Zehntes Kapitel
Vom Ausspruche des Richters

[97] Es ist klar, daß kein Sterblicher jenes Gericht und den Ausspruch des Richters zu begreifen im Stande ist. Da es über alle Zeit und Bewegung ist, so vollzieht sich jenes Gericht nicht in einer vorausgehenden Erörterung, nicht im Aussprechen von Worten und ähnlichen Aeußerlichkeiten, welche eine Zeitdauer in sich schließen, sondern wie in dem Worte (er sprach und es ward) Alles erschaffen ist, so wird in demselben Worte Alles gerichtet. Auch fällt zwischen den Ausspruch und dessen Vollzug keine Zeitdauer, sondern es ist Ein Moment: Auferstehen und Gelangen zum letzten Ziele. Letzteres nach zwei Richtungen: Verklärung durch Aufnahme unter die Kinder Gottes und Verdammung[97] durch Ausschließen der von Gott Abgekehrten sind durch keinen Zeitmoment von einander getrennt.

Die vernünftige Natur, die über die Zeit erhaben und der zeitlichen Zerstörung nicht unterworfen ist, die in ihrer Natur die unzerstörlichen Formen der Mathematik und der Naturwesen begreift und daher der selbst unzerstörliche Ort dieser unzerstörlichen Formen ist, wir durch eine natürliche Bewegung zur reinen, von aller concreten Vermischung freien Wahrheit (ad veritatem movetur abstractissimam), als zum Ziele ihres Sehens und zu ihrem höchsten, genußreichsten Objecte hingetrieben. Und da dieses Object Gott ist, so ist die unsterbliche und unzerstörliche Vernunft nicht befriedigt, bis sie ihn erreicht, da sie nur in dem ewigen Objecte Befriedigung findet. Wenn nun die Vernunft, frei vom Körper, in dem sie den Meinungen der Zeit unterworfen ist (in quo opinionibus ex tempore subjicitur), nicht zum erwünschten Ziele gelangt, sondern vielmehr, während sie doch nach der Wahrheit ein Verlangen hat, in Unwissenheit versinkt, und während ihr höchstes Sehnen kein anderes ist, als die Wahrheit selbst, nicht wie in Räthseln und Symbolen, sondern mit höchster Gewißheit von Angesicht zu erfassen, in der Stunde des Scheidens von dieser Welt wegen ihrer Abkehr von der Wahrheit und Hinkehr zu dem Vergänglichen in dieses von ihr erstrebten Vergängliche hinabsinkt, in die Ungewißheit und Verworrenheit, in das finstere Chaos der bloßen Möglichkeit, in der keine wirkliche Gewißheit ist (cum cadat ad incertitudinem et confusionem, in ipsum tenebrosum chaos merae possibilitatis, ubi nihil certi actu), so sagt man mit Recht, sie sei dem geistigen Tode verfallen (recte ad intellectualem mortem descendisse dicitur). Denn für die Seele ist das vernünftige Erkennen ihr Sein, das Ersehnte erkennen – ihr Leben. Wie es daher ihr ewiges Leben ist, zuletzt das Ersehnte, Beharrliche, Ewige zu erfassen, so ist es ihr ewiger Tod, von diesem ersehnten festen Ziele getrennt und in das Chaos der Verwirrung hinabgestürzt zu werden, wo sie nach ihrer Weise von dem ewigen Feuer gequält wird, das wir uns nicht anders denken können, als die Qual dessen, der der lebengebenden Nahrung und der Gesundheit, ja, was noch mehr ist, auch der Hoffnung, je diese Güter zu erlangen, beraubt ist, und daher, ohne je zu erlöschen, ohne Ende beständig stirbt in ewigem Todeskampfe (ut sine extinctione et fine semper moriatur agonizando). Das ist ein über allen Begriff qualvolles Leben, denn es ist ein solches Leben, das zugleich Tod ist, ein Sein, das ein Nichtsein, ein Erkennen, das ein Nichtwissen ist. In dem Früheren ist gezeigt, daß die Auferstehung der Menschen erhaben über alle Bewegung, Zeit, Quantität und über Anderes, was zur Zeit gehört, erfolgt, so daß das Zerstörliche ins Unzerstörliche, das Thierische ins Geistige[98] verwandelt wird und der ganze Mensch volle Persönlichkeit und diese ganz geistiger Natur, und somit auch der wahre Leib vom Geistigen verschlungen ist (ut totus homo sit suus intellectus, qui est spiritus, et corpus verum sit in spiritu absorptum). Der Leib besteht nicht mehr in sich (in se) nach seinen körperlichen quantitativen und zeitlichen Verhältnissen, sondern ist in das Geistige aufgenommen (translatum in spiritum), das Gegenstück zu dem jetzigen Leibe, wo man nicht die Vernunft, sondern nur den Körper wahrnimmt, in dem die Vernunft selbst wie eingekerkert ist, während dort der Körper eben so im Geiste ist, wie hienieden der Geist im Körper, und mithin, während hier die Seele durch den Körper belastet, dort der Körper durch den Geist schwunghaft wird (alleviatur). Wie daher die geistigen Freuden des vernünftigen Lebens die größten sind, an denen auch der verklärte Leib im Geiste participirt, so ist auch die höllische Traurigkeit des geistigen Todes die größte, und auch der Leib empfindet sie im Geiste. Und da unser Gott, der, lebendig erfaßt, das ewige Leben ist, über allen unsern Verstand erkennbar ist, so sind auch jene ewigen Freuden, die alle unsere Begriffe übersteigen, viel zu groß, als daß sie sich irgend wie schildern ließen. In gleicher Weise gehen auch die Strafen der Verdammten über alle denkbaren oder der Darstellung fähigen Strafen hinaus. Daher sind alle jene der musikalischen Harmonie entlehnten Zeichen der Freude, des Frohlockens und der Herrlichkeit, welche als uns bekannte Zeichen zum Ermessen des ewigen Lebens von den Vätern überliefert wurden, nur ganz entfernte sinnliche Zeichen, die unendlich von jener geistigen, keiner Phantasie zugänglichen Freude abstehen. Eben so halten auch die Höllenstrafen, soferne sie mit einem Elementarfeuer aus Schwefel und Pech auch ähnlich sinnlichen Qualen verglichen werden, keinen Vergleich aus, mit jenen feurigen Geistesqualen (ad igniles illas intellectuales aerumas), vor welchen uns Jesus Christus, unser Leben und Heil bewahren wolle. Er sei gepriesen in Ewigkeit. Amen.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 97-99.
Lizenz:
Kategorien: