Elftes Kapitel
Die Mathematik ist ein treffliches Hülfsmittel im Erfassen göttlicher Wahrheiten

[14] Alle unsere weisen und frommen Kirchenlehrer sagen einstimmig, die sichtbaren Dinge seien Abbilder der unsichtbaren Welt, der Schöpfer könne auf diesem Wege wie in einem Spiegel und Räthsel erkannt werden. Daß aber die geistigen, an sich von uns unerfaßbaren Dinge auf dem Wege des Symbols von uns erkannt werden, hat seinen Grund in dem oben Gesagten, weil alle Dinge in einem uns freilich unbekannten Verhältniß zu einander stehen, so daß aus allen das Eine Universum sich herausstellt, und Alles in dem Einen Größten das Eine selbst ist. Und wiewohl jedes Abbild dem Urbilde ähnlich ist, so ist doch außer dem größten Abbilde, welches dasselbe, was das Urbild ist, in der Einheit der Natur kein Abbild so ähnlich oder auch gleich, daß es nicht unendlich ähnlicher oder gleicher sein könnte. Bedient sich nun unser Forschen des Abbildes, so darf natürlich hinsichtlich des Abbildes kein Zweifel obwalten, da der Weg zum Ungewissen nur durch das vorausgesetzte Gewisse geht. Nun bewegt sich aber alles Sinnliche wegen der in ihm überwiegenden materiellen Möglichkeit in einem gewissen beständigen Schwanken. Dagegen hat das Abstracte (abstractiora istis), nicht als ob es der materiellen Zuthat, ohne welche es sich nicht vorstellen läßt, ganz und gar entbehrte, große Festigkeit und Gewißheit, wohin die Sätze der Mathematik gehören. Daher haben die Philosophen in ihnen eine Anleitung zur philosophischen Forschung (exempla indagandarum rerum) gefunden; Keiner von den berühmten Alten hat schwierige Untersuchungen anders als mittelst der Aehnlichkeiten, welche die Mathematik darbietet, angestellt. So lehrte Boëtius, der berühmte römische Gelehrte, Niemand könne es in den göttlichen Dingen zu einer Wissenschaft bringen, der keine Uebung in der Mathematik habe. Setzte nicht Pythagoras, der erste Philosoph dem Namen und der That nach, alle Untersuchung der Wahrheit in das Verständniß der Zahl? Ihm folgten die Platoniker und die ersten christlichen Philosophen in dem Grade, daß unser Augustin und nach ihm Boëtius behaupteten, die Zahl sei im Geiste des Schöpfers das Urbild der zu erschaffenden Dinge gewesen. Wie konnte uns Aristoteles, der durch Widerlegung seiner Vorgänger als einzig dastehen wollte, in der Mathematik anders die Differenz der Arten lehren, als, indem er sie mit den Zahlen verglich? Indem er uns über die Gestalt der Naturwesen und wie eine in der andern enthalten ist, belehren wollte, nahm er zu den mathematischen Formen seine Zuflucht, wenn er sagte: wie das Dreieck in dem Viereck, so ist das Niedere in dem Höhern enthalten, um nichts von[14] unzähligen andern Vergleichungen zu sagen ... Hat nicht die Lehre der Epikuräer von den Atomen und vom leeren Raume, eine Ansicht, die Gott läugnet und alle Wahrheit aufhebt, nur durch den mathematischen Beweis der Pythagoräer und Peripatetiker ihre Widerlegung gefunden, indem sie zeigten, man könne nicht auf untheilbare und einfache Atome kommen, die Epikur als Princip annahm? Auf diesem Wege der Alten also, mit ihnen vorgehend, sagen wir, daß wir uns, da man einmal zum Göttlichen nur mittelst der Symbole gelangen kann, der mathematischen Zeichen wegen ihrer unzerstörlichen Gewißheit am Passendsten bedienen können.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 14-15.
Lizenz:
Kategorien: