Zehntes Kapitel
Vom Geiste des Universums

[59] Einige betrachten die Bewegung, welche die Verbindung der Form und Materie bewirkt, als eine Kraft (spiritum), die die Vermittlung zwischen Form und Materie vollzieht und dachten sich dieselbe über den freien Himmelsraum, die Planeten und die irdische Welt verbreitet. Sie nannten sie atropos, gleichsam das Bewegungslose, weil sie glaubten, der Eine Himmelsraum habe eine einfache Bewegung von Ost nach West; sodann klôthô, das ist: Umdrehung, weil sich die Planeten durch Umdrehung gegen den Himmelsraum von West nach Ost bewegen; endlich lachesis, d.i. Zufall (sors), weil der Zufall die Welt regiert. Die Bewegung der Planeten ist die Entfaltung der ersten Bewegung und die Bewegung im Zeitlichen ist die Entfaltung der Planetenbewegung. In den irdischen Dingen sind einige Ursachen von gewissen Folgen verborgen, wie die Saat im Samen enthalten ist; daher sagten die Alten, was in der Weltseele wie zu einem Knäuel eingewickelt sei, werde durch die Bewegung entwickelt[59] und entfaltet. Die Philosophen gingen nämlich davon aus: wie ein Künstler, der eine Statue in Stein aushauen will, die Form derselben als Idee in sich hat, und dann mittelst einiger Instrumente die Form der Statue nach seinem idealen Bilde abbildlich darstellt, so trage die Weltseele die Ideen der Dinge in sich und bringe sie mittelst der Bewegung in der Materie zur Wirklichkeit; diese Bewegung erstrecke sich über Alles; daß ein Ding in Wirklichkeit gerade dieses Ding sei, werde durch diese Bewegung bestimmt. Diese verbindende Kraft (spiritum connexionis) gehe aus Beidem: der Möglichkeit und der Weltseele hervor. Denn da die Materie durch ihre Gefügigkeit ein gewisses Verlangen nach der Form hat, diese aber nach der Wirklichkeit strebt, jedoch nicht absolut bestehen kann, da sie kein eigenes Sein hat und auch nicht Gott ist, so senkt sie sich in die Möglichkeit (Materie) herab, um beschränkt in ihr zu sein, und wirkt begrenzend, vollendend und bestimmend. Aus dieser gegenseitigen Durchdringung entsteht die beide verbindende Bewegung. Diese bewegende Kraft geht durch das ganze Universum und alle seine Theile und heißt Natur. Die Natur ist demnach der Inbegriff (complicatio) von Allem, was durch Bewegung entsteht. Wie nun diese Bewegung aus dem Allgemeinen herab sich specialisire (quomodo ab universali contrahitur usque in particulare), mit Beibehaltung der stufenmäßigen Ordnung, mag aus folgendem Beispiele erhellen. Wenn ich sage: Gott ist, so gehen diese Worte aus einer gewissen Bewegung hervor, in einer bestimmten Ordnung, so daß ich zuerst die Buchstaben, dann die Sylben, dann die Worte, zuletzt den ganzen Satz ausspreche, obwohl das Gehör diese Ordnung nicht unterscheidet. So steigt die Bewegung aus dem Allgemeinen in das Particulare herab, und erlangt hier zeitlich oder natürlich eine concrete Gestalt. Diese Bewegung, diese Kraft (spiritus) kommt von dem heiligen Geiste (descendit a sp. s.), der durch die Bewegung selbst Alles bewegt. Wie in dem Redenden ein gewisser Geist ist, der beim Reden von ihm ausgeht und in der oben angegebenen Weise sich concret ausgestaltet, so geht von Gott, der ein Geist ist, alle Bewegung aus. Denn also spricht die Wahrheit: »Nicht ihr seid es, die da reden, sondern der Geist eures Vaters redet in euch.« Dies gilt auch von allen andern Bewegungen und Thätigkeiten. Dieser Geist nun (die Bewegung im Universum) ist ein erschaffener Geist, ohne den nichts eine Einheit ist und bestehen kann; die ganze Welt und Alles in ihr ist durch diesen Geist, der den Erdkreis erfüllt, in der naturgemäßen Verbindung; die Möglichkeit ist durch seine Vermittlung Wirklichkeit und die Wirklichkeit ebendadurch in der Möglichkeit. Es ist dies die Bewegung, die Alles zur liebenden Vereinigung und Einheit führt, so daß Alles Ein Universum bildet. Während Jedes seine besondere Bewegung hat,[60] um auf die beste Weise das zu sein, was es ist, und Keines sich ganz gleich wie das Andere bewegt, so nimmt doch Jedes an der Bewegung eines Jeden in seiner Weise, mittelbar oder unmittelbar Antheil (wie die Elemente an der Bewegung des Himmels und alle Glieder an der Bewegung des Herzens), auf daß es Ein Universum sei. Durch diese Bewegung existiren alle Dinge auf die bestmögliche Weise, sie erhalten sich in sich und in ihrer Art durch die natürliche Verbindung der verschiedenen Geschlechter, die durch natürliche Bewegung geeint, wenn auch individuell gesondert sind. Keine Bewegung kann aber die absolut größte sein, weil diese mit der Ruhe coincidirt. Keine Bewegung ist daher absolut, denn die absolute Bewegung ist Ruhe, ist Gott, der alle Bewegung in sich begreift. Wie demnach alle Möglichkeit in der absoluten ruht, welche der ewige Gott ist, jede Form und Wirklichkeit in der absoluten Form, die das Wort, der Sohn des Vaters ist, so ruht alle verbindende Bewegung, alle einigende Proportion und Harmonie in der absoluten Verbindung aus dem heiligen Geiste, auf daß Ein Princip von Allem ist – Gott, in dem und durch den Alles ist, in einer gewissen dreifaltigen Einheit, die ihren abbildlichen concreten Ausdruck innerhalb dem schlechthin Größten und Kleinsten findet, in verschiedenen Stufen, so daß eine Stufe der Bewegung nach Möglichkeit, Wirklichkeit und Verbindung in den geistigen Naturen ist, wo Bewegen Denken ist, eine andere Stufe in dem körperlichen Sein nach Materie, Form und Verbindung, wo das Bewegen Sein ist. Doch hierüber ein anderes Mal. Das über die Dreieinigkeit des Universums Gesagte mag für jetzt genügen.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 59-61.
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