Sechstes Kapitel
Das Mysterium des Todes Jesu Christi

[86] Ich muß mir eine kurze Digression erlauben, um das Mysterium des Kreuzes deutlicher darzustellen.

Der Mensch besteht aus Sinn und Vernunft, zwischen welchen sich der Verstand als Verbindungslied befindet. Der Ordnung nach ist der Sinn dem Verstande, dieser der Vernunft untergeordnet. Die Vernunft[86] ist nicht zeitlich und weltlich, sondern hievon frei; der Sinn ist weltlich (de mundo), der Zeit und Bewegung unterworfen. Der Verstand ist der Horizont der Vernunft, das Auge des Sinnes; in ihm coincidirt, was unter und über der Zeit ist. Der Sinn ist unfähig für das Ueberzeitliche und Geistige. Das Thier versteht nicht, was Gott ist, da Gott ein Geist, ja mehr als ein Geist ist. Daher bewegt sich die Sinnenerkenntniß in einer Finsterniß der Unkenntniß der ewigen Dinge; ihre Bewegung geht freilich nach den fleischlichen Gelüsten vermöge der Begierlichkeit, während sie vermöge der Zornmüthigkeit nicht im Stande ist, jene zurückzudrängen. Der Verstand, der sein Uebergewicht durch die Theilnahme an der vernünftigen Natur gewinnt, bewahrt in sich einige Gesetze, durch die er die leidenschaftlichen Begierden regiert, leitet und auf das rechte Maaß zurückführt, auf daß der Mensch nicht das Sinnliche sich zum Ziele setze und so der Sehnsucht nach dem Geistigen und Vernünftigen verlustig gehe. Ein Hauptgesetz des Verstandes ist, nichts dem Andern zu thun, was man selbst nicht wünscht, das Ewige dem Zeitlichen, das Lautere und Heilige dem Vergänglichen und Unlautern vorzuziehen. Behülflich sind hiezu auch jene Gesetze, die als Erzeugniß des Verstandes von heiligen Gesetzgebern nach Verschiedenheit von Ort zu Zeit als Heilmittel für den Verstand der Sünder gegeben wurden. Allein die Vernunft erkennt auf ihrem höhern Standpunkte, daß, wenn auch der Sinn sich in allen Stücken dem Verstande unterwirft und den ihm angebornen Affecten nicht huldigt, der Mensch gleichwohl aus sich das Ziel seines vernünftigen und ewigen Sehnens nicht erreichen kann. Denn da der Mensch aus dem Samen Adams in fleischlicher Lust gezeugt ist, so daß das Thierische durch die Fortpflanzung über das Geistige das Uebergewicht hat, so ist die menschliche Natur in ihrer Wurzel (in radice originis) in das fleischliche Begehren eingetaucht (carnalibus deliciis immersa), in welchem jeder Mensch durch den Vater gezeugt ist, und er bleibt daher gänzlich unfähig, über das Zeitliche hinweg das Geistige zu ergreifen. Wenn nun das Gewicht der fleischlichen Gelüste Verstand und Vernunft abwärts zieht, daß beide diesen Gelüsten zustimmen, ohne ihnen Widerstand zu leisten, so ist klar, daß der solchergestalt abwärts gekehrte Mensch, von Gott abgewandt, des Genusses des höchsten Gutes, das für die Vernunft im Himmel und ewig ist, vollständig beraubt ist. Herrscht aber der Verstand über den Sinn, so ist noch weiter erforderlich, daß auch die Vernunft über den Verstand herrsche, damit der Mensch über den Verstand hinaus in lebendigem Glauben (fide formata) an den Mittler sich anschließe, und so durch Gott zur Glorie erhoben werden kann. Kein Mensch war je im Stande, erhoben über sich selbst und seine Natur, die von Anfang an den Sünden der fleischlichen Begierden unterworfen[87] ist, über die Wurzel seines Lebens zum Ewigen und Himmlischen sich zu erheben. Nur der vom Himmel herabgestiegen ist, Jesus Christus, ist Derjenige, der auch in eigener Kraft wieder hinaufgestiegen; in ihm ist die menschliche Natur nicht aus dem Willen des Fleisches, sondern aus Gott geboren und fand daher kein Hinderniß, mit Macht zu Gott dem Vater zurückzukehren. In Christus ist daher die menschliche Natur durch jene Einigung zur höchsten Macht erhoben und dem Gewichte der zeitlichen und beschwerenden Begierde entrissen. Christus der Herr wollte nun alle Sünden der menschlichen Natur, die uns zum Irdischen herabziehen, an seinem menschlichen Leibe nicht um seinetwillen (da er keine Sünde begangen), sondern um unsertwillen gänzlich ertödten und durch das Ertödten wegschaffen, auf daß alle Menschen von gleicher Menschheit mit ihm die vollständige Reinigung von ihrer Sünden in ihm erlangten. Der freiwillige und so unverschuldete, so schmähliche und grausame Kreuzestod des Menschen Christus war für alle fleischlichen Begierden der menschlichen Natur deren Tilgung, Genugthuung und Reinigung. Was nur immer nach Menschenweise gegen die Liebe des Nächsten geschehen kann, das ist in der Fülle der Liebe von Christus, indem er sogar für seine Feinde sich dem Tode hingab, wirklich vollbracht worden. Die Menschheit in Christo Jesu hat demnach das Mangelhafte aller Menschen ergänzt (omnes omnium hominum defectus adimplevit). Denn da diese Menschheit die größte ist, so umfaßt sie die ganze Potenz der Gattung und ist gegen jeden Menschen die Gleichheit des Seins, so daß Christus mit einem jeden Menschen weit inniger als der Bruder oder vertrauteste Freund verbunden ist. Das bewirkt das Vollmaaß (maximitas) der menschlichen Natur, daß Christus in jedem Menschen, der sich in lebendigem Glauben an ihn anschließt, eben dieser Mensch ist, in vollkommenster Einigung, unbeschadet der Selbständigkeit des Einzelnen (cujuslibet numero salvo). So bewahrheitet sich, was er selbst sagt; »Was ihr einem der Geistigen aus den Meinigen thuet, das habt ihr mir gethan«, woraus umgekehrt folgt, daß, was Jesus Christus durch sein Leiden verdient hat, Die verdient haben, die Eines mit ihm sind, wobei jedoch verschiedene Grade des Verdienstes stattfinden, nach dem Grade der Einigung eines Jeden mit ihm in einem von Liebe belebten Glauben (per fidem caritate formatam). In ihm sind demnach die Gläubigen beschnitten, in ihm getauft, gestorben, durch die Auferstehung wiederbelebt, in ihm mit Gott geeint und verherrlicht (glorificati). Unsere Rechtfertigung ist daher nicht aus uns, sondern aus Christus. Da er die ganze Fülle ist, so erlangen wir in ihm Alles, wenn wir ihn haben. Und da wir ihn in diesem Leben[88] durch lebendigen Glauben besitzen, so können wir nicht anders als durch den Glauben gerechtfertigt werden, wie ich weiter unten ausführlicher zeigen werde.

Das ist das unaussprechliche Geheimniß des Kreuzes und unserer Erlösung. Durch dasselbe zeigt uns Christus (weit besser las durch das oben Berührte), daß wir Wahrheit, Gerechtigkeit, alle göttliche Tugenden dem zeitlichen Leben als das Ewige dem Hinfälligen vorziehen sollen, so wie das der vollkommene Mensch sich durch höchste Standhaftigkeit und Starkmuth, Liebe und Humanität auszeichnen soll, wie der Kreuzestod Christi zeigt, daß in ihm, dem größten Menschen, diese und alle andern Tugenden im größten Maaße vorhanden waren. Je mehr daher der Mensch in den unsterblichen Tugenden fortschreitet, desto ähnlicher wird er Christus. Das Kleinste coincidirt dann mit dem Größten: die größte Erniedrigung mit der größten Erhöhung, der schmähliche Tod des Frommen mit dem Leben in der Glorie etc., wie uns das Alles Christi Leben, Leiden und Kreuzestod zeigen.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 86-89.
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