etwas gedanklich festgestellt würde; sondern man dürfte streng genommen nur aussagen: es wird, wird bewirkt, oder vergeht, wird geändert. Und zwar alles nur für den jedesmal Wahrnehmenden in seiner jeweiligen Verfassung. Ich bin nur wahrnehmend in Bezug auf dies und dies, das ich allemal wahrnehme, und es ist nur das und das für mich, den so Wahrnehmenden; also nur im Verhältnis zu einander sind wir beide, das jedesmalige[104] Objekt und das jedesmalige Subjekt der Empfindung – wenn wir sind, oder werden wir, wenn wir werden (das und das); denn so verknüpft »die Notwendigkeit« unser Sein, aber nicht (das eines jeden von uns) mit dem irgend eines andern. So sind also »wir«, ich und mein Objekt, nur in untrennbarer Wechselverknüpfung mit einander. Es gibt überhaupt kein isoliertes Sein oder Werden, sondern nur ein Sein oder Werden in Beziehung auf etwas: des Subjekts in Beziehung auf ein Objekt, des Objekts in Beziehung auf ein Subjekt (160 AB). Und so ist allerdings mir meine Empfindung notwendig wahr, weil zu meinem Sein (dem Sein für mich) gehörig, und bin ich allein Richter über das, was für mich ist, daß es ist, was für mich nicht ist, daß es nicht ist, ist also meine Empfindung für mich ohne Trug, erkenne ich somit, was ich wahrnehme (160 D). Und so wäre allerdings Wahrnehmung Erkenntnis.

Ganz beiläufig wird dabei, gleich im Eingang dieser Ausführungen, der subjektiven Erscheinung auch alle Ortsbeziehung abgesprochen (153 DE), weil ja diese schon das Erscheinende in eine gewisse Ordnung einstellen, also festlegen, bestimmen, zum selbständigen (rekognosziblen) Objekt machen würde. Also Ortsbeziehung ein Prinzip der Ordnung, der Bestimmung, und damit der Objektivierung; die nackte, reine Empfindung für sich ordnungs- und bestimmungslos, folglich in keinem Ort, ausdrücklich weder außer dem Wahrnehmenden noch (in einem örtlich zu nehmenden Sinne) in ihm. Die Ortsbestimmtheit selbst – und von der Zeitbestimmtheit müßte dasselbe gelten – relativiert sich damit, sie entsteht allemal und vergeht wieder im unteilbaren Moment jener Wechselrelation, in der und durch die allein überhaupt etwas »ist«, oder richtiger: »wird«. Sonst (so im Phaedrus) gilt wohl Räumlichkeit (und Zeitlichkeit) als Merkmal des Erscheinens in der Sinnenwelt; hier erfahren wir: dem rein Erscheinenden dürfte nicht einmal Raum- (oder Zeit-)beziehung beigelegt werden, weil es damit schon eine Bestimmtheit, also ein Sein erlangen würde. Ist darin nicht schon der Begriff eines empirischen Seins, eines Seins in der Erscheinung, unter den reinen Bedingungen der Zeit und des Raumes, vorbereitet? Im Theaetet zwar bleibt es bei dieser allein stehenden, nicht weiter verfolgten Andeutung; wir werden aber sehen, wie im Phaedo, im Parmenides, im Timaeus das Problem des Raumes von eben dieser Seite wieder aufgenommen und tief entwickelt, ja im Prinzip gelöst wird.[105]

Aber es soll vorerst der Relativismus seinen Triumphvoll auskosten. Selbst die strengsten aller Begriffe, die Grundbegriffe des Mathematischen: Gleich, Größer, Kleiner, werden in den Strudel der Relativität hineingerissen. Gerade an ihnen wird das Problematische der Tatsache der Relativität stark zum Ausdruck gebracht: wie sie es erschwert, über unsre eigenen Begriffe, unsre schlichtesten Grunderkenntnisse, als seltsame Phänomene in uns (phasmata en hêmin, 155 A), zur Klarheit und Übereinstimmung mit uns selbst zu kommen. Es ist sehr leicht die besonderen Fragen, die hier SOKRATES aufwirft, eben durch die Unterscheidung absoluter und relativer Aussage über Größen, aufzulösen, und es wäre kindisch, PLATO nicht zuzutrauen, daß er das ebenso gut gewußt habe wie wir (s. das nächste Kapitel). Aber sobald man weiter fragt: Wie haben wir denn die absolute Größe? kehrt doch die Schwierigkeit wieder. Die fest bestimmte Größe ist eine Thesis, eine eigene Setzung des Gedankens, nicht ein Datum. Absolute Bestimmungen liefert jedenfalls nicht die Erscheinung; sie besagt vielmehr gerade das Gebiet der beziehentlichen Setzung, und zwar grenzenloser Relativität, wenn sie nicht begrenzt wird im Begriff. Wie man aber mit bloßen Wechselrelationen ohne absolute Ansetzungen auskommen will, mit andrer Konsequenz als daß die Wahrheit der Erkenntnisselbst zu etwas schlechthin Fließenden, Unbestimmten und Unbestimmbaren wird, ist ewig nicht zu sagen. Und so bleibt für immer das Faktum der Relativität ein Gegenstand jener Verwunderung, die zum Philosophieren zwingt (155 D).

So wäre der Relativismus endlich bis zum äußersten zugespitzt. Mit tiefster Absicht, denn in dieser seiner äußersten Zuspitzung liegt schon seine Selbstaufhebung. Diese grenzenlose Relativität ist unausdenkbar; sie macht alle Bestimmtheit der Setzung, allen Sinn der Aussage zunichte. Nicht nur alles beharrende Sein fiele dahin, das möchte vielleicht noch denklich scheinen, sondern auch ein Werden würde sich nicht mehr aussagen lassen, auch nicht ein (bestimmtes) Erscheinen.

Diese Konsequenz ist durch alles schon so vorbereitet, daß sie ohne weiteres schon jetzt hätte ausgesprochen werden können. Aber noch immer gibt sich SOKRATES als interessierten Verteidiger der relativistischen Ansicht, wobei er sich tief in Argumente einläßt, die allbekannt sind als die der Kyrenaiker wie später der Pyrrhoneer und skeptischen Akademiker. Die[106] Absicht dieses Vorgehens ist durchsichtig: jener Charakter durchgängiger Relativität und Subjektivität ist wirklich der Charakter der reinen Sinnlichkeit; aber er fordert, ja schließt ein den Gegensatz eines Seins, welchem die entgegengesetzten Prädikate der identischen Bestimmtheit und damit Gegenständlichkeit zukommen. Es liegt also in dieser Zeichnung des extremen Relativismus, dessen Hauptzüge PLATO der Philosophie der Zeitgenossen entnehmen konnte, direkt die platonische Charakteristik der Erscheinung, indirekt die platonische Charakteristik der Idee.

Dies also wird die nun folgende Widerlegung herauszustellen haben. Zwar eine erste Reihe von Einwänden läßt eine deutliche Richtung auf dies Ziel hin nicht erkennen. Aber diese Einwände werden alsbald wieder zurückgenommen. Ich glaube (mit BONITZ u. a.), daß man darin eine bloße Parodie verfehlter Angriffe andrer Philosophen auf jene Lehre zu erkennen hat, die bei dieser Gelegenheit zurechtgewiesen werden, als an die wirkliche Feinheit und tiefere Tendenz jener Lehre überhaupt nicht heranreichend. Hat doch PLATO seine Sympathie mit den Vertretern jener Lehre von Anfang an nicht verhehlt und sie als die »viel feineren« gewissen andern »gar ungebildeten« nämlich grob materialistisch denkenden Philosophen (nach wahrscheinlicher Vermutung ANTISTHENES und den Seinen) gegenübergestellt.

Diese also mochten gegen PROTAGORAS und seine Nachfolger solche Argumente vorgebracht haben, wie: Warum soll der Mensch Maß sein und nicht das Schwein oder der Affe? Und wo bleibt dann die überlegene Wissenschaft, deren der Sophist sich rühmt und die er feilbietet? Soll etwa überhaupt kein Mensch und kein Gott an Wissen einem andern überlegen sein (161 f.)? Oder wie soll Wahrnehmen gleich Verstehen sein, wenn doch ein Fremder unsre Sprache hören kann ohne sie zu verstehen? Oder wie kann Wahrnehmen Erkennen sein, da ich das ursprünglich z.B. durch Sehen Erkannte durch Festhalten im Gedächtnis noch weiß, auch nachdem ich die Augen geschlossen habe, in welchem Fall ich also dasselbe zugleich wissen und nicht wissen würde?

Diese Angriffe, deren oberflächliche Sophistik gegen die Feinheit der bestrittenen Lehre stark absticht, werden von PROTAGORAS, den SOKRATES hier wiederholt (162 D, 166 A) zu seiner Verteidigung selbst das Wort nehmen läßt, mit Leichtigkeit[107] abgewehrt. Die in ihrer Schärfe verstandene Theorie des Relativismus wird es gar nicht gelten lassen, daß z.B. Wahrnehmung und Gedächtnis dasselbe zum Objekt hätten, sondern die Gedächtnisvorstellung ist eine neue Wahrnehmung (im weitern Sinne: ein Innewerden); der Strenge nach aber haben überhaupt nicht zwei Wahrnehmungen jemals dasselbe Objekt, ja auch nicht dasselbe Subjekt. So entschwindet freilich alle objektive Wahrheit. Aber das hindert nicht einmal einen Wertunterschied der Vorstellungen. Es sind zwar nicht die einen wahrer, aber wohl die einen erfahrungsmäßig ersprießlicher als die andern, und wer nun den, der in solcher Verfassung ist, daß ihm die minder ersprießlichen Vorstellungen kommen, so umzuwandeln versteht, daß ihm hernach ersprießlichere zuteil werden, den nennt man den Kundigen. Ein solcher ist etwa für die Pflanzen (denn auch die Pflanzen haben Empfindung) der Landmann, für den menschlichen Leib der Arzt, für die Staaten der Rhetor, und so für die Seele des Einzelnen der Sophist. Das ist wesentlich die Distinktion, durch die noch die spätere Skepsis sich, bei gänzlicher Verneinung einer uns erreichbaren theoretischen Einsicht, den Forderungen des »Lebens« gegenüber deckt, indem sie eine praktische Kunde, nach dem uns bekannten Begriff der »Empirie«, völlig ohne theoretischen Anspruch, nicht aufgehoben haben will.

Jenen Einwänden, sofern sie sich bis zur vollen Konsequenz der bestrittenen Lehre überhaupt nicht erhoben, ist damit nicht unrecht geantwortet. Aber die Lehre wird durch diesen Zusatz freilich nicht haltbarer, wie die nun erst folgende ernsthafte Kritik mit leichter Mühe klarstellt.

Sie beginnt mit einem mehr formalen Einwand. Die Theorie des Relativismus will ohne Zweifel sich selbst als objektiv wahr behaupten. Und doch schließt diese Theorie alle objektive Wahrheit aus. Sie widerlegt also sich selbst. Das wird in der spitzen Form ausgedrückt: Ist jede subjektive Meinung im Recht, so ist auch die subjektive Meinung dessen im Recht, welcher meint, daß nicht jede subjektive Meinung im Recht sei. – Der Einwand ist nicht ganz durchschlagend. Ein folgerechter Skeptiker wird darauf antworten dürfen, und wenigstens die späteren Skeptiker haben so geantwortet: es falle ihm gar nicht ein seine Lehre als objektiv gültige Theorie zu behaupten, sondern nur als etwas, das ihm so scheine und ihm, wenn freilich unbewiesen, doch auch unwiderlegt sei. Nur dann wird der Relativismus[108] durch dies Argument getroffen, wenn er inkonsequent genug ist sich selbst als objektiv gültige Theorie behaupten zu wollen. PROTAGORAS allerdings hat sich wohl diese Inkonsequenz eines »negativen Dogmatismus« zuschulden kommen lassen; wenigstens hat schon DEMOKRIT das gleiche Argument gegen ihn gerichtet. Schon von ARISTIPPUS aber möchte man es nicht annehmen; die spätere Skepsis, wie gesagt, hat diese Inkonsequenz vorsichtig vermieden.

Auch legt PLATO selbst offenbar größeres Gewicht auf das zweite, schon tiefer in die Sache dringende Argument: Für den strengen Relativismus bliebe allenfalls nur bestehen die Wahrheit des unmittelbar gegenwärtig Empfundenen; jede im geringsten darüber hinausgehende Aussage dagegen, insbesondre jede Aussage über Zukünftiges wäre unzulässig. Das schlechthin Gegenwärtige mag, was es scheint, auch sein; für das nicht Gegenwärtige jedenfalls ist das gegenwärtig Erscheinende nicht maßgeblich.

Das Argument zielt auf den uns bekannten sophistischen Begriff der Empirie als der glücklichen Vorausbeurteilung zu erwartender Ereignisse auf Grund der Beobachtung der regelmäßigen Folge der Erscheinungen. Das paßt besonders gut, wenn dieser Begriff, wie wir annahmen, von PROTAGORAS herrührt. Freilich braucht der konsequente Relativismus wiederum auch das nicht als objektiv gültige Erkenntnis zu behaupten, sondern, wie es der spätere skeptische Empirismus ebenfalls stets tut, nur als ein Surrogat der Erkenntnis, wofür wissenschaftliche Wahrheit gar nicht in Anspruch genommen wird, sondern bloß praktische Brauchbarkeit. Und eben diesen Standpunkt ließ ja PLATO selbst den PROTAGORAS in seiner Entgegnung auf die ersten Einwände einnehmen. Insofern würde das Argument kaum auch nur ihn ernstlich treffen.

Aber auch von PLATOS eignen Voraussetzungen aus ist das Argument nicht radikal genug. Es hat im Vordersatz noch etwas zu viel zugestanden. Das enthüllt die ungleich schärfere, den strengen Relativismus in der Tat unrettbar vernichtende Kritik, die jetzt noch besonders gegen den heraklitischen Unterbau der Lehre gerichtet wird. Soll schlechthin alles beständig in Veränderung begriffen sein, örtlicher zugleich und qualitativer, nichts in irgendwelcher Hinsicht auch nur einen Moment beharren, so läßt sich schon gar kein Subjekt mehr angeben, das sich ändre; es entschwindet uns immer wieder, indem wir[109] es auszusprechen und im Wort festzuhalten suchen. Und nicht bloß vom Objekt gilt dies, das wir von seiner sinnlichen Erscheinung unterscheiden möchten, sondern sogar von der Erscheinung selbst, die ja überhaupt für diesen Standpunkt als solche schon das Objekt wäre. Es bleibt also überhaupt nichts, das sich irgendwie im Gedanken festhalten ließe. Man dürfte nicht mehr sagen, es sei so oder nicht so; es gäbe gar kein So und Nicht-so mehr; kein so oder nicht so Sein, auch kein so oder nicht so Werden oder Erscheinen; sondern man müßte eine ganz neue Sprache ersinnen, um ein so ganz und gar wandelbares Verhalten nur irgendwie aussprechen zu können. Der zutreffendste Ausdruck wäre etwa das »Auch-nicht-irgendwie«; am allertreffendsten aber möchte es das Unbestimmte (apeiron) zu nennen sein (183 B).

In diesem Wort hat die Charakteristik des Sinnlichen ihre letzte Zuspitzung erreicht. Das Sinnliche, abgesehen von aller Funktion des Begriffs, wäre das schlechthin Unbestimmte, aus sich auch schlechthin Unbestimmbare, welches Prädikat der reinen Sinnlichkeit von PLATO später, im Parmenides und Philebus, ausdrücklich beigelegt wird. Alle Bestimmung also ist vielmehr Leistung des Denkens. Sogar nur im Hinblick auf die bestimmende Funktion des Denkens vermochte das Sinnliche charakterisiert zu werden als das noch nicht Bestimmte, erst zu Bestimmende. Im Hinblick auf sie aber ist es alsdann auch positiv zu charakterisieren als das zwar nicht aus sich, aber eben durch die Denkfunktion Bestimmbare. So vernahmen wir ja schon, daß dem rein Sinnlichen selbst die Ortsbeziehung abzusprechen wäre, weil der Ort schon eine Bestimmtheit wäre, die nicht ohne die bestimmende Funktion des Denkens möglich ist; und von der Zeitbestimmung gilt dasselbe. Also bleibt auch das nicht bestehen, was vorher noch der Sinnlichkeit zugestanden wurde, daß sie ein verläßlicher Zeuge wenigstens für das hier und jetzt Erscheinende sei. Es gibt gar kein Hier und Jetzt, d.h. keinen bestimmten Ort und Zeitpunkt ohne die bestimmende Funktion des Denkens. Das wäre ja auch schon ein »Dieses«, und wiederholt wurde doch gesagt: es gibt kein Dieses nach der strengen Konsequenz des ausschließlichen Relativismus.

Nicht ohne tiefere Absicht wird gerade an dieser Stelle die der relativistischen extrem gegenüberstehende Lehre der Eleaten in Erinnerung gebracht, die die Erscheinung, eben[110] ihrer durchgängigen Relativität wegen, schlechthin verwarf und nur das unwandelbar Eine der reinen Denksetzung gelten lassen wollte. Man sieht aber schon voraus, daß PLATO nach einem so verständnisvollen Eingehen auf die große Tatsache der Relativität nicht etwa bei diesem andern Extrem wird enden wollen. Zwar verschiebt er die Kritik der eleatischen Lehre auf eine bessere Gelegenheit; denn das sei eine zu große Sache, um hier so im Vorbeigehn abgetan zu werden. Aber daß er auch diese Partei nicht wird ergreifen können, ist schon jetzt durchsichtig. Der Ausdruck seiner Ehrfurcht vor der »ganz adligen Tiefe« des Parmenides lautet wie ein Vordersatz, der eine einschneidende Kritik als Nachsatz verheißt.

Statt dessen zieht er vor, in Form eines bloßen Nachtrags zum hiermit abgeschlossenen ersten Teil der Untersuchung eine kurze, doch ganz direkte und positive Ausführung der Denkfunktion zu geben, die in der Tat das Zentrum der ganzen Darlegung bildet und, wiewohl psychologisch eingeführt, wirklich das tiefste Fundament der platonischen Logik enthüllt.

12

Über die Deutung dieses Satzes sowie die Disposition und Einzelerklärung des ganzen auf diesen bezüglichen Teiles des Dialogs vgl. meine Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum, I; Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. III, S. 347 ff.; Philologus, Bd. L (N. F. IV), 262 ff. Wer wenigstens diese Dinge genauer erforschen will, den muß ich bitten diese Ausführungen nicht zu ignorieren.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 101-111.
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