2. Direkte Einführung der Ideenlehre (pag. 475-486).

[185] Wie in den ersten Darlegungen im Phaedo hat es PLATO auch hier nicht vermieden, zunächst bei der bloßen, schroffen Entgegensetzung von Idee und Erscheinung stehen zu bleiben.

Es ist kein Heil für die Staaten, so lange nicht Philosophie und Staatsgewalt sich in einer Hand vereinigen. Das ist der Gedanke, mit dem die neue, höhere Betrachtungsweise sich einführt. Es fragt sich: Wer ist Philosoph? Wer nach Weisheit oder Wissenschaft strebt, nicht nach der einen zwar, aber nach der andern nicht, sondern nach aller (475 C; vgl. 486 A); wen die Betrachtung der ganzen Zeit und des ganzen (Zusammenhangs des) Seins über alle Kleinlichkeit hinaushebt (vgl. Theaet. 173 E; auch die unbeschränkte Forschung, aphthonos philosophia, im Gastm. 210 D); wer keinen Lerngegenstand verschmäht, sondern im Lernen unersättlich, vor allem auch logischer Untersuchung zugänglich und geneigt (475 C D), kurz, wer, im Unterschied von andern Schaulustigen, Wahrheit zu schauen begierig ist. »Wahrheit«,[185] das heißt aber: den Begriff; dessen Eigentümlichkeit an den alten, man möchte sagen Schulbeispielen des Schönen, Gerechten, Guten und ihrer Gegenteile verdeutlicht wird.

Von diesen ist jedes für sich selbst Eines (476 A), indem es aber in Verbindung mit Handlungen, körperlichen Gegenständen sowie auch andern Begriffen allenthalben erscheint, stellt es sich, dieser Erscheinung nach, als Vieles dar. Also muß man scharf scheiden zwischen solchen, die bloß an dieser Vielgestaltigkeit der Erscheinung z.B. des Schönen sich erfreuen, während ihr Denken unfähig ist die Natur des Schönen selbst zu sehen und zu lieben, und andererseits denen, die imstande sind dem Schönen selbst zu nahen und es an sich zu betrachten. Wer nun schöne Gegenstände zwar gelten läßt, es selbst, die Schönheit, aber weder gelten läßt noch, wenn einer ihn zu dessen Erkenntnis führen will, zu folgen vermag, der lebt wie im Traum dahin. Wer dagegen als etwas anerkennt das Schöne selbst, wer ebensowohl dies wie das, was daran teilhat, wahrzunehmen vermag und dies beides streng auseinanderhält (476 D), der allein ist bei wachem Bewußtsein. Nur er hat Erkenntnis (gnômê), jener nur Vorstellung oder Meinung (doxa). Das wird er freilich anzuerkennen sich sträuben; aber es läßt sich ihm zwingend beweisen.

Der Beweis stützt sich auf die Korrelation von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand. Wer erkennt, erkennt Etwas, und zwar, was ist. Was nun vollkommen (schlechthin, ohne Einschränkung) ist, ist auch Gegenstand einer ebenso vollkommenen Erkenntnis; was in keiner Weise ist, muß auch ganz und gar unerkennbar sein. Gibt es dagegen etwas, das in gewissem Sinne ist, in gewissem Sinne nicht ist, also zwischen dem reinen Sein und dem völligen Nichtsein in der Mitte liegt, so muß diesem auch ein Mittleres zwischen reiner Erkenntnis und völliger Nichterkenntnis entsprechen. Dies heißt nun Meinung oder Vorstellung, doxa, die somit etwas Andres ist als Erkenntnis (477 B). Es wird dann ausführlich der Begriff des Vermögens (dynamis) festgestellt, das allein zu definieren ist durch das, worauf es sich erstreckt oder was es wirkt, so daß das Vermögen als dasselbe zu definieren ist, wenn es sich auf dasselbe erstreckt und dasselbe wirkt, als verschieden, wenn anders. Unter diese »Gattung« oder »Art« fällt ebensowohl die Erkenntnis als die Vorstellung; die aber doch verschieden sein müssen, da jene unfehlbar, diese fehlbar[186] ist (477 E). Also müssen sie eben darin verschieden sein, daß sie auf Andres sich erstrecken und Andres vermögen. Nämlich Erkenntnis erstreckt sich auf das Sein, um es zu erkennen, wie es ist, Vorstellung aber muß sich auf etwas davon Verschiedenes beziehen, also der Vorstellungsgegenstand (das doxaston) vom Erkenntnisgegenstand (dem gnôston) verschieden sein (478 A B). Gegenstand und Vorstellung ist aber wiederum nicht das (schlechthin) Nichtseiende, dem vielmehr das reine Nichtwissen entspricht. Sondern es ist jenes, wovon schon gesagt wurde, daß es gewissermaßen sei und auch nicht sei, daß es zwischen dem reinen Sein und dem völligen Nichtsein in der Mitte liege. Was nun ist dies? Möge der Treffliche uns antworten, der nicht zugeben mag, daß es ein »Schönes selbst«, eine Idee der Schönheit selbst gebe, die sich immer gleichermaßen identisch verhält (dasselbe, besonders aus dem Phaedo bekannte Merkmal der Idee 479 E, 484 B); der das viele Schöne zwar gelten läßt, aber es durchaus nicht leiden will, wenn einer behauptet, das Schöne sei Eines, und so das Gerechte und das Uebrige: Ist denn irgend etwas von dem vielen Schönen, Gerechten usw., das sich nicht auch wiederum häßlich, ungerecht usw. darstellt? Erscheint nicht das viele Doppelte auch ebenso gut halb wie doppelt, das Große und Kleine, Schwere und Leichte, so gut wie dies, auch das Gegenteil? Ist also jedes der Vielen oder ist es nicht das, wovon man aussagt, es sei es? Verhält es sich damit nicht vielmehr so, daß man weder bestimmt denken kann, es sei es, noch, es sei es nicht, noch beides, noch keins von beiden (479 C)? Bis zum Wortlaut (pagiôs noêsai Theaet. 157 A) werden wir an den Theaetet und die dortige Zeichnung des Extrems des Relativismus erinnert. – Damit sind die Thesen erwiesen.

Der Standpunkt der Betrachtung ist ganz unverkennbar der des Theaetet und der ersten Teile des Phaedo. In schroffem, unausgeglichenem Gegensatz stehen sich gegenüber das »reine«, schlechthin unwandelbare Sein der Idee (wiederholt unter diesem Namen, 479 A, 486 D), und das fortwährend wechselnde, »auf alle Weise sich verhaltende« (484 B) Pseudo-Sein der Erscheinung: jenes das »Sein, welches immer ist«, dieses »umhergetrieben vom Werden und Vergehen« (485 B): welcher Gegensatz auch in den weiteren, mehr in die praktischen Folgen aus der Grundthese eingehenden Betrachtungen in aller Schroffheit festgehalten wird.[187]

Eine ganz streng theoretische Richtung nimmt die Untersuchung dann erst wieder von pag. 502 ab, wo der genaue Plan der höheren Erziehung der zur Regierung Bestimmten entworfen wird. Es wird zu untersuchen sein, ob etwa hier jene Einseitigkeit der bloßen Entgegensetzung von Idee und Erscheinung überwunden wird, und die Idee in ihrer wahrsten Bedeutung, als Methode der Begründung von Wissenschaft, zu Tage kommt. Die große Darlegung teilt sich äußerlich in zwei zusammenhängende Beweisgänge, von denen der erste (503 ff.) das Ziel, nämlich die Idee des Guten, voranstellt, den Weg dahin bloß allgemein beschreibt, während der zweite (521 ff.) bei den Einzelschritten des Weges verweilt und nur am Schluß nochmals auf das Ziel selbst einen kurzen Blick wirft. Dieser Doppelgang ist offenbar nur im Hinblick auf die Größe und Schwierigkeit der Aufgabe gewählt; ein sachlicher Unterschied, der etwa wieder als ein neuer Stufenunterschied der Betrachtung zu verstehen wäre, liegt nicht vor. Allenfalls läßt sich sagen, daß die erste Erörterung sich etwas mehr in Gleichnissen bewegt, obgleich sie den nüchternen Sinn der reichlich verwendeten hyperbolischen Metaphern sofort anzugeben nicht unterläßt; während die zweite Erörterung von Anfang bis zuletzt nicht nur im Gehalt, sondern auch in der Form der Darstellung eine streng wissenschaftliche Haltung beobachtet.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 185-188.
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