Zweiundzwanzigstes Kapitel
Die göttliche Vorsehung einigt das Entgegengesetzte

[24] Um die Probe zu machen, daß wir durch unsere Prämissen zu tiefer Erkenntniß geführt werden, wollen wir nun das Gesagte auf die göttliche Vorsehung anwenden.

Da gezeigt ist, daß Gott der Inbegriff (complicationem) von Allem ist, auch von dem Entgegengesetzten (etiam contradictoriorum), so kann seiner Vorsehung nichts entgehen. Wir mögen etwas thun oder das Gegentheil hievon, oder auch gar nichts, so war Alles in dem Vorhersehen Gottes enthalten (totum in Dei providentia implicitum fuit). Nichts wird sich also ereignen, außer gemäß der göttlichen Vorsehung. Wenn man daher auch annehmen wollte, Gott habe Vieles vorhersehen können, was er nicht vorhersah und nicht vorhersehen wird, und wenn er auch Vieles vorhergesehen hat, was er auch konnte nicht vorhersehen, so erleidet doch die göttliche Vorsehung keinen Zuwachs oder Verminderung, wie folgende Vergleichung zeigt. Die menschliche Natur ist Eines und einfach. Würde nun auch ein Mensch geboren, dessen Geburt man nie erwartete, so würde doch die menschliche Natur da durch eben so wenig einen Zuwachs erhalten, als durch sein Nichtgeborenwerden einen Abgang erleiden, wie sie auch durch das Sterben der Geborenen keinen Abgang erleidet; denn die menschliche Natur faßt eben so wohl Die in sich, welche existiren, als auch Die, welche nicht existiren und auch nicht existiren werden, wiewohl sie hätten existiren können. Würde sich daher auch ereignen, was sich nie ereignen wird, für die göttliche Vorsehung wäre dies kein Zuwachs (nihil adderetur divinae providentiae), weil sie sowohl das umfaßt, was geschieht, als auch das, was nicht geschieht, aber geschehen kann. Denn gleichwie in der Materie Vieles möglich ist, was nie geschehen wird, so ist im Gegentheile Alles, was nicht geschieht, obgleich es geschehen kann, in der göttlichen Vorsehung nicht möglich, sondern wirklich (non possibiliter, sed actu), woraus nicht folgt, daß Jenes (das Mögliche) auch wirklich eintrete. Wie die unendliche Einheit alle Zahl, so faßt die Vorsehung Gottes Unendliches in sich, sowohl was geschieht, als auch was nicht geschieht, aber geschehen kann, und das Gegentheil, wie die Gattung die entgegengesetzten[24] Differenzen in sich faßt. Und was die göttliche Vorsehung weiß, weiß sie nicht mit einem Zeitunterschiede, denn sie weiß die Zukunft nicht als Zukunft, die Vergangenheit nicht als Vergangenheit, sondern ewig, das Veränderliche in unveränderlicher Weise. Daher ist sie unveränderlich und nichts kann ihr entgehen (inevitabilis), nichts ihr entweichen. Alles hat in Bezug auf sie Nothwendigkeit (omnia ad ipsam providentiam relata necessitatem habere dicuntur), und zwar mit Recht, weil Alles in Gott Gott ist, der die absolute Nothwendigkeit. Hieraus erhellt, daß das, was sich nie ereignen wird, in der oben dargegebenen Weise in Gottes Vorsehung enthalten ist, auch wenn es nicht als künftig eintretend vorhergesehen ist. Gott muß nothwendig vorausgesehen haben, was er vorausgesehen hat, weil seine Vorsehung nothwendig und unveränderlich ist, wiewohl er auch das Gegentheil von dem vorhersehen konnte, was er vorhergesehen hat; denn mit dem Inbegriffe ist noch nicht der inbegriffene Gegenstand, wohl aber mit der Entwicklung der Inbegriff gesetzt (posita complicatione non ponitur res complicata, sed posita explicatione ponitur complicatio). Ich kann morgen lesen oder nicht lesen – was ich immer thue, ich entgehe der Vorsehung nicht, die das Entgegengesetzte umfaßt, weßhalb, was ich immer thue, der göttlichen Vorsehung gemäß geschieht.

So sehen wir, wie wir nach den Prämissen, die uns zeigen, daß das Größte allen Gegensätzen vorausgehe, weil es Alles in sich faßt, über die göttliche Vorsehung und verwandte Gegenstände uns einen richtigen Begriff bilden können.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 24-25.
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