Viertes Kapitel
Das concret Größte ist Jesus, der Gottmensch

[81] Nachdem wir nun durch diese Vernunftgründe in zweifellosem Glauben dahin gelangt sind, daß wir ohne Anstand das Gesagte als ausgemachte Wahrheit festhalten, so fahren wir weiter und sagen: die Fülle der Zeit ist vorüber und Jesus, der gepriesen sei in Ewigkeit, ist der Erstgeborne der ganzen Schöpfung. Theils aus dem, was er als Mensch in übermenschlicher, göttlicher Weise vollbracht hat, theils aus seinen Aussagen von sich selbst, der in Allem wahrhaftig erfunden worden, theils aus den mit Hingabe des eigenen Lebens bekräftigten Zeugnissen seiner vertrauten Freunde behaupten wir mit unerschütterlicher, durch unzählige Beweise[81] längst feststehender Gewißheit, Er sei der, den die ganze Schöpfung, als in der Zeit erscheinend von Anfang an erwartet, der sein Erscheinen in der Welt durch die Propheten vorhergesagt hat. Er kam, um Alles zu erfüllen. Allen gab er wider gesundes Leben, alle verborgenen Tiefen und Geheimnisse der Weisheit schloß er auf, wie Einer, der Macht hat über Alles. Sünden vergab er wie Gott, er erweckte Todte, verwandelte die Natur, gebot den bösen Geistern, dem Meere und den Winden, schritt auf dem Wasser dahin und gab ein Gesetz, das die Ergänzung aller Gesetze zu ihrer Vollkommenheit bildet. Nach dem Zeugnisse jenes ganz ausgezeichneten Verkünders der Wahrheit, des heiligen Paulus, der in einer Entzückung die Erleuchtung von Oben erhielt, haben wir in Jesus die Vollendung von Allem (perfectionem omnium), die Erlösung und Vergebung der Sünden. Er ist das Abbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborne der ganzen Schöpfung; denn in ihm ist Alles erschaffen, im Himmel und auf Erden, Sichtbares und Unsichtbares, Thronen, Herrschaften, Fürstenthümer und Gewalten. Alles ist durch ihn und in ihm erschaffen, er ist vor Allem und Alles besteht in ihm. Er ist das Haupt des Körpers der Kirche; denn er ist der Anfang selbst, der Erstling aus den Todten, so daß er in Allem den Primat einnimmt; denn dem Vater gefiel es, daß in ihm die ganze Fülle wohne und Alles durch ihn mit dem Vater versöhnt werde. Diese und viele andern Zeugnisse der Heiligen beständigen es, daß er Gott und Mensch ist; die Menschheit ist in ihm durch das Wort mit der Gottheit geeint, so daß er nicht in sich, sondern in dem Worte sein Bestehen hat, dieweil die Menschheit auf ihrer höchsten Stufe und in ihrer ganzen Fülle nicht anders, als in der göttlichen Person des Sohnes bestehen konnte.

Und nun über unsern Verstand hinaus, gleichsam in gelehrtem Nichtwisssen die Person zu verstehen, die den Menschen mit sich geeinigt hat, so wollen wir für unser Verständniß einen höhern Standpunkt einnehmen und auf den Satz zurückgehen, den wir früher besprochen haben, daß nämlich Gott durch Alles in Allem und Alles durch Alles in Gott ist. Da diese Sätze copulativ zu verstehen sind und Gott insofern in Allem ist, als Alles in Gott, und da das göttliche Sein selbst die höchste Gleichheit und Einfachheit ist, so ist Gott, sofern er in Allem ist, nicht graduell in Allem, als ob er sich stufen- und theilweise mittheilte. Das All kann aber ohne graduelle Unterschiede nicht sein. Es ist daher mit gradueller Verschiedenheit in Gott. Da nun Gott insofern in Allem ist, als Alles in ihm, so erhellt, daß Gott ohne Veränderung seines Wesens in der Gleichheit des Seins Alles ist in der Einheit mit der größten Menschheit Jesu. Denn der größte Mensch kann in ihm nicht anders als in der größten Weise (maxime)[82] sein. So sind denn in Jesus, der Gleichheit alles Seins, als in dem göttlichen Sohne, der die mittlere göttliche Person ist, der ewige Vater und der heilige Geist, und Alles ist in ihm als in dem Worte, jede Creatur ist in der höchsten und vollkommensten Menschheit, welche universell Alles, was erschaffen werden kann, (omnia creabilia) in sich faßt, so daß Jesus die ganze Fülle ist, die in ihm wohnt. Wir können uns dies einigermaaßen durch folgende Vergleichung veranschaulichen. Die Sinnenerkenntniß ist ein beschränktes (contracta) Erkennen, weil der Sinn nur Einzelnes erfaßt. Die Vernunfterkenntniß ist universell, weßhalb sie im Vergleich zur Sinnenerkenntniß absolut ist und frei von der Beschränktheit auf das Einzelne. Die Sinnenthätigkeit (sensatio) erscheint nur in verschiedenen Graden, wodurch, je nach den edleren und vollkommeneren Graden, verschiedene Arten von Thieren entstehen. Wiewohl nun die Sinnenthätigkeit sich nach dem oben Gezeigten nicht auf den schlechthin höchsten Grad erhebt, so tritt sie doch in jener Art, welche in der Gattung der thierischen Wesen die wirklich höchste ist, also in der menschlichen, als ein lebendiges Wesen auf, das insofern lebendes Wesen ist, daß es zugleich Geist ist (denn der Mensch ist als Geist Selbstbewußtsein – homo enim suus est intellectus), so daß hier die concrete Sinnlichkeit gewissermaaßen in der geistigen Natur hypostatisch ruht (suppositatur), indem die geistige Natur ein gewisses göttliches, abgesondertes, abstractes Sein ist, während die Sinnlichkeit ihrer Natur nach zeitlich und zerstörlich bleibt. Nach dieser obwohl entfernten Vergleichung müssen wir Jesus auffassen. Die Menschheit ruht in ihm hypostatisch in der Gottheit, weil sie anders nicht in ihrer ganzen Fülle die größte sein könnte. Da nämlich die Vernunft Jesu (intellectus Jesu) die vollkommenste und ganz und gar actuell ist, so kann sie nur in der göttlichen Vernunft, die allein Alles in Wirklichkeit ist, persönlich ruhen (suppositari). Die Vernunft ist nämlich in allen Menschen der Möglichkeit nach Alles, sie geht stufenweise von der Möglichkeit in die Wirklichkeit über. Da nun die größte Vernunft der Höhepunkt (terminus) der Macht der ganzen vernünftigen Natur ist, in vollständiger Activität, so kann sie dies nur sein, wenn sie insofern Vernunft ist, als sie zugleich Gott ist, der Alles in Allem ist. Die menschliche Natur sei das in einem Kreis beschriebene Polygon, der Kreis die göttliche Natur. Soll nun das Polygon das größtmögliche sein, so dürfte es nicht in bestimmten Winkeln für sich bestehen, sondern in der Kreisform, so, daß es keine besondere Gestalt seines Bestehens hätte, die von der ewigen kreisförmigen Gestalt losgelöst werden könnten. Die höchste Vollendung der menschlichen Natur zeigt sich in ihrem Substantiellen und Wesentlichen, also in der Vernunft, der alles Körperliche dienen muß. Der vollkommenste[83] Mensch braucht also nicht im Accidentiellen hervorzuragen, außer so weit sich dieses auf die Vernunft bezieht. Es ist nicht erforderlich, daß er ein Riese oder uralt oder von dieser oder jener Größe, Farbe, Gestalt etc. sei. Nur das wird erfordert, daß sein Körper die Extreme vermeide, um ein ganz taugliches Werkzeug der Vernunft zu sein, der er ohne Widersetzlichkeit oder Ermattung gehorchen und Folge leisten muß. Von unserm Jesus, in dem alle Schätze der Wissenschaft und Weisheit, auch so lange er als das Licht in der Finsterniß auf dieser Welt wandelte, verborgen waren, nimmt man zufolge der Ueberlieferung der heiligen Zeugen seines Lebens an, er habe einen dem Zwecke der eminentesten Vernünftigkeit ganz entsprechenden, vollkommenen Körper gehabt.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 81-84.
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