Fünftes Kapitel
Christus, empfangen von dem hl. Geiste, ist geboren aus Maria der Jungfrau

[84] Weiterhin ist zu erwägen, daß die vollkommenste, nach Oben geeinte Menschheit, da sie im Concreten der Höhepunkt der Vollkommenheit ist, die Natur der (menschlichen) Art nicht ganz ablegt. Nun wird aber Gleiches von Gleichem erzeugt, das Erzeugte geht nach dem Naturgesetze aus dem Erzeuger hervor. Hat aber der Grenz- und Höhepunkt keine Schranke (terminus autem cum careat termino), so fehlt auch die Begrenzung und Proportion. Daher kann der größte Mensch nicht auf dem natürlichen Wege erzeugt werden. Auf der andern Seite kann er aber auch nicht des Anfangs als Gattungswesen ganz entbehren, da er die höchste Vollkommenheit der Gattung ist. Einerseits also tritt er als Mensch nach dem Gesetze der menschlichen Natur in die Welt, andererseits ist, weil er das Höchste im Anfange (altissimum principiatum), ganz unmittelbar mit dem Anfang geeint ist (immediatissime principio unitur), dieser Anfang selbst das Schaffende oder Zeugende, der Vater. Der menschliche Anfang ist passiver Natur, er gibt die empfängliche Materie; daher die Abstammung von einer Mutter, ohne männlichen Samen. Alle Thätigkeit aber geht aus einem Geist und einer Liebe hervor, die das Active mit dem Passiven vereint, wie früher gezeigt wurde. Die größte Thätigkeit daher, über allem Gesetze der Natur, durch welche der Schöpfer mit dem Geschöpfe geeint wird, muß aus der größten einigenden Liebe, somit aus dem hl. Geiste, der die absolute Liebe ist, hervorgehen. Durch ihn allein konnte die Mutter den Sohn Gottes, des Vaters ohne Hülfe einer wirkenden Kraft aus dem Bereiche der Gattung empfangen; so daß Gott der Vater, gleichwie er Alles durch seinen Geist gestaltet hat (formavit), was nicht aus schon Gegebenem durch[84] ihn in's Dasein hervorgetreten ist, so in noch höherem Grade mittelst eben dieses heiligen Geistes wirkte, als er seine vollkommenste Thätigkeit entfaltete. Eine Vergleichung möge unserer Unwissenheit zu Hülfe kommen. Wenn ein ausgezeichneter Lehrer sein geistiges Wort, seinen Gedanken den Schülern mittheilen will, auf daß sie durch Darlegung der Wahrheit geistige Nahrung erlangen, so sorgt er dafür, daß der Gedanke seines Geistes zu einem Laute werde (vocem induat), weil er anderes nicht mittheilbar ist. Dies ist aber anders nicht ausführbar, als durch den natürlichen Hauch (spiritus) des Lehrers, der durch Benützung der Luft einen Laut bildet, welcher seinem geistigen Worte (Gedanken) entspricht. Mit diesem Laute vereinigt er dieses Wort, so daß der Laut in dem Worte sein Bestehen hat, und die Zuhörer mittelst des Lautes das Wort erfassen. Diese obwohl ganz entfernte Aehnlichkeit mag uns ein wenig in unserer Betrachtung behülflich sein. Indem der ewige Vater voll unendlicher Güte uns die Schätze seiner Herrlichkeit zu aller Fülle der Wissenschaft und Weisheit eröffnen wollte, hüllte er das ewige Wort, seinen Sohn, der die Fülle von Allem ist, aus Mittleid mit unserer Schwachheit, weil wir es anders als in sinnlicher und uns ähnlicher Form nicht erfassen konnten, um dasselbe nach dem Maaße unserer Empfänglichkeit zu offenbaren, in die menschliche Natur, durch den hl. Geist, der gleichen Wesen mit ihm ist. Und wie der Hauch aus der an sich gezogenen Luft die Stimme, so hat der hl. Geist aus der reinen Fruchtbarkeit des jungfräulichen Blutes den Leib Jesu gebildet (contexuit), auf daß der Mensch das Wort Gottes des Vaters wäre, und hat diesen Leib innerlich so sehr mit sich geeinet, daß er das Centrum der Substanz der menschlichen Natur wurde. Alles dies ist nicht in zeitlicher Reihenfolge, wie bei der menschlichen Empfängniß, sondern in einer momentanen überzeitlichen Wirksamkeit, durch den der unendlichen Allmacht conformen Willen vollzogen worden.

Niemand wird zweifeln, daß die tugendreiche Mutter, welche die Materie (für die Menschwerdung des ewigen Wortes) darbot, alle Jungfrauen durch die höchste Tugend und Vollkommenheit übertroffen habe und unter allen fruchtbaren Weibern die gesegnetste gewesen. Sie, die zu einer so ausgezeichneten, ja einzigen jungfräulichen Geburt vorherbestimmt war, mußte nothwendig von Allem frei sein, was der Reinheit oder lebenskräftigen Einheit einer so ausgezeichneten Geburt im Wege stehen konnte. Wäre die Auserwählte nicht Jungfrau gewesen, wie hätte sie sich zu jungfräulichem Gebähren ohne Zuthun eines Mannes geeignet? War sie nicht ganz heilig und reich gesegnet von Gott, wie hätte sie das heilige Gefäß (sacrarium) des[85] hl. Geistes, in welchem dieser für den Sohn Gottes den Leib bildete, werden können? Blieb sie nicht nach der Geburt Jungfrau, so hätte sie nicht für jene ganz einzige Geburt den Mittelpunkt der mütterlichen Fruchtbarkeit in deren höchsten Vollkommenheit verwendet, sondern ihre Thätigkeit wäre getheilt und geschwächt gewesen, wie es sich für einen solchen, einzigen und höchsten Sohn nicht geziemte. Hat also die heiligste Jungfrau sich ganz Gott hingegeben, dem sie in der Wirksamkeit des hl. Geistes auch die ganze Natur der Fruchtbarkeit mitgetheilt hat, so ist in ihr die unbefleckte Jungfräulichkeit vor, bei und nach der Geburt, ganz über das Gesetz des gewöhnlichen Gebährens hinaus unversehrt geblieben. Somit ist der Gottmensch Jesus Christus aus dem ewigen Vater und einer zeitlichen Mutter, der glorreichen Jungfrau Maria, geboren: aus dem größten Vater von absoluter Fülle, aus einer Mutter in der Fülle jungfräulicher, reichgesegneter Fruchtbarkeit, – in der Fülle der Zeit. Der Mensch konnte nämlich aus der jungfräulichen Mutter nur zeitlich, aus Gott dem Vater nur ewig hervorgehen; aber die zeitliche Geburt erforderte hinsichtlich der Zeit die Fülle der Vollendung, wie in der Mutter die Fülle der Fruchtbarkeit. Als daher die Fülle der Zeit kam, wurde er in der geeignetsten Zeit und Raum, der jedoch allen Geschöpfen ganz verborgen blieb, geboren. Denn die höchste Fülle verträgt sich nicht mit den sonstigen Ereignissen des Tages. Daher kein Zeichen, an dem irgend welcher Verstand jene Fülle der Zeit hätte wahrnehmen können, obwohl durch eine ganz geheimnißvolle prophetische Eingebung einige dunkle Andeutungen, verhüllt in menschliche Bilder, überliefert waren, an denen die Verständigen die Menschwerdung des Worts in der Fülle der Zeit hätte vorhersehen können. Doch genau den Ort, die Zeit und Art und Weise hat nur der ewige Vater gewußt, der es anordnete, daß, während Alles in der Stille der Mitternacht ruhte, im Verlaufe der Nacht der Sohn aus der Himmelsburg in den Leib der Jungfrau hinabstieg und zur festgesetzten geeigneten Zeit in Knechtsgestalt sich der Welt offenbarte.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 84-86.
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