Zweites Kapitel
Das Größte, concret und absolut zugleich, Schöpfer und Geschöpf

[76] Es ist hinlänglich gezeigt, daß das Universum nur in concret Vielem besteht, das in Wirklichkeit von der Art ist, daß Keines das schlechthin Größte erreicht.

Ich füge nun bei: wenn man sich das Größte concret in einer bestimmten Art (species) wirklich existirend denkt, so wäre es, entsprechend dem Charakter der gegebenen concreten Art, in Wirklichkeit Alles, was in der ganzen Möglichkeit jener Gattung oder Art liegt; denn das absolut Größte ist alles, was möglich ist, in absoluter Wirklichkeit. Dieses Größte in concreter Erscheinung einer Gattung oder Art ist zugleich in Wirklichkeit die höchstmögliche Vollkommenheit derselben, entsprechend dem gegebenen Concreten. Da es in dem Bereiche derselben kein Größeres gibt, so umfaßt sie unendlich die ganze Natur des gegebenen Concreten. Wie das absolut Kleinste mit dem absolut Größten coincidirt, so auch das concret Kleinste mit dem concret Größten. Ein ganz deutliches Beispiel hievon ist die größte Linie, die keinen Gegensatz zuläßt, jeder Figur gleich, und das adäquateste Maaß von allen ist, mit der der Punkt coincidirt, wie wir im ersten Buche gezeigt haben. Wäre daher das concret[76] Größte ein Individuum irgend einer Art, so müßte dieses die Vollkommenheit der ganzen Gattung oder Art sein, das Leben, das Princip, die Idee und Wahrheit in höchster Vollendung von Allem, was diese Art als Möglichkeit in sich begreift. Dieses concret Größte wäre über alle Natur der Concretheit hinaus deren Höhepunkt (terminus finalis) und würde ihre ganze Vollkommenheit in sich fassen. Jedem Gegebenen wäre es, über alle Proportionen erhaben, vollkommen gleich, nicht größer, nicht kleiner, als Jegliches; die Vollkommenheit von Allem würde es in ganzer Fülle in sich fassen. Hieraus erhellt, daß das concret Größte nicht als rein Concretes (pure contractum) gelten kann, nach dem kurz vorhin Gezeigten, wornach kein Concretes innerhalb der Grenze der Gattung oder Art die höchste Vollkommenheit erreichen kann, aber auch als concret nicht Gott, der absolut ist, sein kann. Es wäre somit nothwendig das concret Größte, das ist: Gott und Geschöpf, absolut und concret, in einer Concretheit, die nicht aus sich Bestand hätte, ruhete sie nicht in der absoluten Größe. Denn es gibt, wie im ersten Buche gezeigt ist, nur Ein Größtes, durch welches das Concrete – Größtes genannt werden kann. Wenn nun die größte Macht das Concrete so mit sich einet, daß es, unbeschadet der beiderseitigen Naturen, nicht noch mehr geeint sein könnte, und daher das so Geeinte mit Verhaltung der Natur der Concretheit die concrete und erschaffene Vollkommenheit einer bestimmten Art, in Folge der hypostatischen Einigung aber zugleich Gott und Alles ist, so würde diese wunderbare Einigung all unsern Verstand übersteigen. Denn denkt man sie als eine Vereinigung von Entgegengesetztem (quemadmodum diversa uniuntur), so wäre dies ein Irrthum; denn das absolut Größte ist kein Anderes oder Verschiedenes, da es Alles ist. Denkt man sie als Zwei, die vorher getrennt, jetzt verbunden (conjuncta) sind, – gefehlt! Denn in der Gottheit ist kein Vorher und Nachher, auch ist sie nicht Dieses mehr als Jenes. Das Concrete konnte auch nicht vor der Vereinigung Dieses oder Jenes sein, denn es ist eine in sich bestehende individuelle Persönlichkeit. Jene Vereinigung ist endlich auch nicht die Verbindung von Theilen zu einem Ganzen, da Gott kein Theil sein kann. Wer sollte daher diese wunderbare Vereinigung begreifen, die auch nicht wie die Verbindung der Form mit der Materie ist, da Gott als absolut sich mit der Materie nicht vermengen kann! Sie ist daher erhabener als alle denkbaren Vereinigungen. Das Concrete besteht hier, da es das Größte ist, nur in dem absolut Größten, ohne diesem einen Zuwachs zu geben, da es das absolut Größte ist, ohne in dessen Natur überzugehen, da es concret ist. Das Concrete ruhete (subsisteret) demnach in dem Absoluten in der Weise, daß, wenn wir es uns als Gott vorstellten, dies irrig wäre, da das Concrete seine[77] Natur nicht aufgibt; dächten wir als diese Natur (si ipsam esse imaginaremur), so irrten wir, da das absolut Größte, Gott, dieser Natur nicht bedarf. Nehmen wir es als aus Beiden zusammengesetzt, so täuschen wir uns, da eine Zusammensetzung aus Gott und Geschöpf, concretem und absolut Größten, unmöglich ist. Man muß sich daher jenes concret Größte so als Gott denken, daß es dabei zugleich Geschöpf ist, so als Geschöpf, daß es zugleich der Schöpfer ist, Schöpfer und Geschöpf ohne Vermischung und Zusammensetzung. Wer mag sich so weit hinauf erheben, daß er in der Einheit die Verschiedenheit (diversitatem) und in der Verschiedenheit die Einheit begreift! Diese Vereinigung übersteigt also alle unsere Begriffe.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 76-78.
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