I. Folgen für das Eine bei bezüglicher Nichtsetzung (Kap. 24).

[268] Die Ableitung der Folgen aus der negativen Hypothese, daß »das Eine nicht ist«, läßt radikal neue Ergebnisse nicht erwarten.[268] Aber doch will sie nicht bloß das formale Bedürfnis der allseitigen Durchführung des Themas befriedigen, sondern es hatte für PLATO ein selbständiges Interesse, zu zeigen, daß auch von dem, dessen Nichtsein angenommen wird, sich mancherlei wahre Aussagen tun lassen, daß die Hypothesis des Nichtseins selbst, sofern doch dies Nichtsein, und zwar in Hinsicht eines bestimmten Subjekts, gedacht wird und stattfinden soll, ein Sein einschließt. Sein und Nichtsein sind beide gleichermaßen Setzungen des Denkens und als solche gleichberechtigt, und sie schließen einander nicht nur nicht aus, sondern fordern sich gegenseitig und schließen sich ein. Diese Verflechtung des Seins mit dem Nichtsein, des Nichtseins mit dem Sein wäre, auch wenn sonst nichts dabei gewonnen würde, doch selbst ein lehrreiches, vielleicht das lehrreichste Beispiel jener »Mischung« der Begriffe, deren Feststellung und allseitige Beleuchtung mit der letzten Absicht dieser ganzen Untersuchung in wesentlichem Zusammenhang steht.

Die Ausführung dieses ersten Arguments ist nun besonders darin bemerkenswert, daß sie sich mit stärkster Betonung auf die Möglichkeit der Erkenntnis, auf den möglichen Sinn der Aussage stützt; wie es auch schon im Eingang der parallelen Beweisführung zur ersten Hypothesis (142 C, oben S. 251) geschah. Die Aussage vom Einen setzt doch dieses als einen Erkenntnisgegenstand (gnôston ti) verschieden von allen andern, gleichviel ob von ihm Sein oder Nichtsein ausgesagt wird. Denn auch im letzteren Falle erkennt man doch, was das ist, von dem das Nichtsein ausgesagt wird, und daß es von allem Andern verschieden ist. Also findet vom Einen, indem das Nichtsein von ihm ausgesagt wird, erstens Erkenntnis statt, sonst wüßte man gar nicht, was damit gesagt ist, zweitens Verschiedenheit von allem Andern; und so ist überhaupt vielerlei von ihm und in Beziehung auf es auszusagen. Es ist nicht, aber daß es an Vielem teilhabe, hindert nicht nur nichts, sondern es ist sogar notwendig, wenn doch eben von ihm, dem Einen, und nicht von irgend etwas Anderm, die Aussage gelten soll. Wäre es nicht Es, das Eine, von dem das Nichtsein gilt, sondern wäre von irgend etwas Anderm die Rede, so dürfte überhaupt kein Wort von ihm gesagt werden. Ist aber einmal die Voraussetzung gemacht, daß Es, das Eine, und nicht etwas Andres, nicht ist, so muß sowohl das »Es« als auch vieles Andre ihm zukommen (160 C – 161 A).[269]

Nachdem auf dieser Grundlage leicht eine Reihe weiterer Bestimmungen (Gleichartigkeit, Gleichheit und das Gegenteil) abgeleitet sind, folgt (161 E) die wichtige These, daß das nicht-seiende Eine auch am Sein in gewissem Sinne teilhaben muß; in dem Sinne nämlich, daß es sich so verhält, wie ausgesagt wird. Das Sein bedeutet die Wahrheit der Aussage; sagt sie die Wahrheit, so sagt sie aus, was ist; eine Erklärung, die wir für alle die besonders unterstreichen möchten, welche der Meinung sind, daß PLATO unter dem seinen Ideen zugeschriebenen Sein notwendig eine Existenz wie von Dingen verstanden haben müsse. – Es ist somit das Eine ein Nichtsseiendes. Denn wenn es nicht wirklich nichtseiend wäre, wenn es irgend von diesem Sein etwas nachließe zum Nichtsein, würde es sofort seiend sein. Es muß also, wenn es nichtsein soll, gleichsam als Band oder Fessel, die es beim Nichtsein festhält, haben das nichtseiend Sein; ebenso wie das Prädikat »seiend« zum Bande hat das nicht nichtseiend Sein, damit es vollkommen Sein sei. Denn so wird am meisten das Seiende sein, das Nichtseiende nichtsein, daß das Seiende teilhat am Sein (der Bejahung) des Seiend-Seins, am Nichtsein (der Verneinung) des Nichtseiend-Seins, wenn es vollkommen sein soll, das Nichtseiende aber an der Verneinung des Nicht-nichtseiend-Seins, der Bejahung des Nichtseiend-Seins, wenn es wiederum vollkommen nichtsein soll. Folglich hat das Sein am Nichtsein Teil und das Nichtsein am Sein, und hat also auch das Eine, wenn es nicht ist, notwendig Teil am Sein eben in Hinsicht des Nichtseins (161E – 192B). – Man hat bei jenem »Bande« (desmos) an die Kopula denken wollen. Aber es handelt sich hier nicht um die Verbindung des Subjekts und Prädikats, sondern um das Band, richtiger die Bande (Fessel) der logischen Notwendigkeit, in welchem Sinne auch im Gedicht des PARMENIDES sowohl desmoi (desmoi peiratos und peirata desmôn, Fesseln der Schranke und Schranken der Fesseln, fr. 8, 26 und 31 DIELS) als auch pedai (ebenfalls »Fesseln«, 8, 14; moir' epedêsen 8, 37; 10, 6) gebraucht sind.21

Künstlich allerdings und willkürlich mag zunächst die weitere Folgerung scheinen: Da also dem nichtseienden Einen sowohl[270] Sein als Nichtsein zukomme, so gebe es notwendig bei ihm auch den Umschlag (metaballein, metabolê) vom einen ins andre Verhalten, mithin Bewegung, Änderung, Werden und Vergehen. Denn einen Umschlag bedeute es allemal, wenn von Einem und Demselben ausgesagt wird, daß es sich so und auch wiederum nicht so verhält. Andrerseits aber könne Bewegung und sonstige Veränderung bei ihm nicht stattfinden, denn sie besage einen Übergang (metabainein) irgendwoher irgendwohin, das Nichtseiende aber ist nirgendwo, und so fort. Also stehe es vielmehr still, ruhe unbewegt, und so fort. Gegen diese Folgerungen lassen sich leicht Einwände erheben, zum Beispiel, Stillstand, überhaupt Beharrung, fordere nicht minder einen Ort oder überhaupt identisches Verhalten, von welchem doch gesagt wurde, daß es dem Nichtseienden nicht zukomme. Das alles wäre eher im Sinne der Gegenthese zu sagen; streng im Sinne der jetzigen These müßte Dasselbe anders bewiesen werden.

Besonders leuchtet nicht ein, wie der Übergang von der Bejahung des Nichtseins zur Verneinung des Nicht-nichtseins und umgekehrt jenen Denkübergang (vom Sein zum Nichtsein und umgekehrt) begründen soll, der den Begriff der Veränderung, des Werdens und Vergehens gibt. Aber man darf wohl, im Hinblick auf das 21. Kapitel, dem diese Betrachtung parallel läuft, als Grundmeinung annehmen: Da im Denken diese beiden fundamentalen Setzungsarten, Bejahung und Verneinung, existieren, so existiert notwendig auch der Denkübergang von Bejahung zu Verneinung und umgekehrt; er steht somit, als eine eigene Verfahrungsweise oder Funktion des Denkens, überhaupt zur Verfügung, steht also auch zur Verfügung, um das Werden denkbar zu machen. Die Bedingungen, die allerdings noch hinzukommen müssen, Zeit und Kontinuität, waren in der Parallelerörterung (Kap. 21) angegeben, sie waren hier nicht von neuem zu entwickeln, da das Interesse hier wesentlich nur darauf gerichtet ist, daß man, um auf den Denkübergang überhaupt zu kommen, ebenso gut vom Nichtsein wie vom Sein ausgehen kann. Immerhin bleibt bestehen, daß das Sein des Nichtseins und sein Zusammenhang mit dem Werden hier nicht zulänglich abgehandelt, sondern mehr nur, wie PLATO es liebt, auf das Erstaunliche des Problems hingewiesen und tiefer führende Gedankenreihen von fern angedeutet sind. Da aber gerade dies Problem im nächsten Dialog eingehend erörtert wird, so liegt die Vermutung nicht fern, daß seine speziellere[271] Behandlung in einer künftigen Schrift schon damals geplant war, und es mit Rücksicht darauf für jetzt bei diesem bloßen Präludieren bleiben durfte.

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Die Anlehnung an den Text des parmenideischen Gedichts ist auffallend; vgl. anêsei 162 in. mit Parm. 8, 14 anêke pedêsin, echein mit P. 8, 15. 31; ei ai ê mit esti gar einai – »Sein sei«; es ist zu verstehen: damit auch völlig »Sein ist« (die Aussage »es ist« im Vollsinn gelte).

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 268-272.
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