Sechzehntes Kapitel
Das Größte verhält sich zu Allem, wie die größte Linie zu den Linien

[18] Nachdem wir nun gezeigt haben, daß die unendliche Linie Alles in unendlicher Wirklichkeit ist, was die endliche der Potenz nach ist, sagen wir mit Uebertragung auf das absolut Größte, daß es in Wirklichkeit (actu) im höchsten Grade Alles ist, was in der Potenz des absoluten einfachsten Wesens liegt. Was möglich ist, ist das Größte in Wirklichkeit auf die größte Weise, nicht sofern es aus dem Möglichen ist, sondern sofern es dies im höchsten Grade ist (non ut ex possibili est, sed ut maxime est), wie aus der Linie das Dreieck entsteht (educitur). Die unendliche Linie ist aber nicht ein Dreieck, wie es aus einer endlichen Linie entsteht, sondern in Wirklichkeit das unendliche Dreieck, das mit der (unendlichen) Linie Eins ist. Sodann ist die absolute Möglichkeit im Größten nicht etwas Anderes (non aliud), als das Größte in Wirklichkeit selbst, wie die unendliche Linie die Kugel in Wirklichkeit ist. Aus dem Obigen folgt auch die wichtige philosophische Wahrheit, daß im Größten das Kleinste das Größte ist und daß es über allen Gegensätzen steht. Ja, die ganze Gotteslehre, so weit sie von uns erkennbar ist, folgt aus unserm Principe, weßhalb der große Erforscher der göttlichen Dinge, Dionysius der Areopagite in seiner mystischen Theologie sagt, der selige Barptolemäus habe die Theologie meisterhaft verstanden, indem er sage, dieselbe sei die größte und kleinste zugleich; denn wer dies versteht, versteht Alles, er geht über den natürlichen Verstand hinaus. Denn Gott, das absolut Größte, ist nicht Dieses und ein Anderes nicht, er ist nicht da und dort nicht, sondern gleichwie Alles, so auch nichts von Allem. Eben deßhalb ist er unbegreiflich, nur er begreift sich selbst. Dionysius suchte von keinem andern Principe aus, als dem unsrigen, zu zeigen, daß Gott nur durch die Wissenschaft des Nichtwissens gefunden werde. In Anwendung dieses Princips müssen wir sagen: Gott ist die einfachste Wesenheit (essentia) von allen Wesenheiten; alle sind, was sie sind, waren oder sein werden, actuell und ewig nur in ihm. Die Wesenheit von Allem ist in der Art eine jede, daß sie zugleich Alle ist (ita est quaelibet, quod[18] simul omnes), und keine besonders. Die größte Wesenheit ist wie die unendliche Linie das adäquateste Maaß von allen.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 18-19.
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