Einundzwanzigstes Kapitel
Uebertragung des unendlichen Kreises auf die Einheit

[22] Der Kreis ist die vollkommene Figur der Einheit und Einfachheit. Das Größte, unter dem Bilde des unendlichen Kreises betrachtet, ist daher die absolute Einheit und Identität seines Wesens, ohne Verschiedenheit und Anderssein, so daß seine Güte nicht etwas Anderes ist, als seine Weisheit, sondern dasselbe. Alle Verschiedenheit (diversitas) ist in ihm Einheit. Da mithin seine Macht, wenn ich[22] so sagen darf, die geeinetste (unissima) ist, so ist sie auch die stärkste und unendlichste (infinitissima). In der geeinigten Dauer des Größten ist die Vergangenheit nicht etwas Anderes, als die Zukunft und die Zukunft nichts Anderes, als die Gegenwart – Ewigkeit ohne Anfang und Ende. Da im größten Kreise auch der Durchmesser der größte ist, und es nicht mehrere Größte geben kann, so ist der größte Kreis so sehr geeinet (in tantum unissimus), daß Durchmesser und Umkreis Eines sind. Ein unendlicher Durchmesser hat aber auch eine unendliche Mitte oder Centrum. Im größten Kreise sind mithin Centrum, Durchmesser und Peripherie Eines. Daraus folgert unser System des Nichtwissens (ignorantia nostra), daß das Größte auch auf das Vollkommenste in Allem ist, einfach und untheilbar, weil das unendliche Centrum, außer Allem, Alles umfassend, weil unendliche Peripherie, Alles durchdringend, weil unendlicher Durchmesser; Anfang von Allem, als Centrum, Ende von Allem als Peripherie, die Mitte von Allem als Durchmesser; die wirkende Ursache (causa efficiens) als Centrum, die gestaltende (formalis) als Durchmesser, die zielgebende oder Endzweck (finalis) als Peripherie; Schöpfer (dans esse) als Centrum, Regierer (gubernans) als Durchmesser, Erhalter als Peripherie.

Nun begreifst du, daß das Größte mit keinem Wesen identisch noch von ihm verschieden ist (maximum cum nullo est idem neque diversum) und daß Alles in ihm, aus ihm und durch es ist, weil es Umkreis, Durchmesser und Centrum ist. Es umfaßt also Alles, was ist und nicht ist, so daß nicht sein in ihm heißt am meisten sein (non esse in ipso est maximum esse). Es ist das Maaß aller kreisförmigen Bewegung, wie der des Uebergangs aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit und der Rückkehr dieser in jene, der Verbindung des Princips mit dem Individualleben und der Auflösung des Letztern in sein Prinzip, das Maaß aller vollkommenen kreisförmigen Gestalten und kreisförmigen Thätigkeiten, aller Bewegung über sich (super se) und zu dem Anfange zurück. Nur das Eine bemerke ich noch: die ganze Gotteslehre ist kreisförmig und bewegt sich im Kreise (omnis theologia circularis est et in circulo posita existit), so daß die (göttlichen) Attribute sich gegenseitig bewahrheiten: die höchste Gerechtigkeit ist die höchste Wahrheit und die höchste Wahrheit ist die höchste Gerechtigkeit. Dehnst du diesen Gedanken weiter aus, so werden dir viele theologische Materien, die dir jetzt noch verborgen sind, ganz klar werden.[23]

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 22-24.
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