Drittes Kapitel
Die präcise Wahrheit ist unerfaßbar

[7] Da es an und für sich klar ist, daß das Unendliche und Endliche in keiner Proportion zu einander stehen, so ist auch das ganz klar, daß man da, wo sich Ausschreitungen (excedens et excessum) finden, auf ein einfach Größtes nicht kommt, weil die Ausschreitungen endlich sind, das Größte aber als solches nothwendig unendlich ist. Nimmt man also irgend einen Gegenstand, der nicht das schlechthin Größte selbst ist, so läßt sich immer ein größerer auffinden. Und da die Gleichheit eine stufenmäßige ist, so daß etwas dem Einen gleicher ist, als dem Andern, nach der generischen, specifischen, räumlichen, zeitlichen etc. Uebereinstimmung und Verschiedenheit, so erhellt, daß nicht Zwei oder Mehrere so ähnlich und gleich sich finden lassen, daß sie nicht unendlich ähnlicher sein könnten. Zwischen dem Maaß und dem Gemessenen wird bei der größten Gleichheit immer noch eine Differenz übrig bleiben. Der endliche Verstand kann mithin die Wahrheit der Dinge durch Aufsuchung der Aehnlichkeit (per similitudinem) nicht präcis erkennen. Denn die Wahrheit ist ein nicht Mehr und nicht Weniger, ein gewisses Untheilbare, was von Allem, das nicht die Wahrheit selbst ist, nicht präcis gemessen werden kann, so wenig, was nicht Kreis ist, den Kreis, dessen Sein in einem gewissen Untheilbaren besteht, messen kann. Unser Verstand, der nicht die Wahrheit ist, erfaßt daher die Wahrheit nie so präcis, daß nicht ein unendlich präciseres Erfassen möglich wäre, er verhält sich zur Wahrheit wie das Polygon zum Kreise. Mögen auch der Winkel noch so viele gemacht werden, so wird doch das Polygon nie dem Kreise gleich, bis es sich in die Identität mit demselben auflöst. Wir wissen somit von der Wahrheit nichts Anderes, als daß sie in präciser Weise unerfaßbar ist. Sie ist die absoluteste Nothwendigkeit, die nicht mehr und nicht weniger ist, als sie ist, unser Verstand ist die Möglichkeit. Das Was (quidditas) der Dinge, das die Wahrheit des Seienden ist, bleibt in seiner Reinheit unerreichbar. Alle Philosophen haben es gesucht, aber Keiner, wie es an sich ist, gefunden. Je gründlicher aber unsere Ueberzeugung von diesem Nichtwissen ist, desto mehr werden wir uns der Wahrheit selbst nähern.[7]

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 7-8.
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