Neunzehntes Kapitel
Uebertragung des Dreiecks auf die Trinität des Größten

[21] Lassen wir uns nun über den Satz: »Die größte Linie ist das größte Dreieck« durch unser System des Nichtwissens belehren!

Die größte Linie ist ein Dreieck, und weil die größte Linie die einfachste ist, so ist sie das einfachste Dreifache (trinum) und jeder Winkel des Dreiecks eine Linie, da das ganze Dreieck Linie ist. Die unendliche Linie ist also dreifach, und da es nicht mehrere unendliche geben kann, ist diese Dreiheit Einheit. Ferner: da der der größern Seite entgegenstehende Winkel größer und hier von einem Dreieck die Rede ist, das unendliche Seiten hat, so sind die Winkel die größten und unendlich. Einer ist daher nicht kleiner, als die andern, noch zwei zusammen größer als der dritte. Einer ist daher im andern, und alle drei sind das Eine Größte. Sodann: wie die größte Linie nicht mehr Linie ist, als Dreieck, Kreis oder Kugel, sondern in Wahrheit alles dieses ist, ohne Zusammensetzung, so ist auch das Größte wie die größte Linie, und dies können wir die Wesenheit nennen, wie das größte Dreieck, – das ist die Dreieinigkeit, wie der größte Kreis – die Einheit, wie die größte Kugel – die höchste Wirksamkeit. Die Wesenheit ist nichts Anderes, als die Dreieinigkeit, diese nichts Anderes, als die Einheit etc. Wir haben hier nicht einen Winkel, dann noch einen und endlich einen dritten, wie bei endlichen Dreiecken, die etwas Zusammengesetztes sind, sondern das Eine ist ohne Vervielfältigung dreifach (unum triniter est). Mit Recht sagt daher der gelehrte Augustin: so wie du anfängst die Dreieinigkeit zu zählen, so verlierst du die Wahrheit. In den göttlichen Dingen muß man in einem einfachen Begriffe, so weit es nur immer möglich ist, die Gegensätze in Eins zusammenfassen, indem man ihrem Auseinanderfallen in Gegensätze zuvorkommt. (Oportet enim in divinis simplici conceptu, quantum hoc possibile est, complecti contradictoria, ipsa antecedenter praeveniendo.) So darf man in den göttlichen Dingen nicht Unterscheiden und Nichtunterscheiden als zwei Gegensätze (contradicentia) auffassen, sondern muß sie a priori (antecedenter) in ihrem einfachsten Princip fassen, wo Unterscheiden und Nichtunterscheiden noch nicht etwas Verschiedenes sind; dann versteht man, daß Dreiheit und Einheit Dasselbe sind. Denn wo Unterscheiden zugleich Nichtunterscheiden ist, da ist die Dreiheit Einheit, und umgekehrt: wo Nichtunterscheiden zugleich Unterscheiden ist, da ist die Einheit Dreiheit. So verhält es sich auch mit der Mehrheit der Personen und der Einheit des Wesens; denn wo[21] Mehrheit Einheit ist, ist die Dreiheit der Personen dasselbe, wie die Einheit des Wesens, und umgekehrt: wo die Einheit Mehrheit ist, ist die Einheit des Wesens Dreiheit in den Personen. Klar sieht man dies an unserem Beispiele, wo die einfachste Linie Dreieck ist und das einfachste Dreieck eine Linie. Man sieht hier auch, daß man die Winkel dieses Dreiecks nicht zählen kann, denn jeder ist in jedem, wie der Sohn sagt: »ich im Vater und der Vater in mir.«...

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 21-22.
Lizenz:
Kategorien: