Drittes Kapitel
Das Größte ist auf eine uns unbegreifliche Weise der Inbegriff und die Entfaltung des Alls

[41] Nichts läßt sich über die unerforschliche Wahrheit, von der im ersten Buche die Rede war, aussagen oder denken, was nicht in der ersten Wahrheit enthalten ist. Denn was mit dem, was dort von der ersten Wahrheit gesagt wurde, übereinstimmt, ist wahr, was nicht übereinstimmt, falsch. Nun aber ist dort gezeigt, es gebe nur Ein Größtes von allen Größen. Das Größte ist, das keinen Gegensatz hat, wo auch das Kleinste das Größte ist. Die unendliche Einheit ist also der Inbegriff (complicatio) von Allem. Das nennt man Einheit, was Alles einet, nicht nur wie die Einheit der Zahl, sondern des Alls. Wie man in der Zahl als der Entfaltung der Einheit nichts als die Einheit findet, so findet sich in Allem, was ist, nur das Größte wieder. In der Quantität ist die Einheit der Punkt; daher finden wir in der Linie, Oberfläche und dem Körper nichts als den Punkt. Und es ist nicht mehr als Ein Punkt, der der Inbegriff alles Quantums ist. So ist die Ruhe der einheitliche Inbegriff der Bewegung, die, genau betrachtet, nichts Anderes ist, als die Reihenfolge der Ruhe (motus est quies seriatim ordinata). Die Bewegung ist mithin die Entfaltung der Ruhe. Das Jetzt oder die Gegenwart ist der Inbegriff der Zeit. Die Vergangenheit war Gegenwart, die Zukunft wird Gegenwart sein. Die Zeit ist daher die aneinandergereihte Gegenwart. Es gibt also nur Eine Gegenwart, als der Inbegriff aller Zeiten, und diese Gegenwart ist die Einheit selbst. So ist die Identität der Inbegriff der Verschiedenheit, die Gleichheit der der Ungleichheit. Gott ist demnach der Inbegriff von Allem, in dem Sinne, daß Alles in ihm ist; er ist die Entfaltung von Allem, soferne er in Allem ist (Deus ergo est omnia complicans, in hoc, quod omnia in eo, es omnia explicans, in hoc, quia ipse in omnibus). Und wie aus unserm Geiste[41] dadurch, daß wir vieles Einzelne als Einem Gemeinsamen zugehörig erkennen, die Zahl entsteht, so entsteht die Vielheit der Dinge aus dem göttlichen Geiste, in dem das Viele ohne Vielheit ist, weil in der zusammenfassenden Einheit; deßhalb nämlich, weil die Dinge an der Gleichheit des Seins nicht auf gleiche Weise participiren können, hat Gott in der Ewigkeit das eine so, das andere anders gedacht, woraus die Vielheit, die in ihm Einheit, entstanden ist. Die Art und Weise dieses Insichfassens und Entfaltens geht über unsern Verstand. Wer sollte es begreifen, daß aus dem göttlichen Geiste die Vielheit der Dinge entsteht, da das Denken Gottes sein Sein und dieses die unendliche Einheit ist? Ziehst du die Vergleichung mit der Zahl, dem Veilfachen der Einheit herbei, so scheint Gott gleichsam in den Dingen vervielfältigt, da sein Denken sein Sein ist, und doch siehst du die Unmöglichkeit davon ein, daß sich die unendliche und höchste Einheit vervielfältige. Wie läßt sich also die Vielheit begreifen, deren Sein aus dem Einen ohne Vervielfältigung stammt? oder wie die Vervielfältigung der Einheit, ohne Vervielfältigung? Offenbar nicht wie die Vielheit der Individuen in Einer Art oder mehrerer Arten in Einer Gattung, außerhalb welcher die Gattung und Art nur eine leere Abstraction ist! Wie also Gott, dessen Sein und Einheit weder eine Abstraction des Verstandes, noch eine Vermengung mit den Dingen ist, durch die Zahl der Dinge sich entfalte, das begreift Niemand. Betrachtest du die Dinge ohne ihn, so sind sie nichts, wie die Zahl ohne die Einheit. Betrachtest du ihn ohne die Dinge, so ist er, und die Dinge sind nichts. Betrachtest du ihn, sofern er in den Dingen ist, so stellst du dir vor, die Dinge seien etwas, in denen er ist; allein das ist ein Irrthum, wie das vorige Kapitel gezeigt hat, weil das Sein eines Dinges nicht etwas ist, wie ein abgesondertes Sein, sondern sein Sein ist von dem Sein des Größten. Betrachtest du endlich das Ding, soferne es in Gott ist, so erhälst du Gott und die Einheit. Es bleibt nichts Anderes übrig, als zu sagen: die Vielheit der Dinge entsteht dadurch, daß Gott im Nichts ist (quod pluralitas rerum exoriatur eo, quod Deus est in nihilo). Denn nimm Gott von dem Geschöpfe hinweg, so bleibt Nichts; nimm die Substanz von dem Zusammengesetzten hinweg, und es bleibt kein Accidens übrig; so bleibt denn das Nichts übrig. Wie mag unser Verstand dies begreifen? Denn hört auch nach Aufhebung der Substanz das Accidens auf, so ist deßhalb das Accidens nicht Nichts; es hört aber auf (perit), weil sein Sein nur ein Dabeisein (adesse) ist. Wenn gleich z.B. die Quantität nur durch das Sein der Substanz ist, so ist doch die Substanz nur, weil die Quantität dabei ist (adest), ein Quantum. Nicht so ist es hier; denn das Geschöpfliche ist nicht so bei Gott (Deo adest), denn es[42] bringt Gott nichts bei (nihil confert Deo), wie das Accidens der Substanz. Ja das Accidens bringt der Substanz so viel bei, daß diese, obwohl jenes von ihr das Sein hat, doch ohne alles Accidens nicht sein kann. Das kann bei Gott nicht so sein. Wie können wir also das Geschöpfliche als solches begreifen, das von Gott ist, aber nichts ihm, der der Größte ist, beibringen (tribuere) kann? Und wenn es als Geschöpfliches auch nicht einmal so viel Sein als ein Accidens hat, sondern ganz und gar Nichts ist, wie läßt es sich denken, daß die Vielheit der Dinge dadurch sich entfalte, daß Gott im Nichts ist, da das Nichts kein Sein ist? Sagst du: sein allmächtiger Wille ist die Ursache, Wille und Allmacht sind sein Sein (denn die ganze Gotteslehre bewegt sich im Kreise), so gestehst du eben damit, daß du die Art des Insichfassens und Entfaltens nicht kennest, obwohl du das weißt, daß Alles in ihm er selbst, und er in Alles das, was sie sind, ist, wie das Urbild in dem Abbilde; wie wenn ein Antlitz sein eigenes Abbild hätte, das von ihm bald nahe, bald fern vervielfältigt wird, die Entfernung nicht räumlich gefaßt, sondern graduell, nach der Aehnlichkeit mit dem Originale, so würde das Eine Antlitz in verschiedenen Abbildern verschieden vervielfältigt erscheinen, in einer dem Sinn und Verstande unbegreiflichen Weise.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 41-43.
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