A. Die Forschung (pag. 201-209).

[167] Wir setzen das Gastmahl nach dem Phaedo, mit dem es jedenfalls eng zusammengehört, hauptsächlich aus diesem Grunde: Im Phaedo war, was das Verhältnis der Idee zur Erscheinung trifft, immerhin ein Schwanken zwischen starrer Absonderung und strenger methodischer Beziehung, zwischen »Transzendenz« und »Immanenz« zu beobachten, so sicher im Schlußteil die Immanenz den Sieg behielt. Im Gastmahl ist jede Zweideutigkeit in dieser Hinsicht überwunden, die Immanenz in völliger Reinheit durchgeführt und recht absichtlich zum Mittelpunkt der Darstellung gemacht.

Denn das ist der Leitgedanke der Liebeslehre, in welche DIOTIMA den SOKRATES einweiht, und die allein von dem überreichen Inhalt des Werkes uns hier angeht: Das Streben ist unser Teil, sein Ziel ist unser nur in der Idee. In der Erkenntnis des Zieles schon liegt Seligkeit, aber zugleich heilige Leidenschaft des Verlangens; es ist Liebe im männlichen Sinne des Eros, des Zeugungstriebes, der ein erhöhtes menschliches[167] Leben in unbeschränkter Fortsetzung durch die Folge der Geschlechter aufbaut aus dem Drange der Verewigung.

Das Ziel kann nur sein: das sophon (202 A), »Weisheit«, d.h. reine Bewußtheit. Denn Weisheit »gehört zum Schönsten«, sie ist einer der Ausdrücke des letzten Ziels. Da nun der Eros zum Objekt das Schöne hat, so ist also der Eros Philosoph (204 B), d.h. Philosophie das Streben nach reiner Bewußtheit, nicht diese selbst. Als das Verlangen nach dem Schönen und Guten muß ja der Eros selbst nicht schön noch gut sein; man verlangt nur nach dem, was man nicht hat (201-202). Er ist aber ebensowenig das Gegenteil, sondern ein Mittleres. So ist richtige Meinung ohne begründende Rechenschaft nicht Wissen (202 A); denn wie könnte, was der Begründung entbehrt, Wissenschaft sein? Aber sie ist ebensowenig Nichtwissen, wenn sie doch das trifft, was »ist«; also ein Mittleres zwischen beiden.

Die doxa vertritt hier, entschiedener als im Meno, den Gebrauch der reinen Erkenntnisfunktion, vor ihrer Entwicklung bis zur Höhe des logischen Bewußtseins. So kann die »Philosophie« (203 E) fast in denselben Worten als »Mittleres zwischen Wissenschaft und Nichtwissen« erklärt werden. Nur bezeichnet sie entschiedener das Streben nach Wissenschaft. Kein Gott philosophiert, d.i. begehrt weise zu sein, denn er ist es; noch wer sonst weise ist, philosophiert; aber ebensowenig philosophieren die ganz Unwissenden, denn eben das ist das Schlimme des Unverstands, daß er sich dessen, was ihm fehlt, nicht bewußt ist, daher auch garnicht darnach strebt. – Das widerspricht keineswegs dem Staat (478), wonach das Stehenbleiben auf der Mittelstufe der doxa und nicht darüber hinaus Streben nicht Philosophie, sondern Philodoxie heißen soll. Hier (im Gastmahl) ist keine Rede von einem befriedigten Stehenbleiben; das »Mittlere« besagt vielmehr gerade das Streben von dem Nichtwissen, dessen man sich bewußt geworden, zur Wissenschaft, die als Ziel schon ergriffen und bewußt angestrebt ist; die logische Besinnung.

Schon das Streben aber nach dem Wahren erhebt über die Sterblichkeit. Der Eros ist nicht Gott noch Sterblicher; sondern auch zwischen diesen wieder das Mittlere: ein Dämon (202 E); als das Mittlere zugleich das Vermittelnde und Ergänzende (symplêroi), wodurch beides, Göttliches und Sterbliches (Idee und Erscheinung), ohne Vermischung doch gleichsam in Verkehr treten, und so »das Ganze in sich selbst verknüpft ist« (hôste[168] to pan auto hautô xyndedesthai). Diese systematische (Gorg. 504 A, s. o. S. 48) Verknüpfung wird als dialektos; bezeichnet: es ist die dialektische Vermittlung, durch welche Idee und Erscheinung, in strenger logischer Wechselbeziehung, zusammen ein gedankliches Universum darstellen. Wer auf diese Vermittlung sich versteht, heißt es, der ist ein dämonischer Mann, alle sonstige Kunde (hier im niedern Sinne des Technischen) ist banausisch (203 A). Dieser Schluß ist, abgesehen von der durchsichtigen Bildlichkeit der ganzen Darstellung, direkt beweisend für den wissenschaftlichen Sinn der dialektos:, wie wir ihn oben (S. 65) annahmen.

Die Doppelnatur des Eros wird dann mythisch und zwar genealogisch abgeleitet: der Eros hat zur Mutter Penia, die Armut, die Aporie, zum Vater Poros, den Erwerbstrieb. (Man erinnert sich an »Aporie« und »Euporie« im Phaedo, S. 135.) Aus dem (passiven) Bewußtsein des Nichtwissens (das ist die logische Armut, vgl. Lach. 201 B, Charm. 161 A) erzeugt der (aktive) Wissensdrang das methodische Wahrheitsuchen, Wahrheitschaffen. In Aporie und Euporie, im Problem und der aus der Not der Aporie selbst geborenen Lösung entwickelt sich die Forschung. Die Leidenschaft des Wahrheitsuchens wird in ganz persönlichen, zunächst dem SOKRATES entliehenen Zügen dargestellt (203 C D; es ist lehrreich, damit die ALKIBIADES-Rede, bes. 218 B, aber auch die mit wenigen Strichen meisterlich gezeichnete Gestalt des APOLLODORUS im Vorgespräch, 173 A – D, zu vergleichen). Es ist ein ewiges Sterben und Wiederaufleben. Was eben erworben war, zerrinnt wieder unter den Händen; ein schlagendes Gleichnis für das Schicksal der Forschung: daß jede Entdeckung, die eine Lücke des bisherigen Wissens schließt, nur wieder neue Probleme ans Licht bringt, den längst fest geglaubten Besitz unter einem neuen Gesichtspunkt wieder in Frage stellt.

Immer entschiedener aber lenkt die Betrachtung auf das Ziel selbst. Gegenstand des Eros ist: das wahre, an sich Schöne. Und zwar das ist sein Verlangen: daß es ihm zuteil werde (204 D). Was aber wird ihm damit zuteil? Setze an die Stelle des Schönen das Gute, so wirst du es erfahren: Seligkeit ist es, was er zuletzt will. Sie ist das Endziel, das Letzte, um weswillen man alles Andere will, es selbst um keines Andern willen (205 A). Zwar das Verlangen nach Glückseligkeit, so unbestimmt genommen, ist allen gemein und in dieser Unbestimmtheit betrüglich (205 D). Auf eine Seligkeit allein kommt es an: auf das Gute, daß es unser sei, und[169] zwar immer (206 A). Der letzte Drang des Eros also geht auf Unsterblichkeit, mit dem (Besitz des) Guten (207 A). Die Unsterblichkeit des Sterblichen aber ist Fortzeugung. Also geht der Eros an sich nicht auf das Schöne, sondern auf Erzeugung im Schönen. Das ist für das Sterbliche Ewigkeit und Unsterblichkeit (206 C – E), darin »sucht die sterbliche Natur nach Möglichkeit ewig und unsterblich zu sein« (207 D), sich zu verewigen. So verhält es sich mit dem leiblichen Leben, das schon im Individuum nur fortdauert durch beständige Selbsterneuerung; durch diese stellt aber auch eine Folge von Generationen zusammen ein Leben dar. Und dasselbe gilt auch fürs seelische Leben (207 E), ja, was am merkwürdigsten, für die Erkenntnis. Denn überhaupt nur so, durch beständige Selbsterneuerung, gibt es eine Unsterblichkeit, eine Selbsterhaltung (sôzetai, 208 A) für das Sterbliche, anders nicht.

Wir erinnern uns hierbei, daß Erhaltung überhaupt für PLATO der Sinn des Guten ist. Hier ganz besonders ist es nicht die zeitlose Ewigkeit, die nur den reinen Denkobjekten zukommt, sondern die Erhaltung im »Werden und Vergehen«.

Aus dieser Wurzel entspringt das Verlangen des Nachruhms, als einer Art geistiger Fortpflanzung. Darum strebt man in dichterischer Gestaltung, aber auch in technischen, ökonomischen, politischen Schöpfungen, sich gleichsam zu verewigen. Die größte Selbstverewigung aber ist die philosophische Erziehung des jüngeren Geschlechts. (Man beachte die immer wiederkehrende Stufenordnung: vom Somatischen zum Psychischen, zur Wissenschaft, schließlich zur Philosophie.) Deutlich spricht hier PLATO von sich und seiner eigensten Schöpfung, in der er sich verewigt hat, der Akademie. Auch mit den Dichtern aber und den sozialen Organisatoren hat er den Wettstreit aufzunehmen gewagt. Was das Erstere betrifft, betrachtet er offenbar hier wie im Phaedrus und Theaetet (s. o. S. 96) seine Dialoge selbst als Dichtwerke; um so unbedenklicher darf das merkwürdige Schlußwort des Gastmahls: daß nur der tragische Dichter auch der wahre Komödiendichter sei, auf ihn selbst (und vielleicht besonders auf das Verhältnis des Gastmahls zum Phaedo) bezogen werden. Was aber die sozialen Pläne betrifft, so kann man kaum umhin, nicht nur an das nächstfolgende, damals wohl schon weit geförderte Werk, den Staat, sondern nach dessen eigenen Andeutungen[170] (499 B, 502 A) zugleich an die sizilischen Beziehungen PLATOS zu denken.15

Dies die Vorhalle. Denn erst jetzt sollen wir in das innerste Heiligtum dieser Liebeslehre, d.i. in die eigentliche Philosophie geführt werden, wozu alles bisher Gesagte nur vorbereiten wollte. Bevor wir aber hineintreten, fordert das Verhältnis der tief merkwürdigen Sätze über die Unsterblichkeit des Sterblichen zu der These des Phaedo eine Aufklärung. Die Verschiedenheit scheint sich hier zum Widerspruch zu steigern. Das Gastmahl weiß nichts von persönlicher Unsterblichkeit, oder lehnt sie wohl gar bewußt ab; das ist der erste Eindruck, dem auch mehrere neuere Forscher nachgegeben und etwa darauf Schlüsse hinsichtlich der Abfassungszeit gebaut haben. Die Frage fordert eine behutsame Prüfung.

Im Phaedo galt: der Leib ist sterblich, ja für sich ohne jeden Bestand; die Seele dagegen unsterblich, nicht bloß in dem Sinne, daß sie, etwa nach göttlichem Beschluß, tatsächlich nicht untergehen soll; sondern, als das Eidos der Lebendigkeit selbst, ist sie an sich zu sterben unfähig. Genauer: die niederen Funktionen der Seele sind, weil an das Funktionieren leiblicher Organe gebunden, allerdings mit dem Leibe vergänglich, die Funktion der reinen Erkenntnis aber, in der die Seele erst ganz bei sich selbst ist, kommt in der völligen Befreiung vom Körper vielmehr erst zu ihrer rechten Entfaltung. Die Erkenntnis hienieden ist nur ein schwacher Abglanz einer höheren, welche die Seele ursprünglich nur in einem vom Leibe getrennten Zustand erhalten haben kann.

Das Gastmahl dagegen kennt überhaupt nur eine Unsterblichkeit durch beständige Selbsterneuung und Fortzeugung. Dieser ist auch der körperliche Organismus fähig, durch sie stellt auch eine Folge leiblicher Zeugungen nur ein Gesamtleben dar. Das könnte mit dem Phaedo noch wohl vereinbar scheinen, wenn dagegen der Seele Unsterblichkeit im strengen Sinne der Sterbensunfähigkeit zugeschrieben würde. Aber es heißt weiter: das gilt nicht nur vom Körper, sondern auch von der Seele, von Charaktereigenschaften, Sitten, Vorstellungen,[171] Neigungen und Abneigungen, Lust- und Schmerzgefühlen. Nun könnte Einer denken, dies seien nur jene niederen seelischen Funktionen, die auch nach dem Phaedo das Schicksal des Leibes teilen; es werde also nur, wie dort, der reinen Denkfunktion die wahre Unsterblichkeit vorbehalten. Allein, wie um eine solche Deutung ausdrücklich auszuschließen, fährt DIOTIMA fort: Und, was noch viel merkwürdiger ist, auch von den Erkenntnissen gilt das; wie am Einprägen, Behalten, Vergessen gezeigt wird; denn nur so kann das Sterbliche sich erhalten, nicht indem es gänzlich identisch fortbesteht. Allein durch diesen Kunstgriff hat das Sterbliche am Unsterblichen teil, sowohl der Leib als alles Andre, unmöglich auf andre Weise. SOKRATES wundert sich darüber zwar sehr: Sollte sich das wirklich so verhalten? Ganz gewiß! lautet die Antwort.

Eine Ausnahme zu Gunsten der reinen Erkenntnis in die Worte hineinzudeuten (wie SCHLEIERMACHER und STALLBAUM), ist angesichts dieses bestimmten Wortlauts eine gewagte Auskunft. Man müßte vergessen können, daß auch hernach (211 A) die Idee, die allein zeitlos ewig ist, nicht bloß von allem Leiblichen, sondern ebenso von Begriff und Erkenntnis (als seelischen Erlebnissen) geschieden wird, und daß auch dort der Mensch in der Anschauung der reinen Idee erst unsterblich wird, so wie er als Mensch (d.i. Sterblicher) es vermag (212 A), nicht aber, seiner reinen Erkenntniskraft nach, von Haus aus unsterblich ist. Ist das auch noch vereinbar mit dem Standpunkt des Phaedo, wonach die menschliche, individuelle Seele als solche ihrer Natur nach sterbensunfähig, notwendig immerseiend ist? So lehrt aber auch der Staat (611 A); wogegen nach dem Timaeus die Seele geworden, mithin an sich, ihrer eigenen Natur nach, auch vergänglich ist, freilich nach dem Willen des Welturhebers fortdauern soll. Es möchte am einfachsten scheinen, das Gastmahl eben hiernach zu deuten, zumal auch der Wortlaut im Timaeus (90 C) an das Gastmahl (212 A) anklingt. Aber zwischen ihm und dem Timaeus steht der Staat – diese Ordnung etwa zu ändern scheint unmöglich – mit seinen völlig dem Phaedo entsprechenden Sätzen.

Aber am Ende muß doch nicht ein wirklicher Widerspruch zwischen beiden Auffassungen obwalten. Die Fortdauer der Seele auch in ihrer reinsten Funktion kann mit der Erhaltung der leiblichen Organisation insofern gleichartig und von der zeitlosen Ewigkeit der Idee verschieden gedacht sein, als sie[172] auf beständiger Selbsterneuerung beruht, und es kann dabei doch der Unterschied, und zwar als in der Natur beider begründet, festgehalten werden, daß auf diese Weise das leibliche Leben sich nur eine gewisse Zeit, das seelische dagegen, wenigstens in seiner reinsten und eigensten Funktion, der der Bewußtheit, immer zu erhalten fähig ist. Auch im Phaedo und Staat wird nämlich die Fortdauer der Seele doch nicht der Ewigkeit der Idee schlechthin gleichgesetzt; sie kommt ihr nur am nächsten, ist ihr am verwandtesten (Phaedo 79 B, 80 B, Staat 611 E). Also dürfte es sich mit diesem ebenso wie mit manchen andern scheinbaren oder auch wirklichen Widersprüchen bei PLATO verhalten: daß jetzt die eine, jetzt die andre Seite einer im Grunde einstimmigen Ansicht hervortritt, in ihrer einseitigen Betonung aber die Kehrseite hier und da wenigstens im Ausdruck vernachlässigt, ja preisgegeben zu sein scheinen kann.

Doch wie immer die Differenz sich mag auflösen lassen, so daß wenigstens nicht ein klaffender Widerspruch bleibt: der Unterschied jedenfalls besteht und soll bestehen, daß im Gastmahl die immanente, weltbejahende Auffassung der Idee auch in Hinsicht dieses Punktes siegreich durchdringt. Dieser allgemeine Kontrast zwischen dem Gastmahl und dem Phaedo ist ja in die Augen fallend, ja man möchte ihn für bewußt und beabsichtigt halten. Dort war Philosophie »Uebung im Sterben«, hier ist sie die wahre und ewige Wiedergeburt, die Unsterblichkeit des Sterblichen selbst. Dort versank alles Irdische vor dem Lichte des Ewigen in Todesschatten, hier wird es wiedergeboren aus dem Ewigen zu selbst unvergänglichem Leben im Licht. Was sterblich ist, soll sterben, denn in diesem Sterben selbst gewinnt es das Leben. Die Vergänglichkeit des Irdischen wird nicht geleugnet oder versteckt, aber sie schadet nicht mehr, denn das »Stirb« ist die Bedingung des »Werde«. So aber ist nun auch das Flüchtige, Vergängliche emporgehoben zum Ewigen, und die Welt ist wieder unser. Die Folgen lassen sich auch im Einzelnen spüren, so in der durchaus positiven Würdigung der Dichtkunst, der Staatstätigkeit, insbesondre Gesetzgebung; man halte Gastm. 209 A – D gegen Phaedr. 258 C, 277 D, 278 C. Das ist nicht bloß augenblickliche Stimmung, es setzt eine tiefe innere Wandlung voraus. Gleichwohl lag im Schlußteil des Phaedo der Keim zu eben dieser Wendung, der nur unter dem Drucke der Stimmung, die ihn dort noch ganz gefangen hielt, zu freier[173] Entfaltung noch nicht gelangen konnte. Deshalb hat es keinen Anstoß, das Gastmahl dem Phaedo zunächst und in nicht zu großem zeitlichem Abstand folgen zu lassen.

Eine gewisse Schwierigkeit könnte nur noch darin gefunden werden, daß doch große Partieen des Staats ganz die Stimmung des Phaedo teilen, ganz in den dort vorwaltenden leidenschaftlichen Ton der Verurteilung alles Irdischen zurückzufallen scheinen. Aber dem steht gegenüber die sehr ernste Hinwendung zu den sozialen Aufgaben in erzieherischem Sinne, welche jedenfalls voraussetzt, daß eine edlere Gestaltung der irdischen Dinge an sich doch möglich ist. Eben darauf schienen ja einige deutliche Anspielungen im Gastmahl selbst (209) sich zu beziehen. Die Lösung dürfte darin zu suchen sein, daß der Staat nicht in einem Zuge, sondern durch einen längeren Zeitraum hindurch mit vielleicht großen Unterbrechungen geschrieben ist, wie sich aus andern Erwägungen als sehr wahrscheinlich erweisen läßt. Als das Gastmahl entstand, waren große Stücke des Staatswohl schon fertig, wenngleich das Werk erst später abgeschlossen und als ganzes veröffentlicht wurde. So würde sich alles einfach genug erklären. Übrigens ist ein wiederholter Stimmungsumschlag an sich keineswegs ausgeschlossen. Findet sich doch ein analoger Gegensatz nicht selten bei PLATO auch innerhalb eines und desselben Werks; so eben im Staat, und noch in den Gesetzen (vgl. z.B. Ges. 721 B C mit Gastm. 208). Gerade in die Zeit, in der wir uns die innerlich sehr eng zusammenhängenden Werke Phaedo, Gastmahl und Staat entstanden denken, fallen die dramatischsten Spannnungen seines Lebensganges: das Bündnis mit den Pythagoreern und mit DIO, das ihn mit den erhabensten Hoffnungen erfüllte; dann der jähe Absturz bis zur Gefahr des Todes und schimpflicher Knechtschaft, und wiederum die unverhoffte Befreiung, die Heimkehr und die Gründung der Akademie, die wenigstens den ernstesten Teil jener Hoffnungen zu verwirklichen bestimmt war. PLATO müßte der Dichter nicht sein, der er ist, wenn von dem allen seine Werke nichts erkennen lassen sollten.

15

PLATOS Staat und die Idee der Sozialpädagogik, Arch. f. soz. Gesetzg. u. Stat. VIII, 155 f. (sep. Berlin, CARL HEYMANN, 1895, S. 16 u. 30, und Ges. Abh. z. Sozialpädagogik, Stuttgart, 1907, I). Es könnte daher wohl GOMPERZ (Griechische Denker, II, 319) das Richtige getroffen haben, wenn er der ganzen Liebeslehre der DIOTIMA eine Beziehung auf DIO gibt.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 167-174.
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