Fünftes Kapitel
Jegliches ist in Jeglichem

[45] Wenn du das Bisherige wohl erwägst, so wirst du unschwer den Sinn jenes Satzes des Anaxagoras: »Jegliches ist in Jeglichem« erkennen, ja vielleicht noch tiefer erfassen, als Anaxagoras selbst. Denn da im ersten Buch gezeigt ist, Gott sei in dem Sinne in Allem, daß Alles in ihm ist, und da jetzt erwiesen ist, Gott sei mittelst des Universums in Allem, so folgt, daß Alles in Allem und Jegliches in Jeglichem ist. Das Universum geht nämlich als das Vollkommenste naturgemäß (ordine naturae) allen Dingen vorher, damit Jedes in Jedem sein kann. So ist das Universum in jedem Geschöpfe dieses Geschöpf, und Jegliches nimmt Alles in sich auf, so daß dieses in ihm concret existirt. Da jedes Einzelne nicht in Wirklichkeit (actu) Alles sein kann, weil es beschränkt ist, so schränkt es Alles in sich ein, auf daß Alles dieses Einzelne sei (cum quodlibet non possit esse actu omnia, cum sit contractum, contrahit, omnia, ut sint ipsum). Ist folglich Alles in Allem, so scheint Alles dem Einzelnen vorherzugehen. Alles ist somit nicht die Vielheit, weil die Vielheit nicht dem Einzelnen vorhergeht. Alles ist daher ohne Vielheit Jeglichem naturgemäß vorhergegangen. In Jeglichem ist daher nicht die Vielheit in Wirklichkeit (actu), sondern Alles ist ohne Vielheit eben dieses Einzelne. Da nun das Universum concret in den Dingen ist, so ist jedes wirklich (actu) existirende Wesen eine concrete Darstellung des Universums (contrahit universa), so daß dieses in Wirklichkeit das ist, was jenes Wesen ist. Jedes wirklich Existirende ist aber in Gott, weil er die Wirklichkeit von Allem ist. Die Wirklichkeit (actu) ist Vollendung und Ziel der Möglichkeit. Da nun das Universum in jedem wirklich Existirenden concret erscheint, so folgt, daß Gott, der im Universum ist, in Jeglichem sei und jedes wirklich Existirende unmittelbar in Gott wie das Universum. Jegliches ist in Jeglichem – heißt also so viel als: Gott ist durch Alles in Allem, und Alles ist durch Alles[45] in Gott. Einem tieferen Nachdenken sind diese schwierigen Dinge ganz klar, sowohl: daß Gott ohne Verschiedenheit in Allem, weil Jegliches in Jeglichem, als auch, daß Alles in Gott ist, weil Alles in Allem ist. Ein Beispiel. Bekanntlich ist die unendliche Linie – Linie, Dreieck, Kreis und Kugel. Jede endliche Linie hat ihr Sein von der unendlichen, die alles das ist, was sie ist. In der endlichen Linie ist daher Alles, was sie ist, endliche Linie: Dreieck, Kreis, Kugel. Jede Figur in der endlichen Linie ist daher diese Linie; in ihr ist kein Dreieck, Kreis oder Kugel in Wirklichkeit (actu), weil aus mehrerem Wirklichen (ex pluribus actu) nicht Ein Wirkliches wird, da nicht jedes Ding auch actu in jedem ist, sondern das Dreieck in der Linie ist Linie, der Kreis in der Linie ist Linie etc. Alles am Stein ist Stein, an der Seele Seele, am Leben Leben, am Gesichte Gesicht, an der Einbildung Einbildung, am Verstande Verstand, an der Vernunft Vernunft, an Gott Gott. Und nun betrachte, wie das Universum in Vielheit ist und die Vielheit in Einheit. Erwäge noch reiflicher und du wirst einsehen, daß jegliches wirklich existirende Ding darin seine Ruhe findet, daß Alles in ihm es selbst ist, und es selbst in Gott – Gott. Wir bemerken eine wunderbare Einheit, eine staunenswerthe Gleichheit und eine unbegreifliche Verbindung der Dinge, auf daß Alles in Allem sei. Die Verschiedenheit und Verbindung der Dinge entsteht auf folgende Weise: da jedes Ding nicht in Wirklichkeit (actu) Alles sein konnte, weil es sonst Gott wäre, und deßhalb Alles in Jedem auf die Art ist, wie es nach Dem sein kann, was es ist, so konnte nicht jedes in Allem dem andern ähnlich sein. Deßhalb schuf Gott Alles in verschiedenen Stufen, wie er denn auch jenes Sein, welches nicht zugleich unzerstörlich sein konnte, durch das zeitliche Nacheinander unzerstörlich machte, auf daß Alles das sei, was es ist, weil es nun einmal nicht anders und besser sein konnte. Es hat daher Alles in Jedem seinen Ruhepunkt, weil keine Stufe ohne die andere sein könnte, wie am Körper jedes Glied dem andern dient und alle Glieder in allen ihr Genüge finden (contentantur). Weil das Auge nicht Hand und Fuß und alle anderen Glieder in Wirklichkeit sein kann, so begnügt es sich, Auge, der Fuß begnügt sich, Fuß zu sein. Alle Glieder unterstützen sich gegenseitig, auf daß jedes auf die bestmögliche Weise das sei, was es ist. Die Hand ist nicht Hand, der Fuß nicht Fuß im Auge, sondern im Auge sind sie Auge, und so als Auge unmittelbar im Menschen. Ebenso sind alle Glieder im Fuße und als Fuß unmittelbar im Menschen, so daß jedes Glied durch jedes unmittelbar im Menschen und der Mensch oder das Ganze durch jedes Glied in jedem ist. Oder betrachtest du die Menschheit als ein gewisses absolutes, nicht zu vermengendes und einzuschränkendes[46] Sein und dann den Menschen, in welchem die absolute Menschheit auf absolute Weise sich vorfindet, aus welcher die concrete Menschheit – der Mensch – herstammt, so entspringt die absolute Menschheit Gott, die concrete dem Universum. Die absolute Menschheit ist im Menschen nach der Priorität, und in Folge dessen in jedem Gliede oder Theile. Die concrete Menschheit ist im Auge Auge, im Herzen Herz etc., in jeglichem jegliches concret. Auf diesem Wege ergibt sich die Aehnlichkeit zwischen Gott und der Welt und die Veranschaulichung alles dessen, was in den zwei letzten Kapiteln besprochen wurde, sammt mehreren Folgerungen daraus.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 45-47.
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