Achtes Kapitel
Von der Möglichkeit oder der Materie des Universums

[51] Um nun, wenn auch nur in Kürze das vorzuführen, was unserer Unwissenheit zur Belehrung dienen kann, wollen wir die genannten drei Weisen des Seins etwas weiter erörtern und dabei mit der Möglichkeit beginnen.

Die Alten haben sich viel mit ihr beschäftigt; ihre übereinstimmende Lehre war: aus Nichts wird Nichts, weßhalb sie eine gewisse absolute Möglichkeit, Alles zu sein, als ewig annehmen, in der sie sich Alles der Möglichkeit nach enthalten dachten. Den Begriff dieser Materie oder Möglichkeit haben sie durch eine verkehrte Denkoperation, wie man sie sonst nur bei der Ermittlung der absoluten Nothwendigkeit anwendet, gesucht; auf dem Wege des Hinwegnehmens der Form der Körperlichkeit vom Körper meinten sie den Körper sich nichtkörperlich denken zu können. Bei dieser Unwissenheit konnten sie das Wesen der Materie nicht erfassen; denn wie läßt sich ein Körper ohne Form an einem Körper denken? Sie sagten dann weiter, die Möglichkeit gehe jedem Dinge der Natur nach vorher, so daß man nie in Wahrheit sagen konnte: Gott ist, ohne daß man nicht auch in Wahrheit sagen mußte: die absolute Möglichkeit ist. Doch nahmen sie dieselbe nicht gleichewig mit Gott, weil sie, die nicht Etwas und nicht Nichts, nicht Eine und nicht Mehrere, nicht Dieses und nicht Jenes ist, von Gott ist; sie faßten sie, als die Möglichkeit zu Allem, die nichts von Allem wirklich ist. Da sie aller Gestalt entbehrt, nannten die Platoniker sie den Mangel (carentiam). Weil sie Mangel hat, will sie (quia caret, appetit); sie ist daher die Willfährige (aptitudo),[51] die der ihr gebietenden, d.i. sie zum wirklichen Sein führenden Nothwendigkeit gehorcht, wie das Wachs dem Künstler, der etwas aus demselben machen will. Die Formlosigkeit (informitas) geht aus dem Mangel und der Willfährigkeit hervor, und ist deren Verbindung, so daß die absolute Möglichkeit gleichsam eine dreifache, ohne Zusammensetzung, ist; denn Mangel, Willfährigkeit und Formlosigkeit können nicht ihre Theile sein, sonst würde der absoluten Möglichkeit etwas vorhergehen, was unmöglich ist. Es sind daher Modalitäten (modi), ohne welche die absolute Möglichkeit als solche nicht wäre. Der Mangel ist zufällig (contingenter) in der Möglichkeit: weil sie die Form nicht hat, die sie haben kann, heißt sie Mangel. Die Formlosigkeit ist gleichsam die Form der Möglichkeit, die nach den Platonikern gleichsam die Materie der Formen ist. Denn indem sie die Weltseele mit der Möglichkeit verbindet, wird jene formlose Vegetation (vegetabilitas) in die wirklich vegetative Seele gebracht, in Folge der Bewegung, die von der Weltseele ausgeht und der Bewegungsfähigkeit der Möglichkeit oder Vegetation. Sie lehrten daher auch, die Formlosigkeit sei die Materie der Formen, die dann durch Sinn, Verstand und Vernunft zur Wirklichkeit gestaltet wird. Daher nannte Homer die hylê den Stoff für Körper (nutricem corporum), die Formlosigkeit aber den Stoff für die Seelen. Einer der Unsrigen sagte, das Chaos sein der Welt naturgemäß vorhergegangen, als Möglichkeit der Dinge, im Chaos sei der formlose Geist gewesen, in dem alle Seelen der Möglichkeit nach sind. Die Stoiker sagten daher, alle Formen seien in der Möglichkeit wirklich (actu), allein verborgen, es dürfe nur die sie verdeckende Hülle hinweggenommen werden, damit sie hervortreten (et per sublationem tegumenti apparere), wie wenn ein Löffel aus Holz nur durch Hinwegnehmen (von Holztheilen) entstünde. Nach den Peripatetikern aber sind die Formen nur der Möglichkeit nach in der Materie, und werden durch eine bildende Kraft hervorgebracht (per efficientem educi dicebant). Offenbar ist es das Richtige, daß die Formen nicht aus der Möglichkeit entstehen, sondern aus einer bildenden Kraft. Denn wer vom Holze Theile hinwegnimmt, um aus dem Holze eine Statue zu machen, der gibt ihm Form (addit de forma); das ist klar. Denn wenn man aus Stein keinen Kasten machen kann, so liegt der Fehler in der Materie; kann aber ein Anderer als der Künstler nicht aus Holz einen Kasten herstellen, so liegt der Fehler im Verfertiger. Es ist also Materie und eine wirkende Kraft erforderlich. Im einem gewissen Sinne sind daher die Formen der Möglichkeit nach in der Materie, die, wie es dem Bildner convenirt, in Wirklichkeit gesetzt werden. So ist nun nach den Peripatetikern[52] in der absoluten Möglichkeit die Gesammtheit der Dinge der Möglichkeit nach, die absolute Möglichkeit ist unbegrenzt und unendlich, wegen des Mangels an Form und der Gefügigkeit zu Allem. Diese Unendlichkeit ist das Gegentheil der Unendlichkeit Gottes; jene entsteht aus Mangel, diese aus Ueberfluß, weil Alles in ihm er selbst in Wirklichkeit ist. So ist die Unendlichkeit der Materie privativ, die Gottes negativ.

Das sind die Sätze Derer, die über die absolute Möglichkeit sich ausgesprochen haben.

Wir finden durch unsere Wissenschaft des Nichtwissens, daß eine absolute Möglichkeit unmöglich ist. Denn da unter den möglichen Dingen nichts weniger sein kann, als die absolute Möglichkeit, die auf das Allernächste an das Nichtsein grenzt, auch nach der Ansicht mehrerer Autoren, so käme man auf ein Kleinstes und somit auch auf ein Größtes in dem, was ein Mehr oder Weniger zuläßt, was unmöglich ist. Daher ist die absolute Möglichkeit nur in Gott und Gott selbst; außer ihm ist sie nicht möglich, denn es gibt nichts, das in absoluter Potenz wäre, da Alles außer Gott nothwendig beschränkt (contracta) ist. Wenn sich auch in der Welt verschiedene Dinge finden, von denen aus dem einen mehr entstehen kann, als aus dem andern, so kommt man doch zu keinem absolut Größten oder Kleinsten, sondern gerade aus ihrem Vorhandensein folgt, daß es keine absolute Möglichkeit gebe. Jede Möglichkeit ist also beschränkt, ihre Beschränkung ist die Wirklichkeit. Es gibt folglich keine reine Möglichkeit, die ganz unbeschränkt wäre durch was immer für eine Wirklichkeit. Auch die Gefügigkeit (aptitudo) der Möglichkeit kann nicht unendlich und absolut sein, frei von jeder Beschränkung. Denn indem Gott die unendliche Wirklichkeit (actus) ist, ist er die Ursache dieser Wirklichkeit, die Möglichkeit des Seins ist zufällig (est contingenter). Ist nun die Möglichkeit absolut, zu was bildet sie dann das Zufällige (cui contingit)? Das Zufällige kommt aber der Möglichkeit schon daßhalb zu, weil das Sein aus dem Ersten nicht die vollständig und schlechthin absolute Wirklichkeit sein kann. Die Wirklichkeit wird daher gleichfalls durch die Möglichkeit beschränkt, so daß sie nie absolut, sondern in Potenz, und die Potenz nie absolut, sondern durch die Wirklichkeit beschränkt ist. Es gibt übrigens Unterschiede und Stufen: Eines ist mehr in Wirklichkeit, ein Anderes mehr in Potenz, ohne daß man jedoch je auf ein schlechthin Größtes und Kleinstes kommt, weil die größte und[53] kleinste Wirklichkeit mir der größten und kleinsten Potenz coincidirt und das absolut Größte ist, wie im ersten Buche gezeigt ist. Ferner: wäre die Möglichkeit der Dinge nicht beschränkt, so gäbe es keinen vernünftigen Grund der Dinge (non posset ratio rerum haberi), sondern Alles wäre durch Zufall, wie Epikur fälschlich lehrte. Denn daß diese Welt nach vernünftigem Grunde (rationabiliter) aus der Möglichkeit hervorging, erfolgte nothwendig deßhalb, weil die Möglichkeit nur die Gefügigkeit hatte, gerade nur diese Welt zu sein. Die Gefügigkeit der Möglichkeit war also beschränkt, nicht absolut. Dies gilt von Erde, Sonne und den übrigen Geschöpfen. Wären sie nicht in einer gewissen beschränkten Möglichkeit in der Materie verborgen gewesen, so wäre kein größerer Grund für ihr Hervortreten in die Wirklichkeit, als für das Gegentheil vorhanden gewesen. Wenn daher gleich Gott unendlich ist und demgemäß eine unendliche Welt hätte erschaffen können, so konnte doch die Welt, weil die Möglichkeit nothwendig beschränkt und nicht absolut, auch die Gefügigkeit der Materie keine unendliche war, hinsichtlich der Möglichkeit ihres Seins nicht in Wirklichkeit (actu) unendlich, oder größer oder anders sein, als sie ist. Die Beschränkung der Möglichkeit ist die Wirklichkeit, diese aber stammt aus der absolut größten Wirklichkeit. Da demnach die Beschränkung der Möglichkeit aus Gott kommt und die Beschränkung der Wirklichkeit aus dem Zufall, so ist die mit Nothwendigkeit beschränkte Welt durch Zufall endlich. (Quare cum contractio possibilitatis sit ex Deo, et contractio actus ex contigenti, hinc mundus necessario contractus ex contingenti finitus est.)

Aus dem Begriffe der Möglichkeit sehen wir also, daß das concret Größte aus der nothwendig beschränkten Möglichkeit entstanden ist, eine Beschränkung, die nicht zufällig ist, weil sie durch die Wirklichkeit erfolgt. So hat denn das Universum eine vernünftige nothwendige Ursache seiner Concretheit, so daß die Welt, die nur ein beschränktes Sein hat, nicht zufällig aus Gott ist, dem absolut Größten. Das ist ganz besonders in's Auge zu fassen. Da also Gott die absolute Möglichkeit ist, so ist die Welt, wenn wir sie als in der absoluten Möglichkeit seiend betrachten, in Gott und die Ewigkeit selbst; betrachten wir sie als beschränkte Möglichkeit, so geht die Möglichkeit nur der Natur nach der Welt vorher, und diese beschränkte Möglichkeit ist nicht die Ewigkeit, noch gleichewig mit Gott, sondern ein Abfall von ihr (cadens ab ipsa) und wie Endliches und Absolutes in unendlichem Abstande.

Auf diese Weise müssen die Ansichten über die Möglichkeit oder Materie nach den Principien der Wissenschaft des Nichtwissens ihre Berichtigung erhalten.[54]

Wie die Möglichkeit stufenweise zur Wirklichkeit vorschreite, wollen wir uns im Buche über die Muthmaßungen zu erörtern vorbehalten.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 51-55.
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