Elftes Kapitel
Das Mysterium (die Natur) des Glaubens

[99] Unsere Vorfahren sagen alle einstimmig, der Glaube sei der Anfang des Wissens (fidem initium esse intellectus). In jedem Gebiet des Wissens (in omni facultate) werden einige Sätze als erste Principien (Axiome) vorausgesetzt, die man nur durch den Glauben erfaßt, und aus welchen sodann die Erkenntniß des zu erforschenden Gegenstandes entwickelt wird (ex quibus intelligentia tractandorum elicitur). Wer zu einer Wissenschaft aufsteigen will, muß an die Dinge glauben, ohne[99] die er nicht aufsteigen kann. Darum sagt Jesaias: wenn ihr nicht glaubet, werdet ihr nicht einsehen. Der Glauben faßt daher alles Erkennbare in sich, die Erkenntniß ist die Entfaltung des Glaubens (fides est in se complicans omne intelligibile, intellectus autem est fidei explicatio). Das Wissen erhält daher durch den Glauben seine Richtung (dirigitur), der Glaube durch das Wissen seine Entwicklung (extenditur). Wo daher kein gesunder Glaube ist, da gibt es auch kein wahres Wissen. Es ist bekannt, zu welchen Schlüssen falsche Principien und ein unsicheres Fundament führen.

Es gibt keinen vollkommeneren Glauben, als die Wahrheit selbst – Jesus. Wer sieht es nicht ein, daß der rechte (recta) Glauben die herrlichste Gottesgabe ist? Der Apostel Johannes sagt, der Glaube an die Menschwerdung des Wortes Gottes führe uns die Wahrheit, so daß wir Kinder Gottes werden. Dies zeigt er im Eingange (seines Evangeliums) mit wenigen Worten und zählt dann viele Thaten Christi auf, im Einklange mit dieser Glaubenswahrheit, damit die Vernunft im Glauben erleuchtet werde; deßhalb sagt er am Schlusse: »Dies ist geschrieben, damit ihr glaubet, daß Jesus der Sohn Gottes ist.« Der süße Glaube an Christus, an dem die Gestalt des Herzens festhält, kann nun nach unserer Wissenschaft des Nichtwissens in stufenmäßigem Aufsteigen und entfaltet werden. Denn die größten und tiefsten Geheimnisse Gottes, die den Weltkindern, wie verständig sie auch sonst sein mögen, verborgen bleiben, werden dem kindlichen und demüthigen Gemüthe im Glauben an Jesus offenbart, weil in Jesus alle Schätze der Weisheit und Wissenschaft verborgen sind. Ohne ihn kann Niemand etwas ausführen, denn er ist das Wort und die Allmacht, durch welche Gott die Welt erschaffen hat; er, der allein Höchste, hat Gewalt über Alles im Himmel und auf Erden. Da er in dieser Welt nicht erkennbar ist, und Verstand, Meinung und Unterricht uns durch Symbole vom Bekannten zum Unbekannten führen, so wird er nur da erfaßt, wo das Ueberreden (persuasiones) aufhört und der Glaube beginnt, durch den wir in der Einfallt des Herzens dergestalt entzückt werden, daß wir ihn (ipsum) über Verstand und Einsicht im dritten Himmel der einfachsten Vernünftigkeit im Körper unkörperlich (weil im Geiste), in der Welt überweltlich, himmlisch in einer alle Begriffe übersteigenden Weise betrachten, wo wir auch das einsehen, daß er wegen seiner unendlichen Erhabenheit[100] nicht begriffen werden kann. Das ist die gelehrte Unwissenheit, durch welche der heilige Paulus sich zu der Einsicht erhob, daß er Christus, von dem er eine Zeitlang nur ein Wissen hatte (quem aliquando solum scivit), dann nicht kenne (ignorare), wenn er sich höher hinauf zu ihm erhob. Wir Christgläubigen werden daher durch das gelehrte Nichtwissen zu dem Berge, der Christus ist, hinaufgeführt, den wir in unserm natürlichen Leiben und Leben (cum natura animalitatis nostrae) nicht berühren können. Wollen wir aber mit dem Auge der Vernunft ihn betrachten, so stoßen wir auf Finsterniß und wissen, innerhalb dieser Finsterniß sei der Berg, wo allein Alle, deren Stärke die Vernunft ist (omnibus intellectu vigentibus), wohnen dürfen. Besteigen wir diesen Berg mit festem Glauben, so werden wir den Augen der sinnlichen Weltkinder entrückt; wir hören innerlich (auditu interiori) die Stimmen, die Donner und schrecklichen Zeichen von Gottes Majestät und vernehmen unschwer den Herrn selbst, dem Alles gehorcht, indem wir stufenweise zu einigen unzerstörlichen Spuren seiner Fußtritte, wie zu göttlichen Kennzeichen gelangen, und so nicht die Stimme sterblicher Geschöpfe, sondern die Stimme Gottes selbst in seinen heiligen Organen, in Propheten und andern Heiligen vernehmen, und so ihn noch deutlicher durch eine Menge von Verstandesgründen erkennen. Allein auch von hier steigen die Gläubigen in glühendem Verlangen immer höher auf, und werden über alles Sinnliche hinweg zur einfachen, vernünftigen Anschauung erhoben (ad intellectualitatem simplicem rapiuntur), ein Fortschritt, wie aus dem Schlafe zum Wachen, vom Hören zum Sehen, wo sie sehen, was nicht geoffenbart werden kann, weil kein Gehör es zu fassen, keine Stimme es zu lehren vermag. Müßte das hier Geoffenbarte ausgesprochen werden, dann würde Unaussprechliches ausgesprochen und Unerhörtes gehört, wie das Unsichtbare dort gesehen wird. Jesus, der gepriesen sei in Ewigkeit, das Ziel der Vernunft als die Wahrheit, das Ziel der Sinne als das Leben, das Ziel alles Seins als das Sein, die Vollkommenheit jedes Geschöpfes als der Gottmensch, wird dort als das Höchste aller Worte in uns unbegreiflicher Weise gehört. Er ist nämlich Ausgang und Ziel jeden[101] Wortes: was in einem Worte Wahres ist, kommt von ihm. Jedes Wort hat den Zweck der Belehrung. Er ist also dieser letzte Zweck, weil er die Weisheit selbst ist. Die Ursache jedes vergänglich verhallenden Wortes ist das unvergängliche Wort – die Vernunft. Christus ist die Fleisch gewordene höchste Vernunft, weil »das Wort Fleisch geworden ist«. Jesus demnach das Ziel von Allem.

Solche Wahrheiten enthüllen sich dem, der im Glauben zu Christus aufsteigt.

Die göttliche Wirksamkeit dieses Glaubens läßt sich nicht beschreiben; sie eint den Glaubenden mit Jesus und ist somit über Alles erhaben, was nicht in der Einheit mit Jesus ist. Der Gläubige hat, wenn sein Glaube groß ist, in der Kraft Jesu, mit dem er vereint ist, Gewalt über die Natur und Bewegung; er gebietet sogar den bösen Geistern, wie das Leben der Heiligen beweist.

Der vollkommene christliche Glaube muß aber ganz lauter, sehr groß und so viel als nur möglich von Liebe belebt sein. Er duldet keine Beimischung, weil er der Glaube an die reinste, allvermögende Wahrheit ist. Oft genug haben wir es bisher ausgesprochen, daß das Kleinste mit dem Größten coincidirt. Dies gilt auch vom Glauben, der nach Sein und Macht in keinem Erdenpilger der größte sein kann, wenn der Letztere nicht zugleich, wie Jesus, der lebendige Inbegriff des Glaubens ist (qui non sit et comprehensor simul, qualis Jesus fuit.) Der in Wirklichkeit größte Glaube muß zu einem solchen Grade unzweifelhafter Gewißheit erhoben sein, daß er auch im kleinsten Maaße (minime) Glaube, und vielmehr volleste, zweifelloseste Gewißheit ist. Das ist der machtvolle Glaube, der in der Weise der größte und kleinste zugleich ist, daß er alle Gegenstände des Glaubens in Ihm, der die Wahrheit ist, umfaßt. Wenn auch der Glaube des Einen den Glaubensgrad des Andern nicht erreicht, weil volle Gleichheit unmöglich ist, so muß doch Jeder, so viel es an ihm liegt, in Wirklichkeit den größten Glauben haben (necesse est ut quisque quantum in se est, actu maxime credat). Dann ist der Glaube dessen, der im Vergleiche zu Andern nur einen Glauben wie ein Senfkorn erhalten hat, gleichwohl von so unermeßlicher Kraft, daß selbst die Berge ihm Gehorsam leisten, wenn er in der Kraft des Wortes Gottes, mit dem er, so viel an ihm liegt, auf das Innigste im Glauben vereinigt ist, Befehle ertheilt, da dem Worte Gottes nichts widerstehen kann. Wie groß ist also die Macht, die dem vernünftigen Geiste in der Kraft Christi zur Seite steht, wenn er sich an diesen vollständig anschließt, daß er durch ihn belebt wird, und, unbeschadet seiner Selbstständigkeit in ihm als in seinem Lebensgrunde ruhet! Da dies nur durch die Hinkehr der Vernunft zu Christus im größten Glauben möglich ist, so muß dieser[102] durch die einigende Liebe belebt sein; der Glaube kann ohne Liebe nicht der größte sein. Denn wenn jeder Lebende das Leben, jeder Denkende das Denken liebt, wie kann Jesus als das unsterbliche Leben und als die unendliche Wahrheit geglaubt werden, wenn er nicht auf das Höchste geliebt wird? Das Leben ist an sich der Liebe werth; ist also unser Glaube, Jesus sei das ewige Leben, sehr groß, so muß er nothwendig geliebt werden; denn der Glaube ist kein lebendiger, sondern ein todter, ja kein Glaube, ohne Liebe. Die Liebe ist das belebende Princip (forma) des Glaubens, das ihm das wahre Sein verleiht, ja sie ist das Zeichen des felsenfesten Glaubens, denn wenn wir Christo Alles hintansetzen, wenn wir Leib und Seele im Vergleich zu ihm für nichts achten, so ist dies der Beweis eines sehr großen Glaubens. Ein großer Glaube ist auch ohne die Hoffnung, einst Jesus selbst zu genießen, nicht möglich. Oder wer könnte einen festen Glauben haben, und dabei nicht auf die Verheißung Christi hoffen? Wer nicht glaubt, er werde das ewige von Christus den Glaubenden verheißene Leben erhalten, wie kann der an Christus glauben, und ihn für die Wahrheit halten? Wer auf die Verheißung nicht zweifellos hofft, wie wird der für Christus in den Tod gehen, wenn er nicht auf die Unsterblichkeit hofft? Wer dagegen glaubt, daß Christus die nicht verläßt, die auf ihn hoffen, sondern ihnen die ewige Seligkeit verleiht, der hält es für etwas Geringes, um einer solchen Vergeltung willen Alles für Christus zu leiden.

So groß ist die Kraft des Glaubens; sie macht den Menschen Christus ähnlich (christiformem); er verläßt die Welt, entzieht sich der Befleckung des Fleisches, wandelt in Furcht auf den Wegen Gottes, folgt mit Freuden den Fußstapfen Christi, nimmt das Kreuz mit Frohlocken auf sich, im Fleische wandelnd, ist er ganz Geist; die Welt ist ihm der Tod für Christi, der Tod, der ihn zu Christus führt, ist ihm Leben. Wie edel ist doch ein Geist, in dem Christus durch den Glauben wohnt! Welch eine wunderbare Gabe Gottes, daß wir uns auf unserer Pilgerschaft im gebrechlichen Leibe durch die Kraft des Glaubens zur macht über Alles, was Christus nicht ist, erheben können! Wer stufenmäßig, durch Ertödtung des Fleisches sich zur Einheit mit Christus erhebt, und in einer so tief gehenden Einigung, als es nur immer in diesem Leben möglich ist, in ihn aufgegangen ist (in ipsum absorbeatur), der erhebt sich über alles Sichtbare, ja über Alles in der Welt, und erlangt die complete Vollkommenheit der menschlichen Natur.

Das ist die Vollkommenheit der Natur, die wir durch Christus in Ertödtung des Fleisches und der Sünde, umgestaltet zu seinem Bilde erlangen können, nicht aber jene eingebildete Vollkommenheit durch Magie, die den Menschen zu einem gewissen höhern Wesen[103] durch die Thätigkeit der auf uns einwirkenden (höhern) Geister mittelst des Glaubens sich erheben läßt, so daß die Zauberer in der Kraft dieser Geister, mit denen sie sich durch den Glauben vereinigen, verschiedene undenkbare Dinge im Feuer, Wasser, in Kenntniß der Harmonien, in Verwandlungen, im Errathen verborgener Dinge etc. verrichten. Es ist klar, daß das Alles nur Trug und Täuschung ist, ohne Leben und Wahrheit. Die Zauberer sind durch Bündnisse und Verträge mit den bösen Geistern dergestalt gebunden, daß sie, was sie im Glauben festhalten, auch thatsächlich durch Huldigungen und Gebete beweisen, die sie statt Gott, dem sie allein gebühren, den bösen Geistern, als hätten diese die Macht, ihre Bitten zu erhören, mit größter Verehrung darbringen. Sie erlangen bisweilen durch den Glauben das flüchtige zeitliche Gut, durch ihre Vereinigung mit dem bösen Geiste, mit dem sie, getrennt von Christus, auch in dem Straforte werden ewig vereinigt bleiben müssen. Gepriesen sei Gott, der durch seinen Sohn uns der Finsterniß einer so großen Unwissenheit entrissen hat, daß wir nun wissen, Alles sei Irrthum und Betrug, was immer durch einen andern Mittler als Christus, der die Wahrheit ist, und in einem andern Glauben, als den an Jesus vollbracht wird. Denn es ist nur Ein Herr Jesus, der Macht hat über Alles, allen Segen und zuwendet und alle unsere Unvollkommenheit im Uebermaaße ergänzt.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 99-104.
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