Dreizehntes Kapitel
Von den möglichen Veränderungen (de passionibus) der größten und unendlichen Linie

[16] Ich sage also: gäbe es eine unendliche Linie, so wäre sie ein Dreieck, Kreis und Kugel; ebenso, gäbe es eine unendliche Kugel, so wäre sie Dreieck, Kreis und Linie; das Gleiche gilt vom unendlichen Dreieck und Kreise.

13. Von den möglichen Veränderungen (de passionibus) der größten und unendlichen Linie

Fürs Erste erhellt, daß die unendliche Linie eine gerade ist. Denn der Durchmesser eines Kreises ist eine gerade Linie, die Peripherie eine krumme, größer als der Durchmesser. Wenn nun diese krumme Linie kleiner wird, je größer der Kreis ist, so ist die Peripherie des größtmöglichsten Kreises gar nicht krumm, folglich ganz gerade; es coincidirt also das Kleinste mit dem Größten, wie aus der hier stehenden Figur erhellt. Fürs Zweite, um zu zeigen, daß die Linie das größte Dreieck, Kreis und Kugel sei, müssen wir sehen, was aus der endlichen Linie werden kann (quid sit in potentia lineae finitae); was sie werden kann, ist die unendliche Linie wirklich (actu). Erstens wissen wir, daß die endliche Linie länger und gerader sein kann, und es ist bereits gezeigt, daß die größte Linie die längste und geradeste ist. Zweitens, wenn die Linie a b um den festen Punkt a so herumbewegt wird, bis b zu c kommt, so entsteht ein Dreieck. Wird die Umdrehung vollendet, bis b zu seinem Anfange zurückkehrt, so entsteht ein Kreis. Wird endlich b zu seinem entgegengesetzten Punkte, d, gebracht, so entsteht ein Halbkreis; und wird nun dieser Halbkreis um den unbeweglichen Durchmesser b d herumbewegt, so entsteht die Kugel. In ihr gelangt die Potenz der Linie zur letzten und vollsten Entfaltung. Ist nun die unendliche Linie Alles actu, was die endliche in der Potenz ist, so folgt, daß sie Dreieck, Kreis und Kugel zugleich ist, was zu beweisen war.

13. Von den möglichen Veränderungen (de passionibus) der größten und unendlichen Linie

Ich werde jedoch noch deutlicher im Folgenden zeigen, daß, was in der Potenz endlich, in Wirklichkeit unendlich ist.[16]

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 16-17.
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