Zweites Kapitel
Das Sein der Creatur stammt auf eine uns unbegreifliche Weise aus dem Sein des ersten Größten. (Quod esse creaturae sit inintelligibiliter ab essse primi.)

[37] Unser System hat uns gezeigt, daß nichts aus sich ist, als das schlechthin Größte, in dem aus sich, in sich, durch sich Sein identisch ist, nämlich das absolute Sein selbst, so wie daß Alles, was ist, das was es ist und soweit es[37] ist, aus jenem sei; denn wie könnte, was nicht aus sich ist, anders sein, als aus dem ewigen Sein? Da nun aber das Größte fern von jeder Mißgunst (invidia) ist, so ist es ihm unmöglich, ein vermindertes Sein (als solches) mitzutheilen. Es hat somit die Creatur, die aus dem Sein ist, Alles das, was sie ist: Zerstörbarkeit, Theilbarkeit, Unvollkommenheit, Verschiedenheit, Vielheit etc., nicht von dem ewigen, untheilbaren, vollkommensten, ununterschiedenen Einen Größten, überhaupt nicht von einer positiven Ursache; denn wie die unendliche Linie das unendlich Gerade ist und die Ursache alles Seins der Linien, die krumme Linie aber als Linie ihr Sein von der unendlichen hat, als krumme Linie aber nicht von dieser, da die Krümmung eine Folge der Endlichkeit ist, indem sie deßhalb krumm ist, weil sie nicht die größte Linie ist, (wäre sie die größte, so wäre sie, wie oben gezeigt wurde, nicht krumm), so geht es auch mit den Dingen. Soferne sie vermindert, getrennt etc. sind, können sie nicht aus dem Größten sein, weil diese Zustände keine positive Ursache haben. Von Gott also hat es das Geschöpfliche, einig, unterschieden und mit dem Universum verbunden zu sein, und zwar je mehr geeint, desto ähnlicher ist es Gott. Daß aber seine Einheit in Vielheit, sein Unterschiedenes in Verwirrung (discretio in confusione), seine Verbindung in Disharmonie sich befindet, das hat es nicht von Gott, noch von irgend einer positiven Ursache, sondern zufällig (contingenter). Wer will nun, indem er in dem Geschöpflichen die Begriffe der absoluten Nothwendigkeit, aus der es ist, und der Zufälligkeit, ohne die es nicht ist, zugleich denkt, ihr Sein begreifen? Scheint es nicht, als ob das Geschöpfliche, das weder Gott, noch auch Nichts ist, gleichsam nach Gott und vor dem Nichts ist, zwischen Gott und dem Nichts, wie ein Philosoph sagt: Gott ist der Gegensatz des Nichts durch Vermittlung des Seins (Deus est oppositio nihil mediatione entis); und doch kann das Geschöpfliche nicht aus dem Sein und Nichtsein zusammengesetzt sein. Es scheint also weder zu sein, weil es aus dem Sein herabsteigt, noch auch nicht zu sein, weil es vor dem Nichts ist, und nicht aus jenen beiden zusammengesetzt. Unser Verstand, der über Gegensätze nicht hinauskommt, er mag diese getrennt oder verbunden auffassen (divisive aut compositive), erfaßt das Sein des Geschöpflichen nicht, obwohl er weiß, daß dessen Sein nur aus dem Sein des Größten stamme. Das Sein des Geschöpflichen ist demnach nicht zu begreifen, da das Sein, aus dem es ist, nicht zu begreifen ist, sowie auch das Dasein des Accidens[38] nicht zu begreifen ist, wenn die Substanz, an der es ist nicht begriffen wird. Weil aber das Geschöpfliche durch das Sein des Größten erschaffen ist und in dem Größten Sein, Machen und Erschaffen identisch sind, so scheint das Erschaffen nichts Anderes zu sein, als daß Gott Alles ist. (Quoniam vero creatura per esse maximi creata est, in maximo vero idem est esse, facere et creare, tunc non aliud videtur esse creare, quam Deum omnia esse.) Ist aber Gott Alles und heißt dieses Erschaffen, wie läßt sich denken, daß das Geschöpfliche nicht ewig ist, da das Sein Gottes ewig, ja die Ewigkeit selbst ist? So weit also das Geschöpfliche das Sein Gottes ist, ist es ohne Zweifel die Ewigkeit, soweit es jedoch der Zeit anheimfällt (cadit sub tempore), ist es nicht von Gott, weil dieser ewig ist. Wer begreift es nun, daß das Geschöpfliche aus dem Ewigen und dabei zeitlich ist? Es mußte im Sein selbst in der Ewigkeit sein, und konnte auch nicht vor der Zeit sein, weil es vor der Zeit kein Vorher gab; und so war es denn immer, seit es sein konnte (et ita semper fuit, quando esse potuit). Sodann wer kann es begreifen, daß Gott das bildende Princip des Seins (essendi formam) ist, und doch sich nicht mit dem geschöpflichen Sein vermischt (nec tamen immisceri creaturae)? Denn es kann nicht aus der unendlichen Linie und der endlichen krummen ein Zusammengesetztes entstehen, das ohne Verhältnißbestimmung (absque proportione) nicht denkbar ist. Daß aber zwischen Unendlichem und Endlichem kein Verhältniß besteht, bestreitet Niemand. Wie kann also der Verstand es begreifen, daß das Sein der krummen Linie aus der unendlich geraden stamme, wenn doch diese jene nicht bildet als ihr bildendes Princip, sondern als ihre Ursache und Grund (quae tamen ipsam non informat ut forma, sed ut causa et ratio)? Und diesem ihrem Grunde kann sie nicht so participiren, daß sie einen Theil davon ausmacht (non potest participare partem capiendo), da derselbe unendlich und untheilbar ist, also nicht wie die Materie an der Form participirt, oder Sokrates und Plato an der Menschheit oder die Theile am Ganzen, die Theile des Universums am Universum oder mehrere Spiegel an derselben Gestalt, die sie abspiegeln, da das Sein der Creatur nicht von dem Dasein derselben ist; denn sie ist wie ein Spiegel; nun ist aber der Spiegel da, ehe er das Bild eines Gegenstandes in sich aufnimmt. Wer will es also begreifen, wie ein unendliches Bildungsprincip (forma) von verschiedenen Geschöpfen verschieden participirt wird, da doch das Sein des Geschöpflichen nur der Widerschein ist, der nicht in einem andern positiv aufgefaßt wird, sondern zufälliger Weise ein[39] verschiedener ist (cum creaturae esse non possit aliud esse, quam ipsa resplendentia, non in aliquo alio positive recepta, sed contingenter diversa)? gleichwie ein vollendetes Kunstwerk, das ganz von der Idee des Künstlers abhängig ist, kein anderes Sein hat, als das der Abhängigkeit von dem, aus dem es das Sein hat, und durch dessen Einfluß es erhalten wird, oder wie eine Gestalt, die in einem Spiegel sich abspiegelt, der vorher und nachher an sich und in sich nichts ist. Ebenso wenig läßt es sich begreifen, wie Gott durch sichtbare Geschöpfe uns offenbar werden kann, denn es ist da nicht wie bei unserem Geiste. Wenn dieser zu denken anfängt, so nimmt er, der zuerst formlos (informis) ist, aus gewissen Anschauungen ein Bild einer Farbe, eines Tones u. dgl. in das Gedächtniß auf, nachher nimmt er wieder ein anderes Bild von andern Zeichen, Stimmen oder Buchstaben in sich auf und versenkt sich in sie (se aliis insinuat). Anders ist es bei Gott; denn obwohl Gott zur Offenbarung seiner Güte (vom religiösen Standpunkte betrachtet – ut pii volunt) oder weil er die absolute Nothwendigkeit ist, die Welt erschaffen hat, auf daß sie ihm gehorche oder damit Wesen da sind, die seine Befehle annehmen und ihn fürchten, die er einst richte u. dgl., so ist doch klar, daß er keine andere Form annehmen kann, da er die Form aller Formen ist, noch auch in positiven Zeichen erscheinen kann, da diese Zeichen als solche nothwendig wieder andere Zeichen zu ihrer Vermittlung und so ins Unendliche fort erforderten. Wer wollte es begreifen, daß Alles ein Abbild des Einen unendlichen Bildungsprincips sei, und die Verschiedenheit nur zufällig (ex cotingenti) habe, gleichsam als wäre das geschöpfliche Sein Gott aus Zufall, wie man das Accidens Substanz aus Zufall, das Weib Mann aus Zufall nennen könnte (quasi creatura sit Deus occasionatus, sicut accidens substantia occasionata, et mulier vir occasionatus), weil das unendliche Princip nur endlich recipirt ist, so daß das ganze geschöpfliche Sein gleichsam eine endliche Unendlichkeit oder ein geschaffener Gott ist, auf daß es so auf die bestmögliche Weise existire (ut omnis creatura sit quasi infinitas finita aut Deus creatus, ut sit eo modo, quo hoc melius esse possit); als wenn der Schöpfer gesagt hätte: Es werde! und weil Gott, der die Ewigkeit selbst ist, nicht werden konnte, so ist geworden, was Gott am ähnlichsten werden konnte. Eine Folgerung aus dem Bisherigen ist, daß jedes Geschöpf als solches vollkommen ist, wenn es auch im Verhältnisse zu einem andern weniger vollkommen zu sein scheint; denn der gütige Gott theilt das Sein Allen in der Weise mit, in der es aufgefaßt werden kann. Da Gott ohne Verschiedenheit und Mißgunst das Sein mittheilt, und es in der Art aufgenommen wird, daß es anders nicht aufgenommen werden könnte, so ruht jedes erschaffene[40] Sein in der Vollkommenheit, die es auf das Reichlichste (liberaliter) von dem göttlichen Sein erhalten hat, und begehrt kein anderes Geschöpf zu sein, als wäre es dann vollkommener, sondern hat eine Vorliebe (praediligens) zu dem Sein, das es von dem Größten hat, als zu einem göttlichen Geschenk, das es unzerstörlich zu erhalten und zu vervollkommnen sucht.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 37-41.
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